Gegen die Natur

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Gegen die Natur

Eines Tages entdeckte Simön eine neue Farbe. Nun ja, „entdeckte“ ist das falsche Wort. Die Farbe war schon immer da gewesen, in seinem Kopf. Nur in der Realität hatte es sie nie gegeben.
Simön war nämlich Synästhetiker. Er hatte die seltene Gabe, bei Buchstaben eine dazugehörige Farbe zu sehen. Bei einem „H“ sah er Braun, bei einem „S“ Gelb und bei einem „M“, nun, bei einem „M“ sah er eine Farbe, die es in der Welt nicht gibt. Zumindest nicht in der Welt, die wir uns teilen.
Simön entdeckte die Farbe an dem Tag, an dem er lesen lernte. Die Lehrerin hatte das „H“, das bekanntlich braun ist, mit roter Kreide an die Tafel gemalt.
Simön war verwirrt. Seine Augen sahen ein rotes „H“, aber irgendetwas in seinem Kopf fügte es in ein braunes „H“ um.
„Das sieht falsch aus,“ hatte Simön sich beschwert, „hast du denn nicht die richtige Farbe?“
Seine Klassenkameraden, für die Buchstaben nur die Farben haben, in denen sie geschrieben sind, hatten ihn ausgelacht und so sprach er nie wieder mit jemandem über die für ihn normale Zuordnung.
Je älter Simön wurde, desto mehr hielt er sich für verrückt. Zum Glück gibt es die Kunst, einen Zufluchtsort für Verrückte. Simön wurde Maler.
Die meisten Farben, die er bei Buchstaben sah, konnte er auch malen. Nur das „orangene Blau“, das er mit dem Buchstaben „M“ verband, konnte er nicht malen. Denn in der geteilten Welt gab es diese Farbe nicht. Jahrmillionen hatte es sie vielleicht nicht gegeben. Was sehr schade war. Denn immer wenn Simön traurig war, schrieb er ein M und sah das orangene Blau und die Farbe machte ihn unendlich glücklich. Sie hatte eine geradezu beruhigende, pazifistische und aufmunternde Wirkung auf ihn.

Eines Tages kam der Traummaler auf den Weltmarkt. Traummaler sind Geräte, die nachts die Träume aufzeichnen.
Als Simön davon hörte, wusste er, dass er einen davon brauchte.
Also ging er in einen Laden. Dort fragte er den Verkäufer: „Kann dieser Maler auch Visionen aufzeichnen?“
Der Verkäufer guckte ratlos, also erklärte Simön ihm die Situation.
Der Verkäufer sah ihn an und sagte dann: „Ach so, Sie haben Synästhesie. Sagen Sie das doch gleich.“
Doch das Letzte hörte Simön nicht mehr.
Er suchte im Internet nach Synästhesie und lernte vieles darüber. Von Leuten, die Musik sehen konnten. Oder bei denen Zahlen Persönlichkeiten hatten. Oder bei denen ein Türschlagen nach Kaffee schmeckte.
Aber am besten gefiel ihm eine Tatsache, dass er nicht verrückt war.
Er holte sich den Traummaler und malte überall Ms hin. Er sah zwar das Grau des Bleistifts und das Blau des Füllers, doch in seinem Gehirn sah er nur ein orangenes Blau. Und der Traummaler malte das M in orangenem Blau.
Er postete das Bild im Internet; zuerst sahen es nur ein paar Dutzend Leute und diese paar Dutzend Leute waren anfangs verwirrt. Doch dann ging es ihnen besser und immer besser.
Eines Tages gelang das Bild zu Schalgu. Auch Schalgu sah das Bild und war verwirrt. Dann sah er neben seinem Laptop eine Fliege. Nichts hasste er mehr als Fliegen, kleine, nervige, laut summende Fliegen.
Also holte er sich eine Fliegenklatsche.
Urplötzlich liebte er jedoch das kleine Insekt, das wunderschöne, lieb summende Insekt.
Schalgu war noch verwirrter. Doch nachdem er eine Nacht darüber geschlafen hatte, fiel ihm ein, dass dies vielleicht an der neuen Farbe liegen könnte. Er konnte niemandem mehr etwas zuleide tun.
Normalerweise schlug er seine Tochter, wenn sie erst früh am Morgen nach Hause kam. Doch an jenem Morgen war er auch nett zu ihr.
Nachdem die „pazifizierende“ Wirkung von orangenem Blau festgestellt war, wurde die Farbe um die Welt getragen. Jeder, der sie sah, wurde Pazifist und fast wäre ein Goldenes Zeitalter angebrochen.
Warum nur fast?
Nun, ich habe dir diese Geschichte erzählt, weil du mich fragtest, warum heutzutage so viele Leute blind sind. Jetzt weißt du es: würden sie das orangene Blau sehen, würden sie sofort friedliebend werden. Und manche Menschen sind lieber blind als friedliebend. Es ist gegen ihre Natur.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Paul Quaintrell, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Ungewöhnliche Geschichte mit klarer Botschaft. Habe ich gerne gelesen!


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 
G

Gelöschtes Mitglied 18005

Gast
Ich bin begeistert von deiner Geschichte! Ich finde sie wirklich gelungen.
Synästhesie fasziniert mich so sehr. Ich habe auch schon sehr viel darüber nachgedacht. Deshalb habe ich mich gefreut, als ich in den ersten Zeilen gelesen habe, worüber es geht, ich habe gleich gespannt weitergelesen.

Auch dieser Traummaler ist eine geniale Idee. Die eigenen Träume niederzumalen: wie gut wäre das denn?

Grundsätzlich finde ich deine Motive höchst interessant und faszinierend: Subjektivität der Wahrnehmungen, Träume und inneren Welt.

Auf mich hatte das Ende eine krasse Wirkung, da hatte ich nur noch Gänsehaut. Mir ist da sofort in den Kopf geschossen, dass sich Menschen anfangen die Augen auszustechen, nur damit sie nicht friedliebend sein müssen.
 
Hallo Etma,

vielen Dank für Deinen Kommentar.
Da ich selber Synästhetiker bin (die Farben im Text sind tatsächlich "meine" Farben), wollte ich dies unbedingt mal teilen :p
Dass es keine Traummaler gibt ist wirklich ziemlich schade... aber wer weiß, was die Zukunft bringt :D
 

steyrer

Mitglied
Ein paar Anmerkungen

Die Frage, warum viele Leute blind sind, gehört meiner Meinung nach an den Anfang der Geschichte, damit am Schluss daran angeknüpft werden kann. Auch der Wechsel der Erzählperspektive würde so verständlicher. Kurz: Es sollte immer klar sein, dass hier jemand seinem Gegenüber eine Geschichte erzählt.

Ein Traummaler auf dem Weltmarkt? Das Ganze sollte besser in einer Zukunft spielen, in der das eben der Fall ist.

Kleinigkeiten:

Simön? Ist das ein Nachname oder ist damit eher der Vorname Simon gemeint?

Orangenes Blau? Nun, wenn schon, dann eher orangefarbiges Blau oder Blau mit einem Spiel ins Orange.

Schöne Grüße
steyrer
 
Hallo Paul,

ansich mag ich deine Geschichte. Allerdings stören mich zwei Dinge gewaltig. Allen voran das Ende. Ich finde es schon fast moralisierend, das gefällt mir nicht. Am Anfang wäre es sicherlich besser, aber überleg dir doch, ob du es ganz streichen willst?
Ein Ende welches mit Simon zusammenhängt empfände ich als abschließender und runder. Auch fände ich eine genauere Beschreibung des Farbtones sehr hilfreich.

Ich kannte diese Besonderheit Simons nicht. Ich finde es interessant darüber etwas zu erfahren, aber etwas mehr Geschichte und Handlung hätte es schon sein dürfen. Das ganze liest sich für mich wie ein Bericht. Versuch doch eine Geschichte darum zu basteln, was macht der Simon so? Gibt es Schwierigkeiten? Findet er andere Synästhetiker? etc ... ich glaube da ist viel herauszuholen, weil es ein besonderes, einzigartiges Thema ist. Die Idee hat mir also sehr gut gefallen, die Umsetzung mit Abstrichen nur. Ich hoffe, du kannst meinen Standpunkt nachvollziehen!

Grüße von einem Anti-Synästhetiker(gibt es das? Ich sehe nämlich NICHTS in meinem Gehirn, weder Farben, Formen oder ähnliches.)

Sonne
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Paul Quaintrell,

das ist eine wirklich zauberhafte Geschichte und sie entwickelt sich so schön gemächlich, um dann mit Macht herauszukommen.
Ich finde es gut, dass man quasi wie durch ein fein verästeltes Flußdelta schwimmt und auf einmal das Meer sieht.
Da am Anfang dieser weite Blick noch nicht abzusehen ist, scheint mir hier das "pazifistische" wie ein Fremdkörper

Sie hatte eine geradezu beruhigende, pazifistische und aufmunternde Wirkung auf ihn.
ja, das Wort erscheint hier wie eine Doppelung des "beruhigende".

Mann könnte das "pazifistische" weglassen, oder nur 'befriedendes und aufmunterndes' benennen. Drei Adjektiva erscheinen mir sowieso zu viel.
Das gilt natürlich für den Zusammenhang, dass man erst ausgehend von einer persönlichen Geschichte überraschend in eine andere Dimension 'gebeamt' wird.
Am Ende der Geschichte meinte ich, eine Idee von "orangenem Blau" bekommen zu haben.
Tatsächlich gibt es in Südfrankreich so ein sonnendurchglühtes Gelb und so ein eigentümlich intensives Blau in traditionellen Stoffen und bei Steingutlasuren, die so unglaublich gut zusammen harmonieren, dass sie eine neue Farbe zu bilden scheinen - nicht Grün wie beim Mischen, sondern eine gegenseitige Intensivierung. Vielleicht ist das ja ein Anfang.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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