Gähnendes Vaterland oder: Gryphie hat fertig.

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San Martin

Mitglied
Gähnendes Vaterland oder: Gryphie hat fertig

Wir sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verblödet !
Die tvmbe Prominentz / der Tratsch der Adelsfrawn /
vom fast food fettes Volck / des Goldes arge Klawn
hat alles Denken vns / bis tief ins Mark verödet.

Der Pöbel schmäht die Kunst / der Lärm hatt sie betöret
das Wissen ist verfemt / die Bildung ist zerhawn /
die Klugen schweigen stumm / und wo wir hin nur schawn
ist Narretey / vnd Hohn / der unsren Geist zerstöret.

Itzt dröhnt in Ton vnd Bild / nur fades Einerley
der stille Zug der Zeith/ ziht an der Welt vorbey
der Turm aus Elffenbein / ist glutumbtost gefallen.

Drum glaube / wenn ich sag / big brother / soaps / vnd Raab
sind grimmer denn die Noth / die Folter / vnd das Grab
ich habe / sey's vermerckt / die Schnautze voll von allem.


***

Per Zufall und gänzlich unvermittelt kam mir die Zeile Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret! von Barockgroßmeister Andreas Gryphius in den Sinn, und auch die Verhunzung von "verheeret" in "verblödet" kam mir unbewusst. Um einen gestressten Freund und Gryphiusverehrer zu erheitern, beschloss ich also eine Satire auf Thränen des Vaterlandes zu schreiben. Die Rechtschreibung ist dem Original nachempfunden, obwohl dort viele verschiedene Versionen existieren. Hier eine Version von Gryphius' Originaltext: http://www.nkjo-legnica.oswiata.org.pl/data/forum/gryphius.htm
Der Autor möchte versichern, dass er die Meinung des Gedichtes in seiner drastischen Aussage nicht vollständig teilt.
 

Rudolfus

Mitglied
barocke Schelte

Die mediale Spaßgesellschaft mit der Waffe des barocken Sonetts aufgespießt, sehr schön gelungen!
Das raffinierte Muster des Herrn Gryphius ist perfekt nachgeahmt und mit zeitgemäßem Inhalt gefüllt.

Rudolfus
 

San Martin

Mitglied
Freut mich, dass es dir gefallen hat, Rudolfus. Satire ist, bis zu einem gewissen Punkt, Nachahmung, und ich hoffe, dass mir Gryphius' Ton gut gelungen ist.
 

fenestra

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Oh, seidt gegrühst, Junker Martin,

gar trefflich eure Persiflage und scheinet besser noch gerathen, als Euer letztes Werck dieser Art, dass ich las("Es ist alles super eitel"), da ihr nunmehr in die alte Sprach neumodisch Zeug einbautet und Probleme der heutigen Zeithen dort zu Hauf versammeltet.

salutationes fenestrae ;)
 

MarenS

Mitglied
oh, fein! Dies ist dir sehr wohl gelungen...Hofknicks...

Ein feines Sonett, ja und die Mischung, die machts dann perfekt.

Grüße von Maren
 
L

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Gast
Lebensformen, die das "echt geil, ey" finden, werden die klage über thumbes volck wahrscheinlich nicht verstehen wollen können.

Ich finde es sehr gut getroffen, mit perfekt entstaubten barockem deutsch und versinke in tiefen hofknicks indem ich das gewicht auf das linke bein verlagere, den rechten fuß zierlich davorsetzte und in einem anmutigem halbkreis leicht nach unten sinkend herumführe, mit geradem oberkörper sanft den kopf neige, die rechte hand leicht abgewinkelt OHNE abgespreiztem kleinen finger, denn das wäre ja albern

:D
label
 

San Martin

Mitglied
Ich bezweifle, dass ich ebenso anmutig den Gruß zu erwidern vermag, weshalb ich es bei einem schlichten wohlwollenden Kopfnicken belasse. :)
 



 
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