Gedichtformen: Schüttelreime

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der Begriff "Schüttelreim" (nach Stinde "Die Kunst des Schüttelreimens" auch "Schling-, Wechsel- oder Kaleidoskopreim") hat einen Doppelcharakter, zum einen bezeichnet er eine Reimform, zum anderen eine Gedichtform.

Reimform


Der Schüttelreim als Reimform ist dadurch charakterisiert, dass er einen Doppelreim, manchmal sogar einen Dreifachreim enthält, wobei die Anfangsbuchstaben (-Konsonanten) des Reims "geschüttelt" - also zyklisch vertauscht sind.

Auflösen kann man Heere schwer,
wo kommt nur diese Schwere her?
Er wird meist als Endreim, selten als Binnenreim verwendet.
Wie allgemein bei Endreimen üblich, beginnt der Schüttelreim mit einer betonten Silbe. Es werden also nicht die Anfangskonsonanten von unbetonten Silben geschüttelt.
Da Vokale in Deutsch mit einem "Knacklaut" beginnen, können sie in Schüttelreimen verwendet werden.
Der Abend wird im Weine enden,
wirst du dich an die Eine wenden.
Entscheidend dafür ist der gesprochene Reim. Das bedeutet, dass "optische Reime" (das sind Reime, die gleiche Buchstaben verwenden, aber unterschiedlich gesprochen oder betont werden Beispiel: "Rage" - "Tage") keinen Schüttelreim bilden können, während "Heer" und "schwer" ohne Probleme in einem Schüttelreim verwendet werden können.

Durch diese strenge Bildungsvorschrift entsteht oft ein skurriler, ironischer oder grotesker Charakter des Reimes.

Verschiedene weitere Beispiele:
(Ich verwende hierfür das Gedicht von Stator: "Tot geschüttelt", http://www.leselupe.de/lw/titel-Tot-geschuettelt-92057.htm)

Über Wortgrenzen:
Ich muss heut nicht im Grauen schuften,
hab Zeit sie anzuschauen: Gruften!

Einzelne und zusammengesetzte Wörter
Doch schau ich mir die Trauerschau,
weil ich noch meinem Schauer trau

Gesprochener Reim, nicht optischer Reim ist entscheidend

am liebsten an in hohlen Gängen,
wo Knochen von Mongolen hängen.
Die Rhythmik muss übereinstimmen, ist aber frei.

Schüttelreime können deshalb in sehr unterschiedlichen Gedichtformen verwendet werden.

Meist ist die Verteilung:

aa bb cc ...,

es sind aber auch andere Formen möglich.


Gedichtform


Schüttelreime gehören (meist) zur Spaßlyrik.

Stator schrieb dazu, auf den Schüttelreim bezogen: ( http://www.leselupe.de/lw/showthread.php?threadid=92057&pagenumber=4&showall=1 )

Die gereimte Lyrik bietet dem Dichter ein breites Feld der Betätigung. Vielfältige Reimformen können benutzt und mannigfaltige Stimmungen bedient werden. Versstruktur und Strophenaufbau ordnen sich dabei idealerweise dem Reimschema unter. Mal strenger, mal lockerer.
Die Spaßlyrik ist z.B. ein typischer Vertreter der gereimten Lyrik. Sie bedarf der gereimten Form, um gerade durch den spielerischen Einsatz der Endreime, verblüffende oder amüsante Verskombinationen und Pointen zu erzeugen. Der Leser wird also weniger von streng logischen Sachverhalten angesprochen, sondern von witzigen Drehungen und Wendungen. Oder von unerwarteten Spitzfindigkeiten.
Der Schüttelreim ist nun so eine Variante der Spaßlyrik. Er ist sehr anspruchsvoll in der Erstellung, hat aber nicht den Anspruch besonders tiefgründig zu sein. Natürlich, die Königsklasse ist der Schüttelreim in einer geschlossenen Handlung, aber diese beiden Komponenten zu vereinen ist sehr schwierig. Wenn dann noch der Anspruch auf völlige logische Korrektheit zugrunde gelegt wird, ist so ein Gedicht nicht machbar, oder, wenn doch, wahrscheinlich völlig unlustig und wird vom Leser nicht beachtet. Die kleinen Unlogikkeiten und Worterfindungen machen den Reiz des Schüttelreims aus, sind Stilmittel und höchst erwünscht. Ein Spaß eben.
Schüttelreime in diesem Sinn entsprechen dem volkstümlichen Reimbegriff, wie er zum Beispiel beim Kinderreim verwendet wird.


Literatur:

Die Kunst des Schüttelreimens von Julius Stinde
Im Projekt Gutenberg: http://gutenberg.spiegel.de/buch/3147/1
 
O

orlando

Gast
Ein Spezifikum des professionellen Reimgeschüttels ist, dass es fast nur von Männern ausgeübt wird. Mit löblichen Ausnahmen, wie der göttlichen Sita Steen:

Wer Geist mit lockrer Hand verschüttet,
hält Weisheit nicht zu ledern fest,
wer des Verrisses Schand verhütet
und deshalb auch kaum Federn lässt,
wer feilt und schruppt, nicht dilettantisch,
strickt Feines eng, nicht Loses grob,
befrachtet das Subtile dantisch,
dem spendet jeder großes Lob!

Sita Steen. 1984 in: Reim hoch², Olms Presse,
Hildesheim . Zürich . New York
Grandios! :)
Schon "Hildesheim . Zürich . New York" :D;)
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der Begriff "Schüttelreim" (nach Stinde "Die Kunst des Schüttelreimens" auch "Schling-, Wechsel- oder Kaleidoskopreim") hat einen Doppelcharakter, zum einen bezeichnet er eine Reimform, zum anderen eine Gedichtform.

Reimform


Der Schüttelreim als Reimform ist dadurch charakterisiert, dass er einen Doppelreim, manchmal sogar einen Dreifachreim enthält, wobei die Anfangsbuchstaben (-Konsonanten) des Reims "geschüttelt" - also zyklisch vertauscht sind.

Es ist ein Wortspiel, ein Spiel mit Worten.

Auflösen kann man Heere schwer,
wo kommt nur diese Schwere her?
Er wird meist als Endreim, selten als Binnenreim verwendet.
Wie allgemein bei Endreimen üblich, beginnt der Schüttelreim mit einer betonten Silbe. Es werden also nicht die Anfangskonsonanten von unbetonten Silben geschüttelt.
Da Vokale in Deutsch mit einem "Knacklaut" beginnen, können sie in Schüttelreimen verwendet werden.
Der Abend wird im Weine enden,
wirst du dich an die Eine wenden.
Entscheidend dafür ist der gesprochene Reim. Das bedeutet, dass "optische Reime" (das sind Reime, die gleiche Buchstaben verwenden, aber unterschiedlich gesprochen oder betont werden Beispiel: "Rage" - "Tage") keinen Schüttelreim bilden können, während "Heer" und "schwer" ohne Probleme in einem Schüttelreim verwendet werden können.

Durch diese strenge Bildungsvorschrift entsteht oft ein skurriler, ironischer oder grotesker Charakter des Reimes.

Verschiedene weitere Beispiele:
(Ich verwende hierfür das Gedicht von Stator: "Tot geschüttelt", http://www.leselupe.de/lw/titel-Tot-geschuettelt-92057.htm)

Über Wortgrenzen:
Ich muss heut nicht im Grauen schuften,
hab Zeit sie anzuschauen: Gruften!

Einzelne und zusammengesetzte Wörter
Doch schau ich mir die Trauerschau,
weil ich noch meinem Schauer trau

Gesprochener Reim, nicht optischer Reim ist entscheidend

am liebsten an in hohlen Gängen,
wo Knochen von Mongolen hängen.
Die Rhythmik muss übereinstimmen, ist aber frei.

Schüttelreime können deshalb in sehr unterschiedlichen Gedichtformen verwendet werden.

Meist ist die Verteilung:

aa bb cc ...,

es sind aber auch andere Formen möglich.


Gedichtform


Schüttelreime gehören (meist) zur Spaßlyrik.

Stator schrieb dazu, auf den Schüttelreim bezogen: ( http://www.leselupe.de/lw/showthread.php?threadid=92057&pagenumber=4&showall=1 )

Die gereimte Lyrik bietet dem Dichter ein breites Feld der Betätigung. Vielfältige Reimformen können benutzt und mannigfaltige Stimmungen bedient werden. Versstruktur und Strophenaufbau ordnen sich dabei idealerweise dem Reimschema unter. Mal strenger, mal lockerer.
Die Spaßlyrik ist z.B. ein typischer Vertreter der gereimten Lyrik. Sie bedarf der gereimten Form, um gerade durch den spielerischen Einsatz der Endreime, verblüffende oder amüsante Verskombinationen und Pointen zu erzeugen. Der Leser wird also weniger von streng logischen Sachverhalten angesprochen, sondern von witzigen Drehungen und Wendungen. Oder von unerwarteten Spitzfindigkeiten.
Der Schüttelreim ist nun so eine Variante der Spaßlyrik. Er ist sehr anspruchsvoll in der Erstellung, hat aber nicht den Anspruch besonders tiefgründig zu sein. Natürlich, die Königsklasse ist der Schüttelreim in einer geschlossenen Handlung, aber diese beiden Komponenten zu vereinen ist sehr schwierig. Wenn dann noch der Anspruch auf völlige logische Korrektheit zugrunde gelegt wird, ist so ein Gedicht nicht machbar, oder, wenn doch, wahrscheinlich völlig unlustig und wird vom Leser nicht beachtet. Die kleinen Unlogikkeiten und Worterfindungen machen den Reiz des Schüttelreims aus, sind Stilmittel und höchst erwünscht. Ein Spaß eben.
Schüttelreime in diesem Sinn entsprechen dem volkstümlichen Reimbegriff, wie er zum Beispiel beim Kinderreim verwendet wird.


Literatur:

Die Kunst des Schüttelreimens von Julius Stinde
Im Projekt Gutenberg: http://gutenberg.spiegel.de/buch/3147/1
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Eine Besonderheit weist Lupenlesers Schüttelreim "Frauengroll - grauenvoll" http://www.leselupe.de/lw/titel-Frauengroll-Ae-grauenvoll-Schuettelstanze-114650.htm auf:

Frauengroll - grauenvoll (Schüttelstanze)


Auf Händen wollt er Frauen tragen,
um Rat sie im Vertrauen fragen.
Der Mann begann aus Liebe Sachen,
die Gattin sollte sie belachen.
Doch die, an ihn schon bald gekettet,
hat ihn aus Rache kalt gebettet.
Gefährlich wird's, wenn Frauen grollen,
das zählt zum wahrhaft Grauenvollen.
(Hier verwendet mit freundlicher Genehmigung des Autors)

Das Schüttelreimgedicht wirkt ganz normal geschüttelt.
Nur wenn man sehr genau hinschaut, fällt auf, dass das Schütteln im letzten Vers ungenau erscheint.
Das war mir beim Lesen verborgen. Ich würde es analog zur optischen Täuschung als lyrische Täuschung bezeichnen.

Für mich ist das ganze stimmig, aber hier scheiden sich auch die Geister. Manche Perfektionisten empfinden es als Makel, ich nicht.

Mir ist noch nicht ganz klar, was es verdeckt hat. Wahrscheinlich ist es, weil der Buchstabe "r" hier dreimal vorkommt.
 
O

orlando

Gast
Mühsam-Fan bin ich schon rein gesinnungstechnisch ;) , habe allerdings erst vor ein paar Jahren erfahren, welche amüsanten Schüttelreime ihm seinerzeit gelungen sind.
Das Geschüttele scheint mir überhaupt ein Sport für Freigeister zu sein, die aus Spieltrieb, Übermut und Sprachwitz, Virtuoses auf diesem Gebiet zu leisten vermögen. -
Lupenlesers "Frauengroll" finde ich ebenfalls außergewöhnlich gut und kommentierte bereits entsprechend. - Ich teile übrigens deine Meinung, dass nicht jeder Schüttelreim redlich-steif verreimt werden muss; nur klingen sollte er.
orlando
 
Über das Schütteln von Limericks

Bekanntlich erfreuen sich Limericks großer Beliebtheit, ihre Zahl ist inzwischen Legion. Wenn man mal den Bogen, sprich den limericktypischen Rhythmus, raus hat, kann das Limmen fast zum Kinderspiel werden. Ähnlich ist es mit dem Schüttelreimen, das bei regelmäßigem Üben immer leichter werden kann. Ganz anders sieht es aus, macht man sich als Schüttelreimer auf die Suche nach geschüttelten Limericks. Das ist auch kein Wunder, kommt es beim Schütteln von Limericks zu den bekannten strengen (!) Anforderungen noch darauf an, dass es sich bei den Reimen durchgängig um Schüttelreime handelt. Alle Zeilen müssen richtig geschüttelt sein und Präpositionen zwischen den geschüttelten Wortpaaren erhalten bleiben.

Am "einfachsten" ist der nicht durchgeschüttelte Limerick. Da ein Schüttelreim nur aus zwei Wortpaaren bestehen kann, können damit nur zwei Schüttelreime gebildet werden. Es ist aber mitunter möglich, die Schüttelwirkung in Zeile 5 durch Wiederholung eines der Wortpaare aus den Zeilen 1 und 2, zu erzielen, aber in anderer Bedeutung.

Einige Beispiele:

Es klagte ein Gast jüngst in Lermoos:
"Läg Lermoos am Meer, wäre mehr los.
Ich pfeif auf das Moos-Flair,
mir nützte ein Floß mehr,
dann surfte ich gleich auf dem Meer los."

Beim Wandern um herrliche Stauseen
da sah ich im Mais eine Sau stehn.
Mir wurde ganz flau so,
dass ich vor der Sau floh.
Doch musst ich sie tot dann im Stau sehn.

Es gibt eine Dame in Fellbach,
die lehrt junge Hunde das Bellfach.
Mein Dackelhund Waldi,
der schmettert im Alt wie
die Leisner* mit struppigem Fell Bach.

* Emmi Leisner, 1886-1958 berühmte Altistin, Schubert- und Bachinterpretin.

In den Kongo flog Bunny aus Wetzlar,
wo die Nanni bei Lunny aus Letz war.
Jedoch bei der Lunny
erfuhr leider Bunny,
dass Nanni zerlegt in Koteletts war.

Schwieriger ist der durchgeschüttelte Limerick, der durch schweifende Konsonanten zustande kommt, hier der Konsonant "r":

Es legten den Kalle in Bretten
zwei Damen, recht pralle, in Ketten.
Von Fetten gekesselt,
an Ketten gefesselt,
schlug Kalle die Kralle in Betten.

Ein Sportler am Rheine zu Bingen
verdreht seine Beine zu Ringen,
steht Kopf und macht Yoga,
um auf der Yacht »Moga«
in Form sich für eine zu bringen.

Es machte vor Jahren in Brockscheid
sich einmal ein riesiger Schock breit,
dass Brockscheid vor Schock starrt,
und schockbreit am Stock scharrt,
bis endlich "Entwarnung" aus Bock schreit.

Man hörte von Richtern aus Ditzingen,
die Warnung vor Dichtern aus Ritzingen:
»Dort richten die Dichter,
verdichten die Richter
zu Würstchen in Trichtern aus Itzingen.«

…und hier mit dem wandernden „l“

Fritz Blecker, der Bäcker in Schleiden,
verkehrte bei Schlecker in beiden
der mausigen Lädchen
mit lausigen Mädchen,
die lockten Fritz Schlecker in Scheiden.

Variante:

Fritz Blecker, ein Bäcker aus Schleiden,
entfloh jüngst bei Schlecker aus beiden
der mausigen Lädchen
vor lausigen Mädchen.
Jetzt grüßt Bäcker Blecker aus Scheiden.

Und hier wandert das "Sch":

Es schwärmten die Recken in Schneidling
von schmackhaften Schnecken in Reitling.
Wie Recken verschneckten,
durch Schnecken verreckten,
erzählt man mit Schrecken in Neidling.
 
Der Schüttelreim ist nun so eine Variante der Spaßlyrik. Er ist sehr anspruchsvoll in der Erstellung, hat aber nicht den Anspruch besonders tiefgründig zu sein. Natürlich, die Königsklasse ist der Schüttelreim in einer geschlossenen Handlung, aber diese beiden Komponenten zu vereinen ist sehr schwierig. Wenn dann noch der Anspruch auf völlige logische Korrektheit zugrunde gelegt wird, ist so ein Gedicht nicht machbar, oder, wenn doch, wahrscheinlich völlig unlustig und wird vom Leser nicht beachtet.
Leider begegne ich dieser von mir und anderen bereits mit zahlreichen Beispielen widerlegten Auffassung immer wieder.

Lupenleser Friedhelm
 



 
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