Gefangen

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Sehnsüchtig sieht der aus dem Fenster. Zum Mond hinauf, der die Nacht in düsteres Licht taucht.
Wie gerne würde er jetzt draußen sein und darin wandeln. Im kalten Schein baden, unter den Füßen nur das kühle Gras.
Doch kann er nicht.
Der Blick verlässt den Himmel, gleitet in die Tiefe, sucht den Garten, den er so sehnlich vermisst. Der Boden ist nah. Nur ein Stockwerk entfernt liegt die ersehnte Freiheit und ist unerreichbar fern.
Mit leisen Seufzen lehnt Julien den Kopf an die Eisenstangen. Sie sind es, die ihn von der Außenwelt trennen. Die ihn nur einen Ausschnitt von dem zeigen, was er ersehend.
Gerade hat er gegessen und sitzt, wie jeden Abend, hier. Sehnt sich nach der Welt, die er nie mehr betreten darf. Die Familie wird ihn nie wieder aus diesen Räumen lassen, das ist ihm bewusst.
Erinnerungen steigen hoch. Erinnerungen an Tage im Garten unter einem strahlenden Himmel. Tage voller Fröhlichkeit, Geborgenheit und Freiheit. Doch liegen sie schon lange zurück. So lange, dass selbst die Erinnerung an sie verblasst.
Nun sind ihm nur zwei Zimmer und die Männer, die ihm Essen bringen, geblieben. Männer, die nie ein Wort zu ihm sagen und seine ignorieren. Schweigen ist ein stiller Begleiter geworden.

Bis sie kam.
Suchend lässt er den Blick über die Erde schweifen.
Zwar stehen ihm Bücher und Schriften zur Verfügung, die ihm Gesellschaft leisten sollen, aber die, teilweise von ihm eigens verfassten Schriften können die Gesellschaft eines Menschen nicht ersetzen. Selbst wenn sie durch die Gitter getrennt ist und keine wirkliche Nähe ist. Selbst wenn sie am Boden steht, während er hier oben sitzt. So ist sie mehr, als er seit Ewigem gehofft hat. Sie, Sarina, ist seine Sonne, im dunkel seiner Nächte.
Einige Zeit lang besucht sie ihn mittlerweile schon und sie ist es, auf die er jetzt wartet.

Ein Huschen erregt seine Aufmerksamkeit.
Sarina. Sie muss es sein. Aufregung durchdringt die Lethargie, lässt das träge Herz gegen die Brust schlagen.
Ruhig liegt das Haus da, denn die Familie ist um diese Nachtzeit in ihren Betten.
Kein Laut ist zu hören, außer jenes, dass nur Sie sein kann. Ein Suchen in den Büschen. Ängstlich lauscht er auf andere Geräusche, doch das Haus bleibt still.
Dann, als er sich sicher ist, greift Julien zu der Lampe und blinkt zwei Mal mit dem Licht.
Mit stockendem Atem wartet er, ob es nicht ein Fehler war. Wartet, bis sie aus den Büschen tritt. Erst als er ihren Schatten erkennt, ist es ihm möglich, wieder zu atmen.
Sie ist es.
Fröhlich, wie sie ist, winkt sie zu ihm hinauf. Doch sie blickt sich um und verschwindet wieder in die Büsche.
Sein Herz stockt und will im nächsten Moment zerspringen.
Entsetzt springt er auf, umschlingt die Gitterstäbe mit einer Hand und streckt ihr die andere entgegen. Noch einmal lauscht er in das Haus, in die Nacht und kann doch nichts Falsches hören.
„Nein, bitte geh nicht,“ will er zu ihr schreien, doch ist die Gefahr zu groß gehört zu werden. So haucht er es nur in die Stille. „Wir sind alleine. Verlass mich nicht,“ fleht er sie, nur für ihn hörbar, an.
Einsamkeit umklammert sein Herz, zwingt es zur Regungslosigkeit, und breitet Kälte in ihn aus. Enttäuschung liegt drückend auf ihn, macht die Arme, Schultern schwer und drückt ihn nieder.
Wie konnte sie ihn nur verlassen? Weiß sie nicht, wie viel sie ihm bedeutet? Wie viel ihm die gemeinsame Zeit bedeutet, so kurz sie auch ist?
Trauer lässt ihn seinen Blick senken, als eine erneute Bewegung neue Hoffnung in ihm weckt.
Sie kommt zurück. Sie hat ihn doch nicht verlassen.
Doch schon im nächsten Augenblick wird seine Aufmerksamkeit von ihrer Gestalt abgelenkt. Wird gefangen genommen von etwas, das Sarina bei sich hat. Schwer atmend und mit großem Rumoren zerrt sie es hinter sich her. Verwirrt beobachtet er sie, unfähig zu erkennen, zu erahnen, was hier vor sich geht.
Erst das Mondlicht, nah am Hause, offenbart ihm, was sie macht.
Eine Leiter ist es, die sie über den Rasen, über den Weg und an das Haus zerrt.
Angespannt lauscht Julien. Versucht zu hören, ob jemand aufgewacht ist. Doch Sarina ist zu laut, zu ungestüm, um etwas anderes wahrnehmen zu können.
Verängstigt, der Lärm würde die Männer alarmieren, will er zur Tür hetzen. Doch wollen seine Finger ihm nicht gehorchen. Mit ganzer Kraft klammern sie sich an die Stäbe fest.
So bleibt ihm nur, zu beobachten und hoffen. Beobachten, wie sie die Leiter hebt und ungeschickt gegen die Mauer fallen lässt und zu hoffen, dass die Bewohner tief schlafen.
Klar halt der Ton, von Metall auf Stein, über den Garten hinweg. Wird nicht vom Wald verschlungen, sondern zurückgeworfen. Voller Angst verharren Beide, lauschen auf Geräusche, die verraten, was geschehen wird. Doch, als der Klang verhallt ist und nur noch in seinen Ohren existiert, bleibt alles still.
Sarina beginnt die Leiter zu erklimmen, als Julien noch ängstlich lauscht. Beschwingt, so angefüllt von Tatenddrang, ganz ihrem Wesen gleich, steigt sie empor zu ihm, bis ihr Kopf auf seiner Höhe ist.
Das erste Mal seit langem ist er jemandem so nah. Sein Herz stockt und scheint dann Purzelbäume zu schlagen. Fasziniert, betrachten sie einander für einen Augenblick.

„Hallo du,“ haucht sie ihm entgegen. Ein strahlendes Lächeln erscheint auf ihrem erhitztem Gesicht und für Julien geht die Sonne auf.
Nicht die Sonne, die ihm vor so langer Zeit genommen wurde, aber keinesfalls minder schön oder warm scheint sie ihm hier und jetzt.
Nur zögernd schafft er es ihren Gruß zu erwidern. „Hallo Sarina.“
Vorsichtig, um den Traum nicht zu zerstören, streckt er die rechte Hand aus. Kurz bevor er die Absperrung durchbricht, stockt er jedoch.
Sein Blick sucht den ihren und taucht ein in Freundlichkeit und Wärme. Bestärkt davon, wagt er es, durch den Spalt nach ihr zu greifen. Als er ihre Wange berührt, er seit ewiger Zeit wieder die Wärme eines Körpers spürt, beginnt seine Hand zu kribbeln. Sanft schmiegt Sarina sich in seine Hand, lässt sich scheinbar von ihm tragen. Ein sanfter Hauch nur zeigt seine nachlassende Anspannung an.
Doch muss er sich nicht daran erinnern, dass sie in Gefahr sind. Viel zu oft schon wurde er kontrolliert. Viel zu oft aus seiner Lethargie gerissen, als die Tür aufgestoßen wurde und sie nach ihm geschaut haben. Auch sie weiß es, hat er es ihr selbst erzählt. Mehr als einmal musste sie sich, auf sein Warnen hin, schnell in den Büschen verstecken.
Heute wird ihnen keine Warnung helfen.
Dennoch, als hätte die Berührung etwas in Gang gesetzt, breitet sich warmes Kribbeln über seinen Arm aus. Wandert langsam, so als wollte es den Weg genießen - oder Dämme einreisen - in Richtung Kopf.
„Du bist leichtsinnig,“ tadelt er sie voller Sehnsucht. „Es ist gefährlich. Wenn sie kommen, wo willst du Schutz finden?“ Seufzend, ohne den Blick zu unterbrechen, lässt sie ihren Kopf gegen die Stange sinken.
„Ich wollte dich endlich näher sehen. So oft bin ich her gekommen und nie konnte ich dich wirklich sehen. Konnte dich nie berühren. Heute wollte ich bei dir sein,“ gesteht sie ihm. „Sieh, ich hab dir etwas mitgebracht“
Verwirrt blickt er das Ding an, dass Sarina aus ihrem Rucksack geholt hat.

„Was ist das?“
Ihr Lächeln schwankt und etwas Trauriges huscht über ihr schönes Gesicht, als sie ihn beobachtet.
„Das ist eine Säge,“ erklärt sie ihm. Du kannst damit die Stäbe lösen.“ Als er sie weiterhin verwirrt ansieht, versucht sie, ihm zu erklären:„Es wird Zeit dauern, aber wenn du zwei lösen kannst, dann bist du frei. Dann kannst du so leben, wie du willst. Du kannst die Sonne wieder sehen, zur Schule gehen oder all die Orte sehen, die du gerne besuchen willst.“ Erzählt sie ihm begeistert von der eigenen Vorstellung.
Angesteckt von ihr, greift Julien nach der Säge, dreht sie in seiner Hand und weiß nichts damit anzufangen. Aufgeregt nimmt sie ihm die Säge wieder ab und hält sie an eines der Eisenstäbe.
„Hier, siehst du,“ vorsichtig macht sie einen Schnitt, um ihm zu zeigen, wie es geht. „Wenn du jede Nacht etwas sägst, bemerken sie es erst, wenn du schon lange nicht mehr hier bist. Verstehst du das?“
Neugierig betastet Julien die Wunde an seinem Gefängnis und das eigenartige Werkzeug. Denkt über ihre Worte nach und die Möglichkeiten, die sich ihm dadurch eröffnen würden.
„Aber, sie werden nach mir suchen,“ ist er sich sicher. „Sie werden mich nicht entkommen lassen.“ Traurig lässt er ab und blickt wieder zu ihr hoch.
„Julien,“ seufzt sie ebenso traurig, „Sie werden nichts machen können. Keiner weiß, dass es dich gibt. Sie haben es immer bestritten. Sie können nicht zur Polizei gehen.“ Erinnert sie ihn an die Male, die sie diese gerufen hat, und die doch wieder ohne ihn, gegangen sind. „Ich gebe dir Geld, damit wirst du mit dem nächsten Zug wegfahren. Sie werden dich nicht finden, vertrau mir.“ Wie gerne würde er das - aber die letzten Zweifel, die letzten Ängste kann sie nicht verjagen.
Vorsichtig ergreift sie seine Hand, gleitet sanft darüber, während ihr Blick sie fixiert.
„In einem halben Jahr bin ich fertig mit der Schule und folge dir. Gemeinsam,“ so muntert sie ihn auf, „werden wir das schaffen,“ und wischt die letzten Ängste fort.
„Ja, ich versuche es,“ verspricht er ihr. Ihr Lächeln, dass er erntet, scheint dem Kribbeln an stärke zu verleihen, es schneller voranzutreiben. Beginnt seinen Körper von unten aufzufüllen und ihn wohlig schaudern zu lassen.
„Das ist gut, du wirst sehen, es wird funktionieren,“ versichert sie ihm. Ihre Hand gleitet, sicherer als seine, durch die Stäbe und streift sachte seine Wange. Sehnsüchtig lässt er sich dagegen sinken. Will in ihre Wärme sinken, ganz von ihr umschlossen werden. Aber, da wandert die Hand weiter, streicht durch seine Haare, bis sie am Hinterkopf angekommen ist. Der Duft, der ihn umspielt, lässt ihn noch tiefer in die Berührung sinken. Lässt ihn noch mehr in die Entspannung, in das Wohlgefühl gleiten. Widerstandslos wird er von ihr nach vorne gezogen.
Zu ihrem strahlenden Lächeln, zu ihrem zarten Duft.
Als seine Stirn die Gitter berühren, legen sich ihre Lippen sanft auf seine und lassen seinen Atem stocken. Nur für einen Augenblick.
Das Kribbeln, dass schon fast sein Herz, seinen Verstand erreicht hat, explodiert in seinem Körper und lässt ihn handeln, bevor er denken kann.
Erst sein eigener Schrei, bringt ihm wieder die Kontrolle über sich.
Doch es ist zu spät.

Entsetzt kann er nur mit ansehen, wie Sarina zu Boden fällt. Sie zieht einen roten Faden hinter sich her, der aus zwei kleinen Wunden an ihrem Hals entspringt. Ihre Augen, vor kurzem so froh und voller Kraft, blicken nun glanzlos und fragend zu ihm hinauf.
Lichter gehen an und Lärm dröhnt wie Donner durch das Haus. Julien aber hat nur Augen für Sarina, die wie in Zeitlupe noch immer fällt und alles kommt zurück.
Seine Mutter, die für ihn gesorgt, sich um ihn gekümmert hat.
Mit ihr war er draußen in dem schönen Garten, unter der strahlenden Sonne. Mit ihr war er frei. Als die Zeit kam, da er ihrer Kontrolle entwachsen war, als er sich selbst gegen sie wendete, schloss sein Vater ihn hier ein.
Nicht einmal zu ihrer Beerdigung ließen sie ihn. Auch nicht zu Vaters, viele Jahre später wurde er gelassen.
Nun ist es wieder geschehen. Hier, in seiner Gefangenschaft. Er hat den einzigen Menschen getötet, der zu ihm stand. Der einzige Mensch, der ihm Nähe und Zuneigung entgegenbrachte.
Die Tür hinter ihm wird aufgerissen, Männer stürmen in sein Zimmer und greifen grob nach ihm. Sie zerren ihn mit sich, in sein Schlafzimmer. Widerstandslos - in seiner Trauer, seinem Schock gefangen - lässt sich Julien in den kleinen Raum stürzen, der seinen Schlaf vor der Sonne bewacht.
Als die Tür zu dem fensterlosen Raum geschlossen wird, weiß er, dass sie erst wieder geöffnet wird, wenn sie Essen bringen. Er weiß, dass die Männer, die männlichen Nachfahren seiner Geschwister, ihn erst wieder rauslassen werden, wenn sie es für richtig halten.
So, wie sie es schon seit Generationen machen.
Doch es ist ihm egal. Das Einzige, was ihn beschäftigt ist seine Tat.
Den entsetzten Blick in die Dunkelheit gerichtet, gleitet er die Wand hinunter. Mit jedem Schlag seines, von Sarinas Blut genährtem Herzen, driftet er mehr in die Verzweiflung. Lässt sich von ihr umarmen und trösten.
Das einzige, was ihm nun noch bleibt, sind seine Bücher und Schriften.
 
Hallo Helene

Dein Text gefällt mir im Wesentlichen, weil er sehr sinnlich geschrieben ist. Viele Formulierungen gefallen mir sehr. Bei anderen wiederrum finde ich, das da mehr rauszuholen ist. Für einen hochwertigen Text legt man jeden Satz auf die Goldwaage und entfernt sich von gewöhnlichen Formulierungen, wie z. B. "für Julian geht die Sonne auf", oder "viele Jahre später wurde er gelassen", "fröhlich, wie sie ist". Man kann das besser ausdrücken. Mit guter Wortwahl kämpft jeder Schriftsteller. Das macht dann den Zeitaufwand aus. Ich benutze deshalb häufig "anderes Wort.de".

Das Thema gefällt mir, weil es gut umgesetzt ist. Ich habe allerdings ein Weilchen gebraucht, um zu erkennen, warum Sarina von der Leiter fiel. "Zieht einen roten >Faden< hinter sich.." hat mich da eher verwirrt. Wahrscheinlich handelt es sich doch eher um pulsierendes Blut. Und ein Faden aus zwei Wunden? Ich finde, einiges in der Geschichte lässt sich noch besser darstellen. Aber sie hat mir gefallen.
 
Sehnsüchtig sieht der aus dem Fenster. Zum Mond hinauf, der die Nacht in düsteres Licht taucht.
Wie gerne würde er jetzt draußen sein und darin wandeln. Im kalten Schein baden, unter den Füßen nur das kühle Gras.
Doch kann er nicht.
Der Blick verlässt den Himmel, gleitet in die Tiefe, sucht den Garten, den er so sehnlich vermisst. Der Boden ist nah. Nur ein Stockwerk entfernt liegt die ersehnte Freiheit und ist unerreichbar fern.
Mit leisen Seufzen lehnt Julien den Kopf an die Eisenstangen. Sie sind es, die ihn von der Außenwelt trennen. Die ihn nur einen Ausschnitt von dem zeigen, was er ersehend.
Gerade hat er gegessen und sitzt, wie jeden Abend, hier. Sehnt sich nach der Welt, die er nie mehr betreten darf. Die Familie wird ihn nie wieder aus diesen Räumen lassen, das ist ihm bewusst.
Erinnerungen steigen hoch. Erinnerungen an Tage im Garten unter einem strahlenden Himmel. Tage voller Fröhlichkeit, Geborgenheit und Freiheit. Doch liegen sie schon lange zurück. So lange, dass selbst die Erinnerung an sie verblasst.
Nun sind ihm nur zwei Zimmer und die Männer, die ihm Essen bringen, geblieben. Männer, die nie ein Wort zu ihm sagen und seine ignorieren. Schweigen ist ein stiller Begleiter geworden.

Bis sie kam.
Suchend lässt er den Blick über die Erde schweifen.
Zwar stehen ihm Bücher und Schriften zur Verfügung, die ihm Gesellschaft leisten sollen, aber die, teilweise von ihm eigens verfassten Schriften können die Gesellschaft eines Menschen nicht ersetzen. Selbst wenn sie durch die Gitter getrennt ist und keine wirkliche Nähe ist. Selbst wenn sie am Boden steht, während er hier oben sitzt. So ist sie mehr, als er seit Ewigem gehofft hat. Sie, Sarina, ist seine Sonne, im dunkel seiner Nächte.
Einige Zeit lang besucht sie ihn mittlerweile schon und sie ist es, auf die er jetzt wartet.

Ein Huschen erregt seine Aufmerksamkeit.
Sarina. Sie muss es sein. Aufregung durchdringt die Lethargie, lässt das träge Herz gegen die Brust schlagen.
Ruhig liegt das Haus da, denn die Familie ist um diese Nachtzeit in ihren Betten.
Kein Laut ist zu hören, außer jenes, dass nur Sie sein kann. Ein Suchen in den Büschen. Ängstlich lauscht er auf andere Geräusche, doch das Haus bleibt still.
Dann, als er sich sicher ist, greift Julien zu der Lampe und blinkt zwei Mal mit dem Licht.
Mit stockendem Atem wartet er, ob es nicht ein Fehler war. Wartet, bis sie aus den Büschen tritt. Erst als er ihren Schatten erkennt, ist es ihm möglich, wieder zu atmen.
Sie ist es.
Fröhlich, ganz ihrem Wesen gleich, winkt sie zu ihm hinauf. Doch sie blickt sich um und verschwindet wieder in die Büsche.
Sein Herz stockt und will im nächsten Moment zerspringen.
Entsetzt springt er auf, umschlingt die Gitterstäbe mit einer Hand und streckt ihr die andere entgegen. Noch einmal lauscht er in das Haus, in die Nacht und kann doch nichts Falsches hören.
„Nein, bitte geh nicht,“ will er zu ihr schreien, doch ist die Gefahr zu groß gehört zu werden. So haucht er es nur in die Stille. „Wir sind alleine. Verlass mich nicht,“ fleht er sie, nur für ihn hörbar, an.
Einsamkeit umklammert sein Herz, zwingt es zur Regungslosigkeit, und breitet Kälte in ihn aus. Enttäuschung liegt drückend auf ihn, macht die Arme, Schultern schwer und drückt ihn nieder.
Wie konnte sie ihn nur verlassen? Weiß sie nicht, wie viel sie ihm bedeutet? Wie viel ihm die gemeinsame Zeit bedeutet, so kurz sie auch ist?
Trauer lässt ihn seinen Blick senken, als eine erneute Bewegung neue Hoffnung in ihm weckt.
Sie kommt zurück. Sie hat ihn doch nicht verlassen.
Doch schon im nächsten Augenblick wird seine Aufmerksamkeit von ihrer Gestalt abgelenkt. Wird gefangen genommen von etwas, das Sarina bei sich hat. Schwer atmend und mit großem Rumoren zerrt sie es hinter sich her. Verwirrt beobachtet er sie, unfähig zu erkennen, zu erahnen, was hier vor sich geht.
Erst das Mondlicht, nah am Hause, offenbart ihm, was sie macht.
Eine Leiter ist es, die sie über den Rasen, über den Weg und an das Haus zerrt.
Angespannt lauscht Julien. Versucht zu hören, ob jemand aufgewacht ist. Doch Sarina ist zu laut, zu ungestüm, um etwas anderes wahrnehmen zu können.
Verängstigt, der Lärm würde die Männer alarmieren, will er zur Tür hetzen. Doch wollen seine Finger ihm nicht gehorchen. Mit ganzer Kraft klammern sie sich an die Stäbe fest.
So bleibt ihm nur, zu beobachten und hoffen. Beobachten, wie sie die Leiter hebt und ungeschickt gegen die Mauer fallen lässt und zu hoffen, dass die Bewohner tief schlafen.
Klar halt der Ton, von Metall auf Stein, über den Garten hinweg. Wird nicht vom Wald verschlungen, sondern zurückgeworfen. Voller Angst verharren Beide, lauschen auf Geräusche, die verraten, was geschehen wird. Doch, als der Klang verhallt ist und nur noch in seinen Ohren existiert, bleibt alles still.
Sarina beginnt die Leiter zu erklimmen, als Julien noch ängstlich lauscht. Beschwingt, so angefüllt von Tatenddrang, ganz ihrem Wesen gleich, steigt sie empor zu ihm, bis ihr Kopf auf seiner Höhe ist.
Das erste Mal seit langem ist er jemandem so nah. Sein Herz stockt und scheint dann Purzelbäume zu schlagen. Fasziniert, betrachten sie einander für einen Augenblick.

„Hallo du,“ haucht sie ihm entgegen. Das Lächeln, das ihr Gesicht erstrahlen lässt, berührt Juliens inneres. So lange schon ist es her, dass ihm die Sonne genommen wurde. Doch jetzt ist er sich sicher, sie wiedergewonnen zu haben.
Nur zögernd schafft er es, ihren Gruß zu erwidern. „Hallo Sarina.“
Vorsichtig, um den Traum nicht zu zerstören, streckt er die rechte Hand aus. Kurz bevor er die Absperrung durchbricht, stockt er jedoch.
Sein Blick sucht den ihren und taucht ein in Freundlichkeit und Wärme. Bestärkt davon, wagt er es, durch den Spalt nach ihr zu greifen. Als er ihre Wange berührt, er seit ewiger Zeit wieder die Wärme eines Körpers spürt, beginnt seine Hand zu kribbeln. Sanft schmiegt Sarina sich in seine Hand, lässt sich scheinbar von ihm tragen. Ein sanfter Hauch nur zeigt seine nachlassende Anspannung an.
Doch muss er sich nicht daran erinnern, dass sie in Gefahr sind. Viel zu oft schon wurde er kontrolliert. Viel zu oft aus seiner Lethargie gerissen, als die Tür aufgestoßen wurde und sie nach ihm geschaut haben. Auch sie weiß es, hat er es ihr selbst erzählt. Mehr als einmal musste sie sich, auf sein Warnen hin, schnell in den Büschen verstecken.
Heute wird ihnen keine Warnung helfen.
Dennoch, als hätte die Berührung etwas in Gang gesetzt, breitet sich warmes Kribbeln über seinen Arm aus. Wandert langsam, so als wollte es den Weg genießen - oder Dämme einreisen - in Richtung Kopf.
„Du bist leichtsinnig,“ tadelt er sie voller Sehnsucht. „Es ist gefährlich. Wenn sie kommen, wo willst du Schutz finden?“ Seufzend, ohne den Blick zu unterbrechen, lässt sie ihren Kopf gegen die Stange sinken.
„Ich wollte dich endlich näher sehen. So oft bin ich her gekommen und nie konnte ich dich wirklich sehen. Konnte dich nie berühren. Heute wollte ich bei dir sein,“ gesteht sie ihm. „Sieh, ich hab dir etwas mitgebracht.“
Verwirrt blickt er das Ding an, dass Sarina aus ihrem Rucksack geholt hat.

„Was ist das?“
Ihr Lächeln schwankt und etwas Trauriges huscht über ihr schönes Gesicht, als sie ihn beobachtet.
„Das ist eine Säge,“ erklärt sie ihm. Du kannst damit die Stäbe lösen.“ Als er sie weiterhin verwirrt ansieht, versucht sie, ihm zu erklären:„Es wird Zeit dauern, aber wenn du zwei lösen kannst, dann bist du frei. Dann kannst du so leben, wie du willst. Du kannst die Sonne wieder sehen, zur Schule gehen oder all die Orte sehen, die du gerne besuchen willst.“ Erzählt sie ihm begeistert von der eigenen Vorstellung.
Angesteckt von ihr, greift Julien nach der Säge, dreht sie in seiner Hand und weiß nichts damit anzufangen. Aufgeregt nimmt sie ihm die Säge wieder ab und hält sie an eines der Eisenstäbe.
„Hier, siehst du,“ vorsichtig macht sie einen Schnitt, um ihm zu zeigen, wie es geht. „Wenn du jede Nacht etwas sägst, bemerken sie es erst, wenn du schon lange nicht mehr hier bist. Verstehst du das?“
Neugierig betastet Julien die Wunde an seinem Gefängnis und das eigenartige Werkzeug. Denkt über ihre Worte nach und die Möglichkeiten, die sich ihm dadurch eröffnen würden.
„Aber, sie werden nach mir suchen,“ ist er sich sicher. „Sie werden mich nicht entkommen lassen.“ Traurig lässt er ab und blickt wieder zu ihr hoch.
„Julien,“ seufzt sie ebenso traurig, „Sie werden nichts machen können. Keiner weiß, dass es dich gibt. Sie haben es immer bestritten. Sie können nicht zur Polizei gehen.“ Erinnert sie ihn an die Male, die sie diese gerufen hat, und die doch wieder ohne ihn, gegangen sind. „Ich gebe dir Geld, damit wirst du mit dem nächsten Zug wegfahren. Sie werden dich nicht finden, vertrau mir.“ Wie gerne würde er das - aber die letzten Zweifel, die letzten Ängste kann sie nicht verjagen.
Vorsichtig ergreift sie seine Hand, gleitet sanft darüber, während ihr Blick sie fixiert.
„In einem halben Jahr bin ich fertig mit der Schule und folge dir. Gemeinsam,“ so muntert sie ihn auf, „werden wir das schaffen,“ und wischt die letzten Ängste fort.
„Ja, ich versuche es,“ verspricht er ihr. Ihr Lächeln, dass er erntet, scheint dem Kribbeln an stärke zu verleihen, es schneller voranzutreiben. Beginnt seinen Körper von unten aufzufüllen und ihn wohlig schaudern zu lassen.
„Das ist gut, du wirst sehen, es wird funktionieren,“ versichert sie ihm. Ihre Hand gleitet, sicherer als seine, durch die Stäbe und streift sachte seine Wange. Sehnsüchtig lässt er sich dagegen sinken. Will in ihre Wärme sinken, ganz von ihr umschlossen werden. Aber, da wandert die Hand weiter, streicht durch seine Haare, bis sie am Hinterkopf angekommen ist. Der Duft, der ihn umspielt, lässt ihn noch tiefer in die Berührung sinken. Lässt ihn noch mehr in die Entspannung, in das Wohlgefühl gleiten. Widerstandslos wird er von ihr nach vorne gezogen.
Zu ihrem strahlenden Lächeln, zu ihrem zarten Duft.
Als seine Stirn die Gitter berühren, legen sich ihre Lippen sanft auf seine und lassen seinen Atem stocken. Nur für einen Augenblick.
Das Kribbeln, dass schon fast sein Herz, seinen Verstand erreicht hat, explodiert in seinem Körper und lässt ihn handeln, bevor er denken kann.
Erst sein eigener Schrei, bringt ihm wieder die Kontrolle über sich.
Doch es ist zu spät.

Entsetzt kann er nur mit ansehen, wie Sarina zu Boden fällt. Sie zieht einen roten Faden hinter sich her, der aus zwei kleinen Wunden an ihrem Hals entspringt. Ihre Augen, vor kurzem so froh und voller Kraft, blicken nun glanzlos und fragend zu ihm hinauf.
Lichter gehen an und Lärm dröhnt wie Donner durch das Haus. Julien aber hat nur Augen für Sarina, die wie in Zeitlupe noch immer fällt und alles kommt zurück.
Seine Mutter, die für ihn gesorgt, sich um ihn gekümmert hat.
Mit ihr war er draußen in dem schönen Garten, unter der strahlenden Sonne. Mit ihr war er frei. Als die Zeit kam, da er ihrer Kontrolle entwachsen war, als er sich selbst gegen sie wendete, schloss sein Vater ihn hier ein.
Nicht einmal zu ihrer Beerdigung ließen sie ihn. Auch nicht zu Vaters, in einem anderen Leben, so kurz danach und doch so lange her, durfte er gehen.
Nun ist es wieder geschehen. Hier, in seiner Gefangenschaft. Er hat den einzigen Menschen getötet, der zu ihm stand. Der einzige Mensch, der ihm Nähe und Zuneigung entgegenbrachte.
Die Tür hinter ihm wird aufgerissen, Männer stürmen in sein Zimmer und greifen grob nach ihm. Sie zerren ihn mit sich, in sein Schlafzimmer. Widerstandslos - in seiner Trauer, seinem Schock gefangen - lässt sich Julien in den kleinen Raum stürzen, der seinen Schlaf vor der Sonne bewacht.
Als die Tür zu dem fensterlosen Raum geschlossen wird, weiß er, dass sie erst wieder geöffnet wird, wenn sie Essen bringen. Er weiß, dass die Männer, die männlichen Nachfahren seiner Geschwister, ihn erst wieder rauslassen werden, wenn sie es für richtig halten.
So, wie sie es schon seit Generationen machen.
Doch es ist ihm egal. Das Einzige, was ihn beschäftigt ist seine Tat.
Den entsetzten Blick in die Dunkelheit gerichtet, gleitet er die Wand hinunter. Mit jedem Schlag seines, von Sarinas Blut genährtem Herzen, driftet er mehr in die Verzweiflung. Lässt sich von ihr umarmen und trösten.
Das einzige, was ihm nun noch bleibt, sind seine Bücher und Schriften.
 
Hallo Norbert,

danke für dein Kommentar und deine konstruktive Rückmeldung.

Für einen hochwertigen Text legt man jeden Satz auf die Goldwaage und entfernt sich von gewöhnlichen Formulierungen, wie z. B. "für Julian geht die Sonne auf", oder "viele Jahre später wurde er gelassen", "fröhlich, wie sie ist". Man kann das besser ausdrücken. Mit guter Wortwahl kämpft jeder Schriftsteller. Das macht dann den Zeitaufwand aus. Ich benutze deshalb häufig "anderes Wort.de".
Oja, das hab ich auch bemerkt. Man mag es nicht merken, aber ich hab den Text vor mehr als 5 Jahr (ich kann nicht mehr genau sagen wann) geschrieben. Ich habe ihn immer wieder hervor geholt, überarbeitet und war dennoch nicht wirklich zufrieden.

Die Seite "anderes Wort.de" kannte ich noch nicht. Dennoch habe ich auch schon selber immer wieder im Netz nach anderen Worten gesucht. Meist habe ich dann "Synonyme" eingegeben und einige Seiten durchsucht. Andererseits, seit ich mit Papyrus Autor arbeite, nutze ich auch sehr gerne die Integrierte Funktion. Leider ist diese nicht immer ausreichend.

Ich habe versucht den Text zu verbessern.
Jedoch, den Teil mit dem Blutfaden, fand ich recht schön. Auch, dass man darüber nachdenken muss, was es ist. Hoffe den Leser damit etwas in Juliens Situation zu bringen, der in diesem Moment ja auch nicht weiß, was geschehen ist.
 

Kaso

Mitglied
Liebe Helene,
Deine Geschichte finde ich wirklich gelungen, sehr sehr schön. Freue mich darauf, mehr von dir zu lesen. LG Kaso
 



 
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