Fussballer und Bordsteinschwalben

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Jens Rohrer

Mitglied
Fußballer und Bordsteinschwalben

Die Turbinen der 737 liefen langsam an, während ich den Kopf wild hin und her drehte, um nicht doch vielleicht einen Fernseher zu erspähen, der das WM-Finale zeigte. Pustekuchen. Ich flog schließlich mit Aeroflot. Und Russland hatte das Endspiel nun mal nicht erreicht. Nun, mir blieb nichts anderes übrig, als mir mein Buch zu schnappen und zu hoffen, irgend jemand würde zumindest die Zwischenstände durchgeben. Der Jet hatte inzwischen die Startbahn erreicht, und die Turbinen brüllten nun, als hätten sie gleichfalls das Endspiel verpasst. Hatten sie ja auch. Die Baumreihen flogen immer schneller an mir vorbei, und ich erinnerte mich an ein Gespräch, das ich am vorigen Abend in der Kneipe geführt hatte.
„Du Depp hast also einen Flieger gebucht, der während des gesamten Finales in der Luft ist.“, warf mir Bernhard vor.
„Das konnte ich doch vor zwei Monaten noch nicht wissen.“, versuchte ich mich zu rechtfertigen.
„Mannomann, Deutschland – Brasilien!“, fügte er hinzu. Seine Augen leuchteten kurz auf.
„Ja, ist schon scheiße, aber was soll ich denn machen?“, ich seufzte.
„Abstürzen sollst.“ Er war fertig mit mir.
„Please sit upright.“, eine Stewardess war in meine Retrospektive geplatzt, und ich überarbeitete meine fast liegende Sitzposition. Nebenbei fragte ich mich, welchen Unterschied es wohl machte, wie man dasaß, wenn der Flieger nun tatsächlich am Ende der Rollbahn zerschellen würde. Vermutlich hatte es Gott lieber, wenn man bei seinem Tod etwas Würde an den Tag legte. Mir kam kurz „Im Stehen sterben“, ein alter Reinhard Mey-Song, in den Sinn. „Wie ein Baum, den man fällt.“, rezitierte ich weiter. Stimmte schon, irgendwie. Jedoch glaubte ich kaum, dass man mir erlauben würde, während des Starts zu stehen, egal, ob ich nun Reinhard Mey oder John Denver sang. Wie auch immer, drei Stunden später hatte ich ein nicht allzu schlechtes Menü, mehrere Gläser Bier und ein gutes Stück meines Buches hinter mir und trottete in der Schlange an der Passkontrolle dahin. Endlich hatte ich auch einen Fernseher erspäht. Doch dieser zeigte jubelnde Brasilianer. „2:0.“, informierte mich mein Vordermann. „Da haben wir ja nichts verpasst.“, fügte er hinzu. Da war ich anderer Meinung. Vermutlich war ich schuld daran, und alle anderen mussten meinetwegen leiden. Es war wie damals in der Schule, als ich mehrmals wegen Schwätzens ermahnt worden war, und schließlich die ganze Klasse eine Strafarbeit schreiben musste. Wie konnte ich nur meine Urlaubsplanung über den Endsieg unserer Jungs stellen.
Eine halbe Stunde später hatte ich schließlich die Passkontrolle passiert und setzte mich in einen Shuttlebus Richtung Innenstadt. Während die Plattenbauten der Trabantenstädte an mir vorbeizogen, fiel mir wieder ein, was ein Freund einmal über Brasilien gesagt hatte: „Brasilien ist ein sehr gesundes Land, da gibt es nur Fußballer und Nutten.“ Kein Wunder, dass wir verloren hatten. Ich schmunzelte und blickte weiter aus dem Fenster. Als der Bus anhielt, dämmerte es bereits. Und ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. Ich konsultierte den Stadtplan meines Reiseführers, doch dieser beschränkte sich darauf, die Straßennamen in dem mir bekannten Alphabet zu nennen. Das seltsame Gekrakel auf den Straßenschildern hatte damit wenig zu tun. Nun, ich beschloss die Englischkenntnisse der Russen zu testen. Der Mann war sehr freundlich. Wirklich. Er beschrieb mir drei Minuten lang den Weg in aller Ausführlichkeit. Zumindest glaubte ich das. Denn er wollte mir scheinbar russisch in einem Crash-Kurs vermitteln. Ebenso schlau wie zuvor beschloss ich, die Richtung einzuschlagen, in die der Mann am häufigsten gefuchtelt hatte. Als irgendeine Glocke 22 Uhr schlug, hatte ich immerhin schon das Ufer der Moskwa erreicht. Dies erleichterte vieles, denn wenige Meter flussabwärts konnte ich die beleuchtete Kremlmauer erkennen. Während ich den Strom entlang schritt, beschloss mein Gehirn mir einen fatalen Streich zu spielen. Langsam aber sicher nistete sich „Wind of Change“ von den Scorpions in meinem Ohr ein. „I followed the moskwa, down to Gorky Park, listening to the wind of change...“ Als ich um eine Ecke bog und die hell erleuchtete Basilius-Kathedrale sah, hatte sich der Song schon behaglich eingerichtet. Und sollte die nächsten Tage mein ständiger Begleiter sein. Ich umkurvte die Kirche, die aussah, als wäre sie von einem Zuckerbäcker erbaut worden, und setzte meine ersten Schritte auf das grobe Kopfsteinpflaster des Platzes. Wenn man hier eine Cessna landete, würde man sicherlich gehörig durchgeschüttelt. Nach einigen Metern blieb ich dann stehen, entzündete mir eine Zigarette und ließ meinen Blick ein wenig schweifen. Der Platz war riesig, die Menschen am anderen Ende nahm man bestenfalls als einen Haufen bunt gekleideter Ameisen wahr. Mich langsam um die eigene Achse drehend widmete ich mich der nun wesentlich erfreulicheren Architektur. Wiederum die Kathedrale mit ihren bunt-verspielten Kuppeln, die rote Backsteinmauer des Kreml mit ihren Türmen, auf denen riesige rote Sterne thronten, das Lenin-Mausoleum und die vielen Soldaten, die den Komplex bewachten. Die Uniformierten mit ihren Gewehren betrachtend reifte in mir eine interessante Frage. Würden diese auch ruhig stehen bleiben, wenn man vor ihnen herum hopste und Grimassen schnitt wie die Wachen, die vor dem Buckingham Palace postiert waren? Letztendlich kam ich zu dem Schluss, dass es Erfahrungen gibt, die man nicht zwingend selbst sammeln muss und schlenderte stattdessen auf das andere Ende des Platzes zu. Das Tor, das ich dort passierte, sah indess wieder aus, als hätte die Hexe aus Hänsel und Gretel ihr Lebkuchenhaus neu aufgebaut, war aber zuvor größenwahnsinnig geworden. Dahinter erstreckte sich ein weiterer Platz. Es gab viel Raum in dieser Stadt. Einige Meter entfernt konnte ich einen kleinen Kanal erkennen, der von zahlreichen Biergärten gesäumt wurde. Ich überquerte den Platz mit schnellen Schritten, demonstrierte meine Russischkenntnisse an einem Bettler (Njet) und ergatterte einen der wenigen freien Sitzplätze am Kanalufer. Ich trank ein paar Bier und stieg in ein Taxi, um in mein Hotel zu gelangen. Eine Zigarettenlänge später glitten auch schon die Glastüren auseinander und ich machte eine kurze Bestandsaufnahme der Lobby. Zahlreiche Sitzgruppen, bestehend aus Ledersofas und -sesseln, die klobig-eckige Rezeption, die vielen Leuchtschilder, die auf die hoteleigenen Restaurants, Bars und Diskotheken hinwiesen. Ich beschloss, noch einen Absacker zu mir zu nehmen und wählte die Bar, die sich in Richtung der Aufzüge befand. Noch vor deren Eingang waren einige Tische gruppiert, wie man sie von Straßencafe´s kennt. Das Klientel war indess ein völlig anderes. Nutten vermutlich. Ich passierte die spärlich bekleideten Mädels und betrat die Bar. Zu meiner Linken befand sich der Tresen, hinter dem das übliche Flaschensortiment, sowie der obligatorische Barkeeper aufgestellt waren. Weiter vorne befand sich ein Bereich mit rot gepolsterten Sitzecken, die ein wenig an ein Bordell erinnerten. Zu meiner Rechten befanden sich einige Stehtische mit Barhockern und den einzigen drei Gästen. Ich setzte mich an den verwaisten Tresen und orderte ein Bier. Eine Zigarette anzündend betrachtete ich die Neuankömmlinge, die soeben den Raum betraten. Vorneweg ein Herr mittleren Alters in einem stilvollen grauen Anzug, mit breiten Schultern und einem unsympathischen Gesicht. Die hervorstehenden, knochigen Brauen und sein Dreitagebart verliehen ihm das Aussehen eines Neandertalers. Vermutlich war er der Arbeitgeber der Frauen im Vorraum, sowie der beiden anderen Anzugträger, die in respektvollem Abstand folgten. Der Höhlenmensch setzte sich unweit von mir an den Tresen, nickte mir kurz zu und sagte etwas zum Barkeeper, der ihm ein Glas Sekt kredenzte. Ich wandte mich wieder der Eingangstür zu, durch die gerade eine der Professionellen trat. Mich im Blick. Schade nur für sie, dass ich nichts von Geschlechtsverkehr mit Prostituierten hielt. Davon abgesehen hielt ich sie nur für mäßig attraktiv. Moderat ausgedrückt. Die dürren Beine steckten in weißen Pumps, ein rosa Minirock verdeckte ihre kaum vorhandene Taille, um das nichtssagende Gesicht, das viel zu übertrieben geschminkt war fielen ihre blonden Haare, die mich wahlweise an die Rockband Van Halen oder einen Pudel erinnerten. Und dann erst diese Ohrringe. Oh Gott.
„Hello Mister, do you want company?“
„No, thanks.“
Während ich mich wieder meinen Bier zuwandte, schloss sie sich wieder ihrem Grüppchen an. Plastisches Anschauungsmaterial aus der Welt der Serengeti. Während der männliche Löwe praktisch nichts tut, gehen die Weibchen auf die Jagd. Ich war vermutlich das Gnu, das es zu erlegen galt. Ich fühlte mich wie Heinz Sielmann als Soziologe. Grinsend nahm ich einen weiteren Schluck von meinem Bier. Jetzt hatte ich auch einen Namen für meinen Nebenmann parat. Insgeheim nannte ich ihn jetzt „Digit“. Durch den Rauch meiner Zigarette hindurch sah er wirklich aus wie ein Gorilla im Nebel. Ich spielte gerade mit dem Gedanken, mein Leben aufs Spiel zu setzen und Digit von meiner Beobachtung zu erzählen, als wieder ein Mädchen den Raum betrat. Wohl eine taktische Maßnahme, denn nachdem die Blonde abgeblitzt war, schickte man nun eine Schwarzhaarige. Nachdem ich allerdings einen genaueren Blick auf sie geworfen hatte, sagte ich mir, dass sie keinesfalls zu Digit´s Rudel gehören konnte. Sie trug eine Jeans und ein schwarzes T-Shirt, war unaufdringlich geschminkt und hatte ein hübsches, fast schönes Gesicht. Die hohen Wangenknochen und die großen, aber etwas schmalen Augen verliehen ihr einen leichten asiatischen Touch. Ihre selbstsichere Art sich zu bewegen veranlasste mich zu der Annahme, sie sei ein weiterer Hotelgast, der noch einen späten Drink zu sich nehmen wollte. Insgeheim beschloss ich, sie später vielleicht sogar anzusprechen. Natürlich setzte sie sich neben mich. Also doch. „Aber warum eigentlich nicht?“, dachte ich mir.
„Hello Mister.“
„Hi.“
„Do you want company? Good sex, good massage.“, behauptete sie.
„How much?“, was hatte ich gerade gefragt?
„Fifty Dollars.“
Jetzt postierten sich Engel und Teufel auf meinen Schultern.
„Du willst jetzt doch nicht wirklich einen auf Sextourist machen?“
„Aber sie sieht doch nett aus, außerdem sind wir hier nicht in Thailand oder so, sondern in Europa.“
„Osteuropa.“
„Ach halt die Klappe. So schlimm ist es nun auch wieder nicht.“
Ich ignorierte schließlich beide und sagte:
„Okay. What´s your name?“
„Tatjana.“
„I´m Jens. Would you like something to drink?“
„Gin Tonic.“
Ich bestellte zwei und ließ mich von ihr zu einer der Sitzecken führen. Ich hatte das schon bei einem anderen Herren beobachtet. Da dies eine Hotelbar war, musste man den Anschein eines kurzen Kennenlern-Prozesses wecken. Allerdings fiel mir kein Thema für eine Konversation ein, das nicht ausgesprochen banal war. Also fragte ich sie, warum sie denn als Prostituierte arbeitete. Sie erzählte, sie sei Studentin, und dies sei eine der wenigen Möglichkeiten, das Studium zu finanzieren. In den meisten Jobs kam man auf kaum mehr als hundert Dollar im Monat. Das reiche nur knapp zum Leben. „But,“ sagte sie achselzuckend, „Life is like zebra, sometimes black, sometimes white.“ Ich nickte so verständnisvoll wie möglich. Schließlich hatte ich keinen blassen Schimmer von der Situation der Menschen hier, und eigentlich war es mir auch egal. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sich auch in der Kneipe eine neue Situation ergab. Ein weiterer Anzugträger hatte den Raum betreten und näherte sich Digit. Während sich die beiden Männer gegenüberstanden wie in einem Wild-West-Film, wurde das Gespräch der beiden Protagonisten immer lauter und entwickelte sich zu einem handfesten Streit. Es ging wohl um irgendwelche Besitz- oder Territorialansprüche. Ich wandte mich wieder Tatjana zu.
„What´s going on over there?“
„You don´t want to know.“
Ich nippte kurz an meinem Gin Tonic. Das Geschrei der Zuhälter war kurz darauf in ein einzelnes Stöhnen übergegangen. Digits „Assistenten“ hielten den Neuankömmling an den Armen fest, während ihn ihr Chef mit Faustschlägen bearbeitete. Während der Mann, dessen Gesicht nun einem blutigen Klumpen ähnelte von den beiden Leibwächtern aus der Bar geschleppt wurde, warf Digit einen drohenden Blick in die Bar, der in etwa folgendes bedeutete: „Ihr habt nichts gesehen, und wenn doch: Ihr wisst was mit Zeugen passiert.“
Ich wandte mich wieder Tatjana zu und zitierte in Marlon Brandos krächzend, flüsternden Tonfall: „We made him an offer, that he couldn`t deny.“ Ihrem fragenden Blick entnahm ich, dass sie „Der Pate“ wohl nicht gesehen hatte. Ich klärte sie kurz auf und nahm einen grossen Schluck von meinem Gin Tonic. Ich fühlte mich großartig, wusste aber nicht, ob ich es dem Alkohol, dem Urlaubsgefühl oder Tatjana zuschreiben sollte. Der Ohrwurm, der endlich „Wind of change“ abgelöst hatte, unterstrich das Gefühl. „I´m feeling supersonic, give me Gin and Tonic...“. Oasis waren mir auch sehr viel lieber als die Scorpions. Ich trank mein Glas aus, strich dem Mädchen eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte: „Let´s go.“
Ich nahm ihre Hand und führte sie zu den nahen Fahrstühlen.
Auf dem Zimmer ging sie sofort ins Bad. Ich hörte die Dusche angehen und überlegte, ob ich mich schon einmal ausziehen sollte. Ich entschied mich, erst einmal das Geld auf den Nachttisch zu legen und eine zu rauchen, ausziehen konnte ich mich dann immer noch. Ich lag auf dem Rücken, den Aschenbecher auf dem Bauch, als ich bemerkte, dass sich der Gin Tonic und die Biere sich in meinem Innern langsam verbrüderten. Ich verspürte ein leichtes Schwindelgefühl und als Tatjana, jetzt nur noch mit einem Höschen bekleidet, wieder in das Zimmer trat, hatte ich eigentlich schon gar keine Lust mehr. Fast wollte ich es ihr schon gestehen, aber dann kam der deutsche Mittelstandbürger in mir durch: Bezahlt ist bezahlt! Als sie mir die Zigarette aus dem Mund nahm, wollte ich beinahe protestieren, aber Rauchen während, statt nach dem Sex könnte als Desinteresse ausgelegt werden. Tatjana ging dagegen weiter ihrem Job nach und entledigte mich meiner Hose, stülpte mir ein Kondom über meinen, seltsamerweise völlig erigierten, Penis und setzte sich rittlings auf mich. Nicht dass sie nicht schön gewesen wäre, das stand außer Frage, aber mein Gehirn hielt es jetzt wieder für angebracht, die Moralfrage zu stellen. War Sex mit Prostituierten eigentlich okay? War ich nicht ein Ausbeuter? Was würde meine Mutter wohl sagen? Ich stöhnte auf was allerdings eher einem Grabessseufzer gleichkam denn einem Ausdruck höchster Erregung. Tatjana fühlte sich stattdessen dazu ermutigte, ihre Bemühungen zu verstärken. Und das Mädchen gab sich wirklich Mühe. Nur fühlte sich meine Lendengegend an wie betäubt. The Dead Kennedys. „Too drunk too fuck“. Um ihr aktives Interesse vorzugaukeln grapschte ich wenigstens hin und wieder unmotiviert nach ihren Brüsten. Dazwischen betrachtete ich mehrmals die Deckenlampe, die aber auch wirklich schön aussah. 70´s-Style. Mehrere Minuten später, in denen jeder Hypnotiseur seine helle Freude an mir gehabt hätte, wollte ich dem Ganzen ein Ende bereiten. Aber nicht, ohne Tatjanas Anstrengungen gebührend honoriert zu haben. Also beschloss ich, einen Orgasmus vorzutäuschen. Mit Kondom müsste sich dies doch eigentliche ohne Probleme bewerkstelligen lassen. Allerdings hatte ich wohl, das entnahm ich ihrem seltsamen Gesichtsausdruck als sie sich wieder anzog, vollkommen übertrieben. Ich schrie nämlich laut: „Jaaaaaaahhhhhhh“.
Und zwar so laut, als wäre Deutschland so eben Weltmeister geworden.
 



 
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