Geduldige Erkenntnis

Sabrina

Mitglied
Ein Geduldsfaden im Apfelbaum​

Der alte Mann hielt den Samenkern eines Apfels zwischen seinen faltigen Fingern in die Sonne. Er kniete sich mühsam nieder, legte behutsam den Kern in die Erde und ebnete das Loch mit seinen runzligen Händen. Sein Lebensabend war weit voran geschritten. Die eigene Vergänglichkeit im Kreislauf des Lebens stand kurz bevor und damit auch ein neuer Anfang im Zyklus des Werdens und Vergehens.

Er goss seinen Samen fortan jeden Tag und betrachtete dabei den Ort, wo einst ein prachtvoller Baum seine Früchte verschenken würde. Sein Leben war gelebt, kein Auftrag auf Erden mehr offen. Seine Seele hatte eine Fülle an Erfahrungen gespeichert und würde zufrieden gehen können. Dennoch hoffte der alte Mann den ersten Apfel dieses werdenden Baumes noch vor seiner Abreise ernten zu können. Er hatte es versprochen!

Sein Bemühen war es, sich allzeit mit Geduld und Hingabe, als Alternative zu mineralischem Kunstdünger und Pflanzenschutzmittel, seinen Zögling zu pflegen. Es ging nur langsam voran mit dem Baum. Das beruhigte den Alten einerseits, denn er selbst war schließlich auch sehr langsam. Nicht nur bei der Pflege seiner Pflanze. Die Langsamkeit war ein friedenherstellender Gegenpol in dieser -über seine 74 Lebensjahre hinweg - immer effektiver gewordenen Gesellschaft. Andererseits quälte ihn manchmal die Ungeduld, wenn er die Pflanze nicht wachsen sah.
„Geduld ist eine Frucht des Heiligen Geistes“, sagte seine Frau bevor sie starb und gab ihm den Apfelkern, mit dem sie ihm gleichzeitig die Fähigkeit auf seine Abreisezeit zu warten schenkte. Jeden Tag musste er mit seiner ungestillten Sehnsucht leben und diese, auf ungewisse Zeit, zurückstellen.
Als der Samen aufging und die Pflanze sich durch die Erde ihren Weg zum Licht Bahn brach, waren endlich die Entwicklungen an der Erdoberfläche sichtbar. Der Greis erfreute sich an den Beobachtungen, die er jetzt machen konnte. Er sah, was er pflegte!

Die Jahre vergingen, ebenso wie einzelne Körper- und Vitalfunktionen des Alten.

Gemeinsam mit dem Apfelbaum wuchs auch weiteres Leben in seinem Umfeld heran. Das siebte Urenkel-Kind wurde im dritten Jahr des Apfelbaumes geboren und war nach nur eineinhalb Jahren - aufrecht stehend -größer, als der Baum in seinem fünften Jahr.

Geduld ist eng mit der Hoffnung verbunden und so hoffte der alte Mann mit der Ernte des ersten Apfels, seinen letzten Auftrag erfüllt zu haben und gehen zu dürfen. Bis es soweit war, blieb ihm nur, den gegenwärtigen Moment, in dem alles geschieht, mit den vorhandenen Möglichkeiten zu leben.

Die Blüten, die der Baum in seinem achten Jahr hervorbrachte, waren ganz besondere Apfelblüten. Das war offensichtlich. Die Blüten fielen aber nach einer Weile ab, ohne dass sich eine Frucht entwickelte.
Drei lange Jahre in der Vorausschau und drei kurze Jahre in der Erinnerung, sollte der Alte noch den gegenwärtigen Moment, immer mühseliger gestalten müssen, bis der Baum endlich seine ersten Früchte hervorbrachte.
Nach elf Jahren der langmütigen Pflege, des geduldigen Beobachtens, der gelassenen Freude über sichtbare Entwicklungen und den Missmut, ob der Sehnsucht nach dem Ende, sah der alte Mann, dass aus dem Geduldsfaden im Apfelbaum, etwas anderes geworden war.
Jetzt erst sah er was er pflegte! Mit der Herausbildung der Früchte, sah er die Erkenntnis in dem Birnenbaum vor ihm und die Stimme seiner Frau in ihm sagte:

„Zu jedem Augenblick, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort.“
 
G

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