Gedankensplitter

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Alina

Mitglied
Unter dieser Überschrift werden in unregelmäßigen Zeitabständen sehr kurze Geschichten veröffentlicht, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit und allseitige Abarbeitung eines Themas erheben.
Sie sind vielmehr dazu gedacht, den Leser zu eigenen Gedanken anzuregen, seine Phantasie zu beflügeln oder Erinnerungen wach zu rufen.



Sonntagmorgen im September


Wieder einmal ist die Woche vorbei- Sonntag.
Ich decke den Frühstückstisch mit butterblumenfarbenen Geschirr .
Der Wasserkocher summt leise vor sich hin.
Durch das geöffnete Fenster dringt Lerchengesang - Es riecht nach frischem Heu.
Frühsommeratmosphäre breitet sich in meiner Küche aus.
Doch der Blick auf den Kalender belehrt mich eines Besseren.
Es ist bereits Mitte September.
Das Heu ist nicht die Frühjahrsmahd- es ist Grummet.
Kürzer werden die Tage.
Wenig später löffle ich den Dotter aus meinem geköpften Ei und denke darüber nach, wie leicht sich doch unsere Sinne von sonnigen Farben, ungewohnten Gerüchen und dem Gesang eines Vogels täuschen lassen.



Nachtgedanken


Ich erwache fast übergangslos. Über meinem Kopf hebt sich das Viereck des Dachfensters vom schwarzen Rest der Zimmerdecke ab.
Unzählige Sterne ziehen auf der Milchstraße ihre Bahn.
Kater Paul hockt auf dem Kopfkissen neben mir und starrt mich mit seinen bernsteinfarbenen rätselhaften Augen an.
Als mein kleiner „Haustyrann“ bemerkt, dass ich endgültig der Traumwelt entflohen bin, streckt er sich und springt vom Bett herunter.
Er will nach Katzenart ins Freie.
Während ich mir einen Bademantel überziehe und noch etwas benommen nach den Schuhen suche, muss ich plötzlich an Dich denken.
Ich frage mich, ob Du jetzt ebenfalls aufgewacht bist, auf den Hof gehst und zu den Sternen empor schaust.
Und indem ich mir diese Fragen stelle, spüre ich , wie sehr Du mir fehlst.



Rapunzel


An einem langen schwarzen Zopf hast Du Dich emporgehangelt, Dein Licht verschüttet und Rosen vor fremden Türen abgelegt.
Alle Anstrengungen nur für einen schrägen Blick aus grüngesprenkelten Katzenaugen!
Wer denkt dabei schon an Gotelinde, die unbeachtet im Schatten steht,
und Dich liebt, seit dem sie Dich das erste Mal sah?
Auch Märchen können auf ihre Art grausam sein.



Straftatbestand


Unverhofft standst Du heute vor meiner Tür.
Dein blond-braunes Haar war mit Pulvergeruch gesättigt.
Ich hasse diese Schießübungen, obwohl sie zu unserem beruflichen Alltag gehören.
Als Du mich später in die Arme nahmst, war das alles nicht mehr wichtig.
Es zählte nur der Moment.
Wieder einmal haben wir der Zeit ein Schnippchen geschlagen- uns kostbare Stunden füreinander gestohlen.
Für diesen Straftatbestand würde ich gern mit Dir auf Jahre in eine Zelle gehen.



Sonntagsruhe


Du liegst ausgestreckt auf dem Sofa- schläfst entspannt.
Kater Paul hat sich an Deine Füße gekuschelt und schnurrt leise vor sich hin.
Es ist Sonntag- der siebte Tag, an dem alle Arbeit ruhen sollte.
Ich komme gerade von der Frühschicht nach Hause.
Leise, um dich nicht zu wecken, setze ich mich auf den Sessel neben Dir und betrachte Dich. Ich sehe Deine ersten grauen Härchen an der Schläfe, die senkrechten Falten hinter dem Ohr.
Was würdest Du sagen, wenn ich mich jetzt einfach zu Dir lege?
Hättest Du dann noch Appetit auf Kaffee und mitgebrachte Sahnetorte?



Kirmes


Herbstzeit- Erntezeit.
In der Lausitz feiert man allerorten Kirmes.
Ich schlendere ziellos zwischen den Ständen umher, beobachte das Treiben auf dem Karussell und höre eine Kapelle die in dieser Gegend beliebte Annemarie-Polka anstimmen.
Von irgendwo her steigt mir der Geruch von frisch gebackenem Apfelkuchen in die Nase.
Plötzlich sehe ich die nimmermüden Hände meiner Großmutter vor mir. Sie beherrschte die Kunst, Äpfel in einem Zug so zu schälen, dass am Ende von den Schalen nur noch Spiralen übrig blieben .
Die fertigen Apfelspalten ordnete Großmutter dachziegelartig auf dem Teig an. Zum Schluss streute sie noch Rosinen darüber.
Großvater schob dann das Blech in die dafür extra beheizte alte Kochmaschine in der Sommerküche.
Um mich herum den Lärm vergessend, stehe ich wieder im Hof meiner Kindheit, tolle mit meinen Freunden unter der alten Linde und schmecke das einzigartige Aroma unbeschwerter Ferientage.



Erinnerungen


Auf meinem Weg zur Arbeit komme ich regelmäßig an einem der neu entstandenen Seen in meiner Umgebung vorbei. Für mich sind sie jedoch nicht nur mit Wasser, sondern mit vielen Erinnerungen gefüllt.
Noch immer sind an den Ufern die Spuren jener Eimerkettenbagger zu erkennen, die sich vor nicht all zu langer Zeit durch Erdschichten fraßen. Meter für Meter wurde der Boden umgewälzt.
Einziges Ziel war die Braunkohle - begehrter Rohstoff und Futter für die Kessel der Kraftwerke in der Umgebung.
Jetzt werden diese Narbe im Gesicht der Erde getilgt, die Restlöcher geflutet.
Überall hat sich Buschwerk angesiedelt, Schilf an flachen Stränden Fuß gefasst. Inseln heben sich dort aus dem Wasser, wo früher steile Abraumkippen die Mondlandschaft überragten.
Besonders abends, wenn das Licht der Sonne schräg auf die Wasseroberfläche fällt, erscheint das Bild geradezu unwirklich.
Eine Idylle breitet sich aus, wo noch vor wenigen Jahren Hunderte von Menschen Tag und Nacht arbeiteten.
Unzählige Male erklomm auch ich die steilen Hänge des Tagebaus, um Wasserstände für den weiteren Fortgang der Braunkohleförderung zu messen. Am Feierabend stand ich dann mit schmerzenden Waden und zitternden Knien auf den Hügeln, unter mir in 50 oder 60 m Tiefe die Kohlebagger.
Nur ein aufmerksamer Besucher sieht heute die künstlich geschaffenen Konturen dieser Landschaft.
Wälder entstanden auf einst kahlen Flächen, Wege wurden angelegt.
Ich trauere der Vergangenheit nicht nach.
Manchmal jedoch frage ich mich, ob in ein paar Jahren noch jemand an uns denken wird- an unsere Mühen, die Freude und den Stolz am Schichtende, wenn das Tagessoll wieder einmal erfüllt war.

Wird das Wasser auch diese Erinnerungen mit sich nehmen ?


Meinungsverschiedenheit


Heute haben wir uns am Telefon gestritten.
Es ging um eine Kleinigkeit- Ein Wort ergab das andere.
Unsere Sätze flogen aufeinander zu, kreuzten sich und trugen ihren Kampf miteinander aus.
Deine Stimme wurde hart.
Es tat mir weh, Dich so zu hören.
Gern hätte ich Dir, trotz des Streites, ins Gesicht gesehen.
Ich wäre auf Dich zugegangen, hätte Deine Hände genommen und um meine Hüften gelegt.
Doch die Entfernung zwischen uns ließ dies alles nicht zu.
So blieb mir am Ende nur zu schweigen.
Es dauerte lange, ehe Du bemerktest, dass ich Dir nicht mehr antwortete.
Plötzlich trat eine Stille ein, die schwerer wog, als alles vorher Gesagte.
Ich hörte weder Deinen Atem, noch irgendein anderes Geräusch.
Nur mein eigener Herzschlag rauschte in den Ohren.
In dieser kurzen Zeitspanne sah ich Dich vor mir.
Wo waren das Licht und die Wärme, die ich sonst bei Deinem Anblick verspürte?
Wir verabschiedeten wir uns kurz, ohne weitere Gefühle zu äußern.
Kann es sein, dass wir heute nicht nur räumlich voneinander entfernt waren- die Distanz zwischen uns zunimmt?
 
Hallo Alina,


rein formal ist es prima, dass nun deine Gedankensplitter hier zusammengefasst sind. Ich finde den „Strafbestand“ sehr schön, schon wegen dieser Mischung aus Symbolik und Realität. Es ist eine kleine Form des Symbolismus, die immer wieder geerdet wird.

Bei der „Meinungsverschiedenheit“ muss es wohl heißen: ein Wort gab das andere statt ergab das andere.

An der „Erinnerung“ gefällt mir das Thema, das ich sehr gut als nun in Leipzig Wohnender kenne. Jedenfalls gibt es hier Unmengen von gefluteten und zu flutenden Tagebaulöchern. In zehn Jahren haben wir in dieser Gegend mehr Seen als in Finnland.

Beste Grüße

Monfou
 

Alina

Mitglied
Vielen Dank für Deine Kommentare zu meinen "Gedankensplittern" Monfou.
Jetzt, wo ich noch einmal alle Kurzgeschichten ganz in Ruhe durchgelesen habe, fallen mir die von Dir angesprochenen Passagen auch auf.
Ich sollte vor dem Veröffentlichen noch genauer hinsehen.

Liebe Grüße

Ilona
 



 
Oben Unten