Geburtsstunde

Leicht pustend ist Ruth früh in den Morgenstunden erwacht; das Morgengrau war dem milden Sonnenlicht noch nicht gewichen. Hellwach und in erwartungsfroher geheimnisvoller Erregungsetzte sie den pfeiffenden Wasserkessel auf den Herd. Dann atmete sie wieder laut mit der geöffneten Schranktür in der Hand, ihre Augen waren auf die Küchenuhr gerichtet. Ihr erster Impuls hatte sie wieder zum Himbeerblättertee greifen lassen, aber den brauchte sie nun endlich nicht mehr trinken. Den Ingwer-Zitronen-Tee mochte sie ohnedies lieber.

Sie überlegte, ob sie noch warten sollte, bevor sie Marianne anrufen sollte. Leise schlich sie ins Schlafzimmer, legte ihrem Mann zärtlich die Hand an seine rechte Wange. Sein Blick zeigte sofortiges Verstehen und er befreite sich vorsichtig aus den Umklammerungen der beiden Mädchen. Kaum hatte Markus in der Küche gestanden und sich fröstelnd an einer Tasse Tee die Hände gewärmt, als er schon mit dem Umbau des Wohnzimmers begann. Ruth hüllte sich in eine Wolldecke mit dem Tee ein, sah abwechselnd zur Uhr oder zu ihrem Mann und pustete Luft von sich fort.
"Du solltest Marianne anrufen, und natürlich auch Claudia!"
"Ich wollte nur sicher gehen! Nicht wie beim letzten Mal!", erwiderte Ruth gelassen. Vor nicht ganz einer Woche hatte sie gedacht, es wäre nun soweit und hatte Claudia gerufen. Mit ihren Kindern ist sie gekommen und sie hatten einen schönen langen Tag mit Warten zugebracht; am anderen Morgen fuhr sie dann mit ihren zwei Töchtern nach hause.
"Gut. Bleibt regelmässig, ich ruf die beiden jetzt an!", damit erhob sie sich; Marianne machte sich sofort auf den Weg, Claudia fiel als Babysitter für ihre Mädchen allerdings aus, denn sie hatte eine Magendarmgrippe!
Inzwischen hatte Markus den Fernsehertisch und auch den Sofatisch in den Keller gebracht und pumpte bereits schwitzend das Plaschbecken auf; Ruth ging am Becken sehnsuchtsvoll auf und ab und dachte immer wieder daran, dass sie sich nur entspannen müsse.
Endlich ließ Markus Wasser in das Becken, nebenher arbeitete auch der Wasserkessel und zwei weitere Kochtöpfe daran, schnell Wasser zu erhitzen. Wie langsam sich doch das Becken füllte, Ruths Augen verfolgten angestrengt den Wasserstand. Die älteste Tochter kam durch die Küchentür ins sehr warme Wohnzimmer, sie knibbelte noch mit den Augen gegen die Helligkeit an.
"Ist es jetzt so weit?", fragte sie hoffnungsvoll ihre Augen auf den runden Bauch der Mutter geheftet. Ruth nickte nur, ließ ihren Morgenmantel auf den Sessel fallen, atmete wieder laut und stieg dann schnell ins Wasser. Angenehm entspannte das Wasser den harten Bauch.
Kurze Zeit darauf stand bereits ihre Hebamme Marianne im Türrahmen; sie verschaffte sich einen Überblick über das Geburtszimmer und überprüfte die Herztöne des Babys.

Die Wehen wurden zunehmend stärker und Ruth begann A's zu singen, volltönend klangen sie durch das Haus, schwingten sich verheissend durch die anderen Mietwohnungen. Innerlich erzählte sie sich, dass alles seinen Weg ginge und nur auf ihre innere Natur vertrauen müsse. Sie starrte die Algen und Fische auf dem Planschbecken an, versuchte Selbsthypnose! In den Wehenpausen schimpfte sie manchmal ihren Mann aus, weil das Kinderkriegen ihm nur die lustvolle Seite zeigte.
Später blieb sie still und verschloss ihre Augen in den kürzeren Pausen, dann trieb die nächste Wehe sie wieder hoch, sie wollte so gern in den Schmerz entspannen; es sollte vorbei sein. Endlich platzte die Fruchtblase irgendwo im Innern ihrer Scheide; das Fruchtwasser trübte das Becken. Im hinteren Teil lder Wohnung hörte sie die Mädchen streiten.
Noch immer keine Presswehen, was war nur los? Die Wehen blieben stark, die Mädchen wurden unruhig, sie sahen häufiger nach ihr; die Kleine sang arglos das lange A mit. Plötzlich setzen mit aller Kraft die Presswehen ein, das letzte Stück des Weges lagen vor Mutter und Kind. Ruth wünschte sich, dass drei vielleicht vier Presswehen genügen mögen, dass dann der Schmerz der Scheide zeigt, dass das Baby geboren ist. Aber diesmal genügten drei Presswehen nicht. Sie konnte doch das Köpfchen schon fühlen. Mit der nächsten Presswehe strengte sie sich wieder an, hielt die Beine unterstützend auseinander, und wieder hatte es nicht gereicht. Wieder rutschte das Köpfchen merklich einige Zentimeter zurück. Was war los? Sie gab alles und sie konnte doch spüren, wie das Baby sie unterstütze. Was nur hinderte daran, dass dieses Martyrium mit dem Wunder der Geburt beendet war? Sie hatte aufgehört die Presswehen zu zählen und konzentrierte sich auf die Anfeuerung von ihrer Familie und der Hebamme. Die beiden Mädchen sassen links und rechts bei ihrem Vater und warteten.
Dann endlich genügte die Gewalt der Presswehe und das Köpfchen war geboren, die Augen waren zum Himmel gerichtet. Mit der nächsten Wehe war auch der Rumpf entschlüpft und Marianne legte Ruth noch im Wasserbecken das Baby auf den Bauch. Mit warmen Tüchern eingedeckt verschnauften Mutter und Kind; eine weitere Wehe fügte den Mutterkuchen dem trüben Nass hinzu. Gereinigt und erschöpft stiegen Mutter und Kind aus dem Wasser; die grossen Mädchen begrüssten das Baby mit Küssen und leuchtenden Augen; immer wieder erklärten sie der müden Ruth, wie gut sie das gemacht hatte!
Mit den Augen zum Himmel gerichtet kam dieser Sterngucker zur Welt und Ruth war nicht gerissen.



-- Ende --
 



 
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