Fußnoten im Zentralpark (New York NY)

Fußnoten


Was sind dies doch für abscheuliche Zeiten! Man braucht nur die Zeitung aufzuschlagen, um bereits die entsetzlichsten Geschichten zu lesen. Doch lesen Sie selbst, was vor gar nicht so langer Zeit dem bedeutenden Musikgelehrten, Sascha Birnenstein, in New York widerfuhr. Am 14. 2. saß dieser, Sascha Birnenstein nämlich, beim Frühstück in seinem Upper Westside Apartment und hatte bereits eine bedeutende Anzahl von Bagels mit einer ebenso bedeutenden Portion Cream Cheese verdrückt, während er genüßlich in seinem jüngst erschienenen Monumentalwerke, Die Behandlung der Dissonanz in Palestrinas Missa Papae Marcelli, blätterte, als beide seiner Augen gleichzeitig auf eine Ungeheuerlichkeit stießen: Die Fußnote Nr. 45 auf Seite 2 war falsch versetzt. "Also…", rief Birnenstein entrüstet, "shshitt!!" Hierbei spritzte sein Mund natürlich eine bedeutende Portion Cream Cheese mit Speichel vermischt auf die Seite 2 des Monumentalwerkes und wurde von Birnenstein mittels einer Papierserviette verrieben. Auch putzte er sich die Brille mit ebenderselben Serviette, wodurch die bedeutende Portion Cream Cheese letztendlich auf den Brillgläsern verschmiert ward; aber es half dies alles nichts — die Fußnote Nr. 45 auf Seite 2 blieb falsch versetzt.

Ein zweites Exemplar des Monumentalwerkes wurde mit zitternden Fingern vom Regal gezerrt. "Shit…", murmelte Birnenstein und starrte offenen Mundes auf die Fußnote, wobei er sich gleich noch einen weiteren Bagel in denselben, den offenen Mund nämlich, schob. Der Appetit jedoch war vergangen. Das Hohngelächter seiner Kollegen erklang plastisch im inneren Ohr des Musikgelehrten; eine meckernde Passage unbehandelter Dissonanzen — den Palestrinaschen so unähnlich. 54 Jahre hatte Birnenstein in sein Monumentalwerk gesteckt. 7 Monate allein arbeitete er an der Fußnote Nr. 45 auf Seite 2 — und nun war sie falsch versetzt. Wenn wenigsten alle Fußnoten gleichermaßen falsch versetzt gewesen wären…; man hätte noch von einem neuen Stil sprechen können. Aber nein — sämtliche Fußnoten waren artig versetzt und nur die Nr. 45 auf Seite 2 tanzte aus der Reihe und war ganz verrutscht. Was dachte sich die Fußnote hierbei eigentlich? Man mußte sie doch zur Ordnung bringen können. Die Birnensteinschen Augen blitzten boshaft durch die beschmierten Gläser. Er griff mit spitzen Fingern nach einem Fläschchen Tippex und strich die Fußnote Nr. 45 auf Seite 2 kurzerhand aus.

Nach dieser heldenhaften Tat stopfte sich der bedeutende Musikgelehrte Sascha Birnenstein noch drei weitere Bagel mit Cream Cheese in den Mund und schmatzte beifällig. Nun brauchte er nur noch in die Forschungsabteilung der Öffentlichen Musikbibliothek zu gehen und die Fußnote Nr. 45 auf Seite 2 im dortigen Exemplar seines Monumentalwerkes ebenfalls auszustreichen. Die übrigen Exemplare las ohnehin niemand.

Im Korridor der Forschungsabteilung stieß Birnenstein bereits mit dem Bibliothekar Feinberg zusammen. ‘Das ist ja genau, was ich jetzt brauche’, dachte Birnenstein, der den alten hinkenden Bibliothekar immer gehaßt hatte. Noch dazu war Feinberg ein Fußnotenspezialist.

"Herzlichen Glückwunsch, Sascha!" rief der Fußnotenspezialist Feinberg schon von weitem. "Ihr Palestrina-Werk ist eine Wucht! Wir hoffen ja nur auf eine baldige revidierte und korrigierte Edition!"

Das war ja ein Wink mit dem Zaunpfahl. Birnen-stein hätte den alten Schurken erwürgen können. "Ich muß forschen", stotterte er, "ich werde Sie sehen!" Damit eilte er in die Lesehalle, füllte ein Formular aus und verlangte nach seinem eigenen Monumentalwerk.

Sehr wohl war dem Musikgelehrten nicht in seiner Haut. Die Unterschlagung von Fußnoten war bestimmt gesetzeswidrig. Verstohlen schlich Birnenstein mit seinem Fläschchen Liquid Paper in der geschlossenen Faust, und dem Monumentalwerk unter dem Arm, in eine Ecke der Lesehalle.

Doch ein nur halb unterdrückter Schrei des Entsetzens entrang sich der musikgelehrten Brust — die Fußnoten in Birnensteins Monumentalwerk waren verschwunden. Nicht nur auf Seite 2; nein, alle 3000 Seiten des Monumentalwerkes starrten ihm in gähnend weißer Leere entgegen. Da das Birnensteinsche Werk ein äusserst gelehrtes war, hatte es fast nur Fußnoten und sozusagen keinen Text gegeben. Nur noch ein paar Kapitelüberschriften waren auf wenigen Seiten übriggeblieben. Der Musikgelehrte war einer Ohnmacht nahe.

"Ja haben Sie denn noch nichts gehört?" fragte der Fußnotenspezialist Feinberg, der Birnenstein offensichtlich nachgeschlichen war. "Es ist doch heute Morgen im Radio durchgegeben worden. Eine Horde flüchtiger Fußnoten ist ausgebrochen und konnte von der Polizei trotz aller Bemühungen noch nicht wieder eingefangen werden. Nun kommen Sie schon. Sie müssen sich entspannen. Manche Fußnoten haben eben recht flinke Füße. Entspannen Sie sich!"

"Lassen Sie mich!" Der Musikgelehrte Sascha Birnenstein machte sich nicht einmal mehr die Mühe, sein entvakuiertes Monumentalwerk wieder zuzuschlagen, und drängte sich mit rudernden Armbewegungen zum Ausgang.

Auf der Straße, im Freien, fühlte sich Birnenstein etwas wohler. Ein Gang im Zentralpark wird mir gut tun", dachte er. Doch stieß er bald mit einer ungeheuren demonstrierenden Menge zusammen, die sich den Broadway hinunterwälzte. Mit Entsetzen erkannte Birnenstein seine Fußnoten. Wenn man alle Exemplare seines Monumentalwerkes zusammenzählte, konnte man schon mit ein paar Millonen Fußnoten rechnen. Erst jetzt dämmerte dem Musikgelehrten die gesamte Tragweite der Katastrophe.

Die wild gestikulierenden und bannerschwenkenden Fußnoten wirbelten nur so umher und schrieen in einem fort: "Freedom for footnotes!" Birnenstein konnte sich noch gerade in eine U-Bahn-Station retten. Er fuhr zur Central Station und verließ fluchtartig die Stadt. Die Fußnoten jedoch besetzten als Guerillakämpfer den Zentralpark.

Bereits am Abend war in Amerika der Notstand ausgerufen. Die Regierung hatte ein Ausgehverbot verhängt und strahlensichere Anzüge unter der Bevölkerung verteilt.

Die Fußnoten beruhigten sich erst nach langen und zähen Verhandlungen wieder. Seit jenem denkwürdigen Vorfall gibt es Gerüchte, daß verschiedene Musikgelehrte ernsthaft erwogen haben sollen, ihren Fußnoten in Zukunft auch etwas Text hinzuzufügen.
 



 
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