Gauguins Geheimnis

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Cirias

Mitglied
G A U G U I N` S G E H E I M N I S





Sie streckte das Gesicht der Sonne entgegen. Das eine Bein hielt sie ein wenig vor das andere gestellt. Lichttupfer flossen über ihren geschwungenen Rücken. Sie erinnerte mich an die Mädchen auf den Bildern von Gauguin. Sie bewegte sich nicht, während wir warteten. Ihre Augen waren geschlossen. Ein paar Mal ging ich vor ihr auf und ab. Unbewegt und stumm war sie sich meiner Gegenwart nicht bewusst. Ich sah sie an. Sie trug schwarze hochhackige Schuhe und schwarze Handschuhe. Ein dunkler Mantel umspannte ihren Körper wie eine zweite Haut. Als die S-Bahn kam, schloss sich ihre Hand fest um ein Buch, das sie über ihrer Taille an den Körper gelehnt hielt. Sie schob das Knie behutsam vor. Ein ungesuchtes beherrschtes Wiegen fuhr in ihre Hüften, während sie langsam auf die S-Bahn zuging. Beim Gehen schien ihr ganzer Unterkörper in Bewegung, wie ein Schiff das sich auf kurzen Wellen wiegt. Ich ging ihr nach und war gerade hinter ihr, als sie in die Straßenbahn stieg. Ihr Mantel öffnete sich und ich sah auf ihre Beine, die Beine einer Tänzerin. Die Bahn war voll. Ich blieb im Gedränge neben ihr stehen. Ihre schlanken von Handschuhen bedeckten Finger streiften mich flüchtig, als sie die Hand nach dem Haltegriff ausstreckte. Sie stand mit leicht gespreizten Beinen, den rechten Arm zum Griff über dem Kopf ausgestreckt, und jedes Mal, wenn die Bahn anfuhr oder sich in eine Kurve legte, neigte sich ihr Körper leicht nach vorn oder hinten. Sie verharrte in einer eigenartig tänzerischen Bewegung. Ihr blasses Gesicht hatte etwas Ungreifbares, als ob es unerreichbar weit weg sei.
Der Blick ihrer Augen schien ins Nirgendwo gerichtet. Ich dachte an die dreieinhalb Minuten bis zur nächsten Haltestelle.

Unter der unsichtbaren Führung der Musik rückt ihr Gesicht aus den Schatten des Raumes. Wir sind allein. Ich weiß keinen Anfang, kein Ende mehr. Der Schatten unserer Körper gleitet über den steinernen Grund. Wir folgen den leichten Spuren des Takts, der unsichtbaren Wellenlinie unserer Bewegungen, Tango To Evora, erinnere ich mich an ein Stück, das diesem genau gleicht, es vielleicht ist, weil meine Erinnerung ins Unhörbare versinkt, wenn ich Tango tanze. Manchmal, während ihr Körper an mir vorübergleitet und mich doch nie verlässt , oder wenn sich unsere Körper in einem unüberschreitbaren unsichtbaren Feld umeinander drehen, sehe ich auf das stumme Gesicht einer zeigerlosen Uhr. Ich fürchte mich davor anzukommen.

Die S- Bahn hielt. Ich sah sie an. Ihre Augen erinnerten mich an die Farbe des Flusses, an dessen Ufer ich als Kind oft gespielt hatte, an die Farbe der Flüsse auf den Bildern von Gauguin: ich konnte den Fluss hören, ich konnte ihn sehen, ich konnte ihn berühren, aber nie verstand ich, was er sagte.
Als die Bahn anfuhr, stand sie da wie ein gespannter Bogen, mit leicht vorgestreckter Brust, während ihr Bauch und ihre Hüften unter dem engen Mantel lange weiche Schwingungen zu vollführen schienen. Manchmal musste sie die Beine spreizen, um sich im Gleichgewicht zu halten, wobei sich ihre Schenkel ganz leicht auseinander schoben, um dann wieder zurückzuschwingen, als ob sie einem unsichtbaren Druck nachgäben. Ihr ganzer Körper bog sich sanft zusammen und wurde unter diesem unsichtbaren Zwang gefügig. Das wiederholte sich in jeder Kurve und bei jedem Anfahren, dreieinhalb Minuten lang, bis die Bahn die nächste Haltestelle erreicht hatte. Dann fuhren wir wieder.

Der Saal ist leer. Alles ist wie in einem Traum, von dem keiner weiß, wer ihn träumt. Tac. Tac. Tac. Die Musik, das Tropfenmuster des ersten Regens nach dem Ende des Sommers. Ich fühle wie sie sich mir überlässt. Wir gehen, gehen und gehen. Wir halten. Ich spüre ihren Atem. Wir gehen. Wir drehen, wir verzögern, beschleunigen. Wir unterbrechen den Lauf der Schritte. Die Bewegung fließt nach innen zurück. Sie tanzt auf den Wellen meines Oberkörpers. Wir tanzen Zeichen, Kreise, Linien in die Erde. Sie nimmt meinen Impuls, lautlos verwandelt er sich in Bewegung, unendlich langsam wachsen die Schatten unserer Schritte in eine Melodie. Tango ist der Augenblick unserer Begegnung. Ich hatte mich immer nach den einfachen, starken Empfindungen gesehnt, den Empfindungen der Gefahr, der Liebe, des Glücks. In meinen Schritten und im Innern der Musik spüre ich die Sehnsucht nach diesen Empfindungen und das Erschrecken, wenn sie ausbleiben oder unklar werden. Ich sehe sie an.

Sie sah fort. An der nächsten Haltestelle stieg sie aus. Niemand von uns hatte etwas gesagt. Ich ging ihr einfach nach. Sie wechselte die Straßenseite und bog um die Ecke. Sie drehte sich nicht um. Als ich die Ecke erreicht hatte, war sie verschwunden. Ein bleigrauer Schleier aus Abendnovemberlicht hing über der Straße. Langsam ging ich durch das Viertel. Die Hauseingänge lagen verlassen. Vor den Fenstern spannten sich die flachen Bögen künstlichen Lichts. Ich ging weiter. Meine Schritte folgten einer unsichtbaren Bewegung aus meiner Körpermitte. Aus einem Cafe klang Musik. Ich blieb stehen und hörte zu:

*
Arrabal amargo
metido en mi vida
como la condena
de una maldicion
Tus sombras torturan
mis horas de sueno.
Tu noche se encierra
en mi corazon.
Con ella a mi lado
no vi tus tristezas,
tu barro y miserias
ella era mi luz.
Y ahora, vencido,
arrastro mi alma,
clavado a tus callas
igual que a una cruz.



Noche de tango las ich auf einem Plakat an der Tür. Unter dem Schriftzug war das kolorierte Bild zweier junger Mädchen mit dunklen Haaren zu sehen. Ich wollte weitergehen, da stand das Mädchen aus der Bahn plötzlich fast vor mir, nur durch eine Glasscheibe von mir getrennt. Sie trug ein enges schwarzes Kleid. Jetzt sah ich, dass ihre langen schwarzen Handschuhe bis zu den Ellenbogen reichten. Die Musik schwieg. Einen Augenblick verharrte mein Fuß auf der Stufe zur Eingangstür. Jemand trat auf sie zu und umarmte sie stürmisch. Ihr ganzer Körper schien unter dem Kleid zu zittern. Sie drehte sich um. Sie sah mich nicht. Einen Augenblick lang glich sie den Mädchen auf dem Bild. Der Blick ihrer Augen war ins Nirgendwo gerichtet.


· Übersetzung

Bittere Vorstadt,
meinem Leben auferlegt
wie die Strafe eines Fluchs.
Deine Schatten foltern
die Stunden meiner Träume.
Deine Nacht schließt sich
in mein Herz ein.
Mit ihr an meiner Seite
sah ich Deine Trauer,
Deinen Schlamm und Dein
Elend nicht,
sie war mein Licht.
Und jetzt, besiegt,
schleppe ich meine Seele
auf Deine Straße genagelt,
genau wie an ein Kreuz.
 

Esta

Mitglied
Gesetzeswidrig ...

Hey, Cirias.
Mir ist durchaus bewusst, dass in einem Kommentar keinesfalls reines Lob oder reine Kritik geäußert werden sollten, dass man seine Meinung als ordentlicher Autor mit Hilde des Texts untermauern sollte, und so weiter, und so weiter, bla bla bla.
Allerdings fällt es mir schwer, mir Hilfe deines Textes irgendetwas zu untermauern.

Ich finde ihn schlichtergreifend wunderbar.
Deine Sprache hat mich begeistert und ich verstehe nicht, warum jemand wie DU, der wirklich und wahrhaftig mit den Worten spielt, keinerlei Lob erhält. Also von mir:

Dickes, fettes, überdimensionales Lob einer kleinen Leseratte.

ESTA
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

auch mir gefällts. bischen stärker gegliedert könnte es sein und - bei aller begeisterung für die angebetete - sie und ihren wird nicht groß geschrieben.
lg
 

Cirias

Mitglied
Hallo flammarion,

danke fürs Lesen und Fehler aufspüren- werde ich ändern.
Nun, die Struktur des Textes sollte ein wenig die Musik des Tangos widerspiegeln, keine Ahnung, ob das gelungen ist, aber vielleicht erklärt das die Wechsel im Text und die scheinbare Strukturlosigkeit,

liebe Grüße, Cirias
 



 
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