Funkelnde Pfützen (Auszug)

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„A dreamer is one who can only find his way by moonlight, and his punishment is that he can see the dawn before the rest of the world.“ Oscar Wilde

Ben

Ben wendet Burgerscheiben. Er wendet sie. Von links nach rechts. Manchmal in umgekehrter Richtung. Ben ist 21. Er wendet Burger und sitzt in keinem Studiensaal, vollgestopft mit aufstrebenden Jungmanagern und Karohemdträgern, die mit zusammengekniffenen Augen einem Vortrag über Makroökonomie lauschen. Jeden Morgen, noch lange bevor die Sonne sich über die hoch aufschießenden Stahlriesen im Geschäftszentrum der großen Stadt beugt und die grauen Bürgersteige mit ihren zerfransten Lichtstrahlen besprenkelt, lange noch bevor die City erwacht, das Spiel von vorn beginnt und die Karten neu gemischt werden, steht Ben dort, in der Großküche eines amerikanischen Fastfood-Restaurants und wendet Burgerscheiben. Seine Eltern wohnen im Süden, die Landschaft ist hügelig, sein Geburtsort ein nicht erwähnenswertes Kaff, die Familie ist angesehen, die Kühen machen „Muh“, die Luft riecht nach Stillstand und Resignation und Ben will niemals - niemals niemals niemals! - dorthin zurück. Deshalb lügt Ben. Er lügt, einmal pro Woche, immer sonntags, die Stimme seiner Mutter am anderen Ende der Leitung kommt ihm hohl vor und gänzlich blechern, und er erzählt von aufregenden Vorlesungen, sympathischen Studienkollegen und „einer Menge Arbeit“ die so ein Studentenleben nun einmal mit sich bringt. Er lügt, und jedes Mal bricht sein Herz dabei in viele tausend kleine Stücke, überall nur Splitter und auseinanderstaubende Funken, er liebt seine Mutter, er will nicht lügen, es tut ihm weh, so unendlich weh, aber er kann nicht anders. Ben sitzt in keinem Hörsaal. Hat nie in einem Hörsaal gesessen. Nie eine Hausarbeit über „ Das Asiatische Mediensystem - Gegenwart und Perspektiven“ verfasst und weiß weder über Finanzbilanzierung noch über Steuerrecht Bescheid. Er wendet Burgerscheiben. Fünf Mal die Woche. Seine Uniform besteht aus einer mattgrauen Hose und einem roten Poloshirt, auf Brusthöhe ist sein Nachname in kursiven Großbuchstaben in den groben Stoff eingearbeitet. Niemals wird er einen dieser Studiensäle betreten. Niemals wird er zurückgehen, dahin wo der kalte Wind durch die engen Gassen pfeift und klotzige Traktoren sich bedrohlich röchelnd dem nächsten Acker entgegenschieben. Niemals wird er seinen Eltern die Wahrheit erzählen können, seinem Vater mit dem Managerposten und diesen in kaltem, enttäuschten Grau dahinschimmernden Augen. Die Zeit spielt gegen Ben, er spürt, wie sich die Schlinge um seinen Hals herum festzurrt, er weiß nicht, wo er hin soll, wo der Ausweg ist, wo seine Bestimmung liegt, was er anfangen soll mit dieser Welt und ihm darauf. Er muss es herausfinden. Er wird es herausfinden. Es gibt Lösungen, überall und immerfort, da ist Hoffnung, auch wenn sie unscharf ist und er noch nicht nach ihr greifen kann. „Der Tag wird kommen“, das steht auf dem gelben rechteckigen Post-It-Zettel, den er vor einigen Wochen auf die gläserne Oberfläche seines Badezimmerspiegels geheftet hat. Bis dahin wird er Burgerscheiben wenden.

Ben ist 21, seine Armbanduhr zeigt „06:45“ und durch den Notausgang des Gebäudes betritt er den Hinterhof des Burgerladens. Sein Feurzeug macht „Klick“, das Nikotin rauscht durch seinen Körper, er atmet tief ein, der Morgen ist mild und auf jene wohltuend trügerische Art verheißungsvoll, und für einen kurzen Moment spürt er, wie sich eine warme, alles umfassende Stille in ihm ausbreitet. Der ferne Horizont gebiert einen weiteren Tag, überall in der Stadt, hinter unzähligen Fenstern, zugezogenen Vorhängen und heruntergelassenen Jalousien klingeln aufgeregte Wecker, werden schwere Bettdecken zur Seite geschoben und Tassen aus hellem Porzellan mit dampfend heißem Kaffe gefüllt. Die Stadt bricht auf, Träume schreien danach, in Realitäten verwandelt zu werden, heute ist der Tag. Frühlingsanfang. Sonnenstrahlen. Automotoren. Schuhsohlen. Bewerbungsgespräche. Vertragsabschlüsse. U-Bahn-Flirts. Weiterkommen. Hoffnung, Hoffnung, Hoffnung. Heute.

Die Zigarette verfehlt den anvisierten Mülleimer nur um wenige Zentimeter, „06:52“, in acht Minuten muss er wieder in der Küche stehen. Er ist nervös, trippelt von einem auf den anderen Fuß, Mike ist verdammt spät dran heute, dabei ist Mike sonst immer pünktlich. Noch sieben Minuten. Ein Krankenwagen heult auf der Hauptstrasse vorbei, die Vögel zwitschern, zum ersten Mal seit langer Zeit. Ben überlegt, hält einen kurzen Moment inne, setzt sich in Bewegung, verlässt den Hinterhof, riskiert einen Blick in die Seitengasse, wo die Mülleimer überquellen und die Tageszeitungen der Vorwoche von der milden Brise umher und übereinander geweht werden. Mike ist sonst immer pünktlich. Immer. „06:58“, er muss wieder rein, er ärgert sich, er schüttelt mit dem Kopf. Er wird Mike anrufen, nach der Arbeit. Der Tag beginnt. Ben ist kein Student. Ben hat einen Traum. Alle haben einen Traum. Alle setzen sich in Bewegung.

Heute.
 
K

KaGeb

Gast
Hallo ZachariasZöller,

guter Einstandstext, den ich gern aktiviert habe.
Herzlich willkommen in der LeLu und "Danke" für deinen Text.

Ich (persönlich) finde das Wort "niemals" zu häufig verwendet. Mit "niemals" ergreift m.M.n. der Autor zu viel Partei und lenkt damit seinen Text. DAS sollte aber IMHO der Leser selbst entscheiden.

LG KaGeb
 



 
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