Gedankenfreiheiten

Sie randalieren, rasen im Kreis, dann wieder hin und her. Schwindelgefühle lösen unkontrollierbare Kettenreaktionen aus. Immer und immer wieder. Für Momente sind sie aufzuhalten, dann rennen sie weiter. Ins Nichts, ins Jetzt und ins Überall dazwischen.
Ich sehne mich nach Ruhe, bin Ruheständler. Habe seit gut zwei Jahren als Rentner meinen Bürodienst endgültig quittiert. Aber sie lassen mich nicht schlafen, diese endlosen Gedankenlavaströme. Ideen-Flutwellen. Aneinander hängenden Denkfetzen machen mir jeden Tag und jede Nacht mehr Angst.
Komme ich an Friedhöfen vorbei, beneide ich jene, die dort friedlich begraben liegen. Haben sie es doch hinter sich. Müssen nicht mehr unaufhaltsam denken.
Müsste ich eigentlich auch nicht.
Mit Meditationen habe ich es probiert. Habe versucht, ins buddhistische Nirwana zu fliehen. Doch je mehr ich das Nichts wollte, desto stärker schwoll die Gedanken-Flut.
Jetzt, da ich mich bemühe, sie nicht weiter aufzustauen, fließen die Gedanken unaufhaltsam bei Tag und nachts durch mein Hirn. Manchmal kommt es mir vor wie Folter.
Meine Gedanken sind frei, aber von ihnen befreien kann ich mich nicht.
Bin ich Täter oder Opfer, Liebender oder voller Hass? Bin ich sowohl als auch oder entweder oder?
Fragen auf Fragen. Aus jeder Antwort entstehen neue.
Alles nur vorläufig. Mein Wissen und ich, meine Erfahrung und die Erlebnisse aller, die ich kenne, auch wenn einige ausgesprochene Besserwisser unter ihnen sind, mit denen ich sofort in Streit geraten würde, wenn ich bereit wäre, ihn einzugehen.
Ich bin nicht bereit und vermeide dennoch damit nicht jede Auseinandersetzung.
Es ist Wahnsinn, denkt da etwas in mir, das meinen eigenen Gedanken häufig genug fremd aber immer auch wieder bekannt ist.
Wie meine Freunde wissen, bin ich Optimist. Meine Angstgedanken aber treiben mich in die grauen Welten der Ungewissheit. Es könnte alles passieren, auch wenn es nahezu unwahrscheinlich ist. Es könnte…
Immer orakele ich sie herbei, die Urangst. Sie schleicht sich in meine nahezu erdbebensichere Wohnhöhle. Hinter isländischer Vulkanasche wartet gerade wieder der nächste Weltuntergang in tiefroter Abendröte. Krähen krächzen ein Requiem. Und übermorgen kommt der Senioren-Kegelclub doch wieder zurück aus Mallorca.
Meine Gedanken schicken mich in die Wüste, in die Sahara und an den Südpol gleichzeitig. Manchmal darf ich mich auch im schattigen deutschen Wald ausruhen. Einfach so und für wenige Momente. Dann nimmt die Gedankenflut die Verfolgung wieder auf.
Nun braucht der Mensch Erklärungen. Besonders einer in meinem Zustand:
Im fortgeschrittenen Alter benötigen Mann und Frau irgendwann wieder Windeln. Inkontinenz (lat. Unvermögen), wie es der Gerontologe diskret nennt. Unvermögen meint nicht Mangel an Finanzen, sondern die leidige Unfähigkeit dicht zu halten.
Im Alter gibt es offensichtlich viele Arten, nicht mehr ganz dicht zu sein. Während bei gewöhnlicher Inkontinenz der Strom menschlichen Verdauungsflusses gar nicht oder nur bedingt aufzuhalten ist, leide ich offenbar an Hirn-Inkontinenz. Mein Gedankenfluss strömt flutartig über alle denkbaren Ufer und Stauwehre hinweg.
Mein Freund Ernst Leuwald, der Dinge überdeutlich beim Namen zu nennen pflegt, meinte leidenschaftslos, alte und kranke Bäume treiben, bevor sie eingehen, besonders viele Früchte. Bei uns Männern, klärte er mich auf, recke sich im Sterben unser Geschlechtsmerkmal demonstrativ als vermeintliche Lebensquelle noch einmal in die Höhe und das bis nach Eintritt des Todes.
Mein Hirn zeigt mit seinem Gedankenüberfluss also deutlichst Überlebenswillen.
Jetzt weiß ich allerdings nicht, ob bereits alle hier geäußerten Gedanken eine Folge jener Überlebensflut sind oder ob das geistige Hochwasser erst noch folgen wird.
Die geistige Inkontinenz lässt mich jedenfalls nicht schlafen, verhindert jede Art von Konzentration auf mich oder einen gerade gefassten Gedanken, überschwemmt ihn mit nachfolgenden Gedanken und reisst ihn weiter und weiter mit sich.
Gerade denke ich, zuviel zu denken, und denke bereits jetzt schon wieder, dass die Gedankenfluten für mich als Autor nicht von Nachteil sein müssen, wenn ich ihnen denn stand halte. Natürlich möchte ich der Nachwelt ein paar oder auch ein paar weitere Gedanken hinterlassen. Zum Beispiel diesen: Altersweisheit ist Vergesslichkeit, da Alte nur vergessen, welche Dummheiten sie noch begehen wollten. Und wenn ein Gedanke bereits den nächsten verdrängt, leistet er der Vergesslichkeit gehörigen Vorschub.
Ich will mir einfach keine Gedanken mehr über meine Gedanken machen.
Da fällt mir gerade ein, wie sinnlos Zurückhaltung sein kann. Nun hat meine Mutter ungeheuer viel pädagogische Energie darauf verwandt, mir vornehme Zurückhaltung anzuerziehen. Ob das meinem Selbstbewusstsein nützte, wage ich nachträglich eher zu bezweifeln. Als Schriftsteller benötige ich, um die häufigen Durststrecken der Erfolglosigkeit durchzustehen, ein in jeder Hinsicht übersteigertes Selbstvertrauen.
Meine altersbedingte Vernunft, die sich in bescheidener Selbstbegrenzung zeigen könnte, ist aus schriftstellerischer Sicht ein lästiges Hindernis. Die Rolle des verückten Alten wäre die wesentlich vernünftigere. Aber wie, wenn ein gehöriges Übermaß an vernunftbedingter Neigung zur Scham allem entgegen steht?
Die Antwort ist einfach: Schamlos werden. Die Würde des Alters skrupellos entwürdigen. Eben doch noch schnell jene Dummheiten begehen, vor der die eigene Vergesslichkeit mich schützen könnte und ausschließlich die vernünftigen Anforderungen der Alzheimerschen opfern.
Gelegenheiten, sich als Alter ungewollt zu blamieren gibt es genug. Sich ganz bewusst zu blamieren, verfolgt allerdings eindeutig provokante Absichten.
Es sollte mir einfach nicht mehr peinlich sein, wenn ich Anderen peinlich bin.
Der alte unbekehrbare Egoman ist erreichbar, weder altersmild noch nachdenklich, sowohl sich selbst umkreisend als auch selbst verliebt, ohne Anstand und Ehrgefühl, ein besonders spät Spätpubertierender, der nie aus den Flegeljahren heraus will, weil er ewig zu leben gedenkt.
Das wird mir aus rein natürlichen Gründen kaum gelingen. Aber ein paar Versuche wäre es dennoch wert.
Allein, als ich heute Morgen mit der Absicht, es endlich zu versuchen, die Wohnungstür hinter mir schwungvoll zuschlug, gab mir das bereits den notwendigen inneren Elan, der mich die Schmerzen in meinen inzwischen recht abgenutzen Kniegelenken vergessen ließ. Ich hüpfte auf der Straße an Nachbarn vorbei, die mit sorgenvoller Miene hinter mir hersahen und sich vielsagend mit dem rechten Zeigefinger an die Stirn tippten.
„Ja“, rief ich Ihnen zu, „genau da oben im Kopf fängt es an!“
Sie nickten. Meinten damit aber selbstverständlich nicht ihre und sondern meine Denkschwäche..
Besonders glücklich wäre ich, wenn meine älteste, inzwischen elfjährige Enkelin, die in der ersten Klasse des Gymnasiums auf Wunsch ihrer ehrgeizigen Eltern bereits an ihre Zukunft denken und Höchstleistungen bringen muss, ihrer Mutter (meiner Tochter) bestätigte: „Opa spinnt. Das find ich echt krass!“
Und dann hat sie auch noch die Chance, etwas von mir zu lernen, bevor ich ihrer Mutter gestehe, dass ich gedenke, mir die Volljährigkeit wieder aberkennen zu lassen.
Ja, sie randalieren, rasen im Kreis und hin und her. Schwindelgefühle lösen unkontrollierbare Kettenreaktionen aus. Immer und immer wieder.
Vielleicht ist es auch nur der Blutkreislauf. Wobei gewisse Schwindelgefühle im Frühling durchaus angenehm sein können.
Ich werde auf den Frühling warten und meine Gedanken jetzt schon mit ihm beginnen lassen.
 



 
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