Gehe nicht über Los

JCC

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Gehe nicht über Los




„Gott würfelt.“
Altes chinesisches Sprichwort




Manchmal benimmt sich das Leben wirklich krank.
Vermutlich war Alma diese Tatsache, wie den meisten von uns, schon früher einmal über den Weg gelaufen, aber so richtig schenkte sie ihr erst dann Aufmerksamkeit, als sie eines Tages in einer Schublade erwachte.
Was tut man in so einem Fall?
Wer der Typ für so etwas ist, wird vermutlich einen empörten Fluch nicht unterdrücken können.
Alma war der Typ für so etwas; doch als ihre Stimme blechern und höhnisch von den Metallwänden aus der Dunkelheit wiederhallte, beschloß sie, zumindest so lange den Mund zu halten, bis sie sich aus der Finsternis befreit hatte. Es war aber durchaus nicht abzusehen, wie und wann das sein sollte, denn der Konstrukteur ihres derzeitigen Behältnisses schien an Ausgängen gespart zu haben.
Mit den Händen tastete sie die glatten, kalten Seitenwände ab, so weit ihre Arme in der engen Kiste reichten. Ihre nackten Füßte stießen ebenfalls an eine glatte Fläche. Sie drückte ihre Knie gegen die Fläche über ihr. Nichts bewegte sich. In wachsender Verzweiflung preßte sie auch mit den Händen dagegen, erreichte aber nur, daß sich das Metall unter ihrem Rücken um eine Winzigkeit bog.
Enttäuscht ließ sie sich zurückfallen und wollte sich gerade der völligen Mutlosigkeit überlassen, als ih, etwas verspätet, aber dafür nicht weniger hell, ein Licht aufging. Wenn sich der Boden unter ihr durchbog, dann hing diese Kiste sozusagen in der Luft. Zwischen den Seitenwänden und dem Boden fanden ihre Finger Spalten. Probeweise versuchte sie, ihre Unterlage in verschiedene Richtungen zu bewegen. Als sie schließlich nach längerem Herumgerutsche mit den Füßen einigermaßen schwungvoll gegen das Fußende stieß, fiel ein breiter Lichtstreifen in ihr Gefängnis.
Eine Schublade!
Sie krümmte sich zusammen und stieß sich ein zweites Mal, jetzt mit aller Kraft, ab, so daß sie wieder gegen das Fußende rutschte. Die Schublade machte einen großen Satz ins Freie, stieß offenbar an ihre Grenze und prallte hart zurück. Alma fuhr hoch und knallte mit dem Kopf an die Kante über ihr. Ihr war nicht ganz klar, ob der summende Ton daraufhin dem Metall oder ihrem Kopf entsprang, deswegen setzte sie sich ganz vorsichtig auf und blickte sich benommen um.


Sie befand sich in einer großen Halle. An drei Wänden sah sie die Fronten der Kisten, so wie die, die sie gerade aufgestoßen hatte. Das Nachdenken darüber, wer oder was sich wohl in all den anderen Behältnissen befinden mochte, verursachte ihr nicht nur ein unangenehmes Gefühl in der Kehle, sondern auch den Wunsch, diese Halle mit dem kalten Neonlicht und den zweifelhaften Zimmergenossen so schnell wie möglich hinter sich zu lassen.
Sie sprang auf die Füße.
In der vierten Wand befand sich eine Glastür, die in ein freundliches, cremefarbenes Büro führte. Sie ging um eine Liege herum, die in der Mitte der Halle stand und drückte die Klinke der Glastür hinunter. Die Tür ließ sich öffnen, und sie trat ein.


Das Büro war leer. Eine weitere Glastür ließ sie in einen langen Korridor blicken, ihr gegenüber befand sich eine große Holztür. Sie öffnete die Holztür und gleich pustete ihr ein kräftiger, warmer Frühlingswind ins Gesicht. Sie blinzelte in die Sonne, schloß die Tür hinter sich und blickte dann an sich herunter. Sie trug ein weißes, knielanges Hemd mit langen Ärmeln, an dem der Wind zerrte. Unter ihren nackten Füßen fühlte sie das rauhe Pflaster des Bürgersteigs. Schön, die Leute würden ein bißchen dumm gucken, wenn sie so durch die Straßen lief, aber ihre Situation könne nur besser werden. Beziehungsweise... einleuchtender - wenn man bedachte, wo sie gerade herkam.
Sie starrte einen Moment ins Leere und versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Aber an was überhaupt?
Fangen wir klein an, sagte sie sich, und erinnerte sich an ihren Namen. Das klappte so hervorragend, daß sie sich gleich noch ein zweites und ein drittes Mal an ihn erinnerte, schließlich konnte sie für die Dinge, die vor ihr lagen, ein wenig Motivation gebrauchen.
Ebenso erfolgreich erinnerte sie sich an ihre Adresse und an die Tatsache, daß sie ihre Schlüssel in der Jackentasche zu tragen pflegte. Der Aufenthaltsort ihrer Jackentasche enthüllte sich ihr vorerst nicht.
Während sie so vor der Tür in der Sonne stand und ihre Gedanken probeweise hierhin und dorthin schweifen ließ, fragte sich sich außerdem beiläufig, wieso sie sich vom Gebäude entfernen sollte, statt nach einem hilfreichen Menschen zu suchen.
Sie kam zu dem Ergebnis, daß Leute, die sie in einem unkleidsamen weißen Sack mit Ärmeln steckten und sie dann in eine Schublade sperrten, ihr im Großen und Ganzen wohl nichts Gutes wollten.
Dann beschloß sie, sich auf den Weg zu machen nach - ja, das galt es, herauszufinden.
Die Straße, auf der sie stand, war ihr unbekannt. Nicht ganz fremd vielleicht, aber die wenigsten Straßenzüge sind so einmalig, daß die einen völlig fremdartigen Anblick bieten.
Sie hatte zwar keinen Wohnungsschlüssel, aber sie beschloß, erst einmal eine vertrautere Gegend aufzusuchen.


Während sie lief, klärte sich der Pool ihrer Gedanken weiter. Die Unreinheiten und Trübungen sanken langsam, sehr langsam zu Boden, und die Wellen begannen sich zu legen.
Sich zu fragen, ob die ganze Sache mit ein paar mehr Gramm Chlor völlig anderes verlaufen wäre, hieße aber, den Vergleich überzustrapazieren - und wir möchten bitte auch nicht die Qualifikation des Bademeisters anzweifeln. Es sind schon Menschen mit sehr viel schlechteren Bademeistern als dem der soeben Erwachten zu hohem Ansehen gelangt.


Das vorerst einzige Resultat dieser Klärung bestand jedenfalls darin, daß Alma, ohne zu wissen, warum, eine gewisse Abneigung dagegen entwickelte, in ihr heimisches Viertel zurückzukehren. Da sie außerdem ohnehin nicht wußte, wo sie sich eigentlich befand, folgte sie der Straße bis zu ihrem Ende, fand sich auf einem Platz mit einem Springbrunnen in der Mitte wieder und setzte sich auf dessen Beckenrand. Einige Spaziergänger saßen auf den Bänken am Rand des Platzes, und ein kleines Mädchen, das soeben vom Schoß seiner Mutter geklettert war, schmiß voller Wut seinen Schnuller, der sich zweifellos eines schweren Verbrechens schuldig gemacht hatte, in den Brunnen.
Alma fischte ihn heraus und gab ihn dem kleinen Mädchen zurück, das sie halb erbost und halb erstaunt anguckte. Damit schubste sie zum ersten Mal an diesem Tag eine Kausalkette an, die auch aus der Ferne halbwegs wahrnehmbar war.
Kurze Zeit später, als die Kreise dieser Tat bei der Mutter des Mädchens, bei der dummen, einsamen Möwe, die beim Brunnen vergebens auf Fische wartete, und beim Würstchenverkäufer, der neben dem Platz stand, angekommen waren, konnte man im Himmel (oder war es die Hölle?) jemanden laut und vernehmlich fluchen hören.


Alma saß währenddessen immer noch auf dem Brunnenrand und war unentschlossen. Ihre Abneigung gegen die Idee, nach Hause zu gehen, hatte sich noch verstärkt, aber andererseits, was sollte sie sonst tun? Hier herumsitzen, bis es dunkel wurde? Zur Polizei gehen und letzten Endes doch nur nach Hause geschickt werden, oder womöglich sogar dahin, wo sie hergekommen war?
Neben dem Platz war eine Bushaltestelle. Sie stand auf und ging zu dem Häuschen, in dem eine Bank stand und an dessen Wand ein Stadtplan hing. Sie fand die Straße, auf der sie sich gerade aufhielt, und prägte sich den Weg nach Hause gut ein. Dann lief sie los.


MIt der Zeit kam ihr die Gegend zunehmend bekannter vor. Ein Dackel sprang hinter einem Gartentor herum und kläffte sie an. Sie blieb stehen und ihr Blick blieb an dem Hund hängen.
Ihr Hund? Nein, aber sie hatte ein deutliches Bild von einer feuchten Schnauze und zwei braunen Schlappohren vor sich. Es kam ihr vor wie ein vertrautes Gesicht, das man auf der Straße sieht, aber dann doch nicht einordnen kann.
Erinnerte sie sich an ihren Hund? An den eines Nachbarn? Womöglich an einen, den sie früher mal gekannt hatte?
Sie setzte ihren Weg fort.




„Du hast gemogelt!“, rief dort oben eine Stimme, unhörbar für die Menschen.
„Hab ich nicht!“, antwortete eine andere.
„Wohl!“
„Nein, es war keine Absicht! Ich hab sie aus Versehen umgeschubst, da ist sie zwei Felder weitergerutscht...“
„So ein Mist! Du bringst die ganze Partie durcheinander! Hast Du wenigstens ihren Hund aus dem Spiel genommen?“
„Ja ja.“




Plötzlich erinnerte sie sich an ein Frühstück. Sie nahm an, daß es das letzte Frühstück in ihrer Wohnung gewesen war, bevor das hier passierte, denn normalerweise fielen ihr keine Frühstücke nach dem Zufallsprinzip ein.
Sie hatte auf dem Gasherd einen Topf Wasser für das Frühstücksei zum Kochen gebracht und sich dann entschieden, die Zeitung holen zu gehen. Was danach war, hatte sie, wie wäre es auch anders zu erwarten gewesen, vergessen.
Und sie hatte das quälende Gefühl, noch etwas anderes, wirklich wichtiges vergessen zu haben. Was hatte sie nicht erledigt?
Sie schüttelte resigniert den Kopf und ging weiter.
Vielleicht, dachte sie, könnte sie bei Nachbarn klingeln, wenn sie zu Hause angekommen war. So komisch die Geschichte auch war, irgendwie mußte sich das regeln lassen.
Dann setzte wieder das nagende Gefühl ein, daß sie irgendwas ganz furchtbar verschlampt hatte. Sie ging schneller.


Nach wenigen Minuten kam sie zu der Ecke, hinter der sich ihre Straße befand. Sie bog ein.
Die Straße war da. Das Haus nicht mehr.


Sie starrte auf Trümmer, weißrotes Absperrband und ein einsames, leeres Polizeiauto. Die Seiten der Nachbarhäuser waren brandgeschwärzt, auf dem Bürgersteig lag Schutt.
Mit einem Mal erinnerte sie sich an Hitze, Feuer und Gasgestank. Es fauchte und roch angebrannt - nach verbrannter Haut, verbranntem Fleisch - und verbranntem Fell. Ihr Hund rannte panisch durch die Wohnung und lief gegen die Wand. Sie griff nach ihm. Sie hatte noch ihre Jacke an, die gerade irgendwo Feuer fing. Dann noch größere Hitze und die Kraft einer Druckwelle und unerträglicher Schmerz in den Ohren.... und das war's.
Danach gab es noch nicht einmal mehr was, das sie hätte vergessen können.
Absolut gar nichts.


Sie wußte nicht, wie lange sie dort, einige Meter von den Trümmern ihres Hauses entfernt, gestanden hatte, doch plötzlich wurde ihr übel und sie hörte sich schreien und rannte los, auf das Haus zu. Irgendwie stolperte sie über die Absperrung hinweg und kroch wie von Sinnen unter eine große Betonplatte, dorthin, wo sie ihre Erdgeschoßwohnung vermutete. Schwere Ziegel, die sich durch die plötzliche Bewegung gelöst hatten, erstickten ihren Schrei, als sie mit dem Gesicht in verkohltes Fell stieß.
Der Ziegel, der ihr Genick zertrümmerte, traf sie zuerst, so daß sie vom Rest nicht mehr viel merkte.




„Bring das in Ordnung!“, forderte die eine Stimme.
„Und wie, wenn ich fragen darf?“, empörte sich die andere.
„Es ist zwar nicht mein Problem, schließlich hast Du es vermurkst... aber nimm sie doch einfach aus dem Spiel.“
„Es geht nicht.“
„Muß doch.“
„Nein, sie hängt fest! Wir haben sie geradewegs in einer Schleife gefangen, und das auch noch zwei Felder, nachdem sie eigentlich rausgemußt hätte!“
„Du, nicht wir. Wackel doch mal am Spielbrett.“
„Hilft alles nichts. Sollen wir zum Chef gehen?“
„Bloß nicht, der verbannt uns für Wochen in irgendeine eklige Schattenwelt...“
„Also, was schlägst Du vor?“
„Lassen wir's erst mal weiterlaufen. Manchmal rutscht alles von selbst wieder an den richtigen Platz.“




Am nächsten Morgen erwachte Alma in einer Schublade.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo JCC
Ha, ha, hat mir echt gut gefallen. Netter Einfall, flott geschrieben und mit pfiffiger Pointe. Vielleicht hätte es hier und da noch ein wenig witziger sein können. Na, mal sehen, was noch so von dir kommt. Ich freu mich drauf.

Gruß Ralph
 

JCC

Mitglied
Danke.

Ich hab's mal an ein Lektorat geschickt, da kam dann die Frage zurück, mit welcher Absicht ich sowas eigentlich schreibe.

Das weiß ich bis heute nicht. ;)

Übrigens, wenn Du tatsächlich mehr von mir lesen willst, schau mal auf http://www.stories.2xs.net oder in die anderen Foren hier. ;)

Christina
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Christina,

gerade in Lektoraten müßte man eigentlich wissen, daß hin und wieder (oder gar nicht so selten) Sachen geschrieben werden, die einfach nur unterhalten sollen. So sehe ich zumindest deine Geschichte.
Übrigens habe ich mich bereits auf deiner homepage rumgetrieben. Ach ja - der Tag müßte mindestens 48 Stunden haben!

Gruß Ralph
 

JCC

Mitglied
Ja, so seh ich sie auch, aber vielleicht wird sie mir, wenn ich mal ein paar Minuten drüber meditiere, ihre tiefere Bedeutung enthüllen. ;)

Wenn man Ferien hat, hat er das. ;)
 



 
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