Geier unter uns

krokotraene

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Der kleine Mario war so aufgeregt, es war seine erste Begegnung mit den riesigen Greifvögeln. Seine Eltern hatten ihn zu der Flugshow auf Schloss Waldreichs im Waldviertel nicht lange überreden müssen. Stillschweigend beobachteten seine Augen, wie die schönen Vögel über den Köpfen der Zuschauer kreisten. Die Erklärungen der Falknerin gingen an dem Kind spurlos vorbei, seine ganze Aufmerksamkeit galt einzig und allein dem Schauen und Staunen.

Seine Augen waren wie festgeklebt an den imposanten Tieren, die sich mühelos in den Himmel und gegen die Sonne schraubten. Vor Begeisterung klatschte er in seine kleinen Patschhände, als der Adler im Sturzflug hernieder sauste. Während der Königsadler seine Beute im kleinen Schwimmbecken der Anlage anvisierte und wartete bis der Wind diese an das Ufer trieb, war Mario kaum noch zu halten. Seine Mutter hatte alle Hände voll zu tun, um den kleinen Lauser auf seinem Platz zu fixieren. Mario wäre am liebsten mitten auf die Arena gerannt und hätte den Adler umarmt. Während einige Mütter mit deren Kindern angstgebeutelt die Flugshow schnellen Schrittes verließen, zeigte Mario absolut keine Scheu vor diesen mächtigen Tieren.

Dann hopste ein Mönchsgeier durch das Gras. Marios Mutter erwischte ihren kleinen Liebling gerade noch am letzten Flecken der Jacke und zog ihn zurück auf seinen Platz. Mario war hin und weg. Der große, dunkle Vogel hatte es ihn angetan.

Mario starrte mit weit aufgerissenen Augen und Mund auf das Federvieh. Er war wie in Trance, hörte weder seine Mutter noch die anderen Menschen rund um ihn. Es hatte den Anschein, als würde das Kind von diesem Vogel nie wieder los kommen.

Im Kindergarten konnte Mario kein anderes Thema als die riesigen Vögel, insbesondere den Geier finden. Kaum krallte er sich Buntstifte und Papier, entstand schon wieder ein patschiges, einem Geier leicht ähnelndes, Bild. Auch zuhause trieb er seine Eltern zur Weißglut mit der Liebe zu den Königen der Lüfte. Sein Vater hatte mit seiner Mutter bereits heftige Diskussionen geführt und ihr nicht einmal vorgeworfen, weshalb sie überhaupt diese Schnapsidee hatte auf das Schloss zufahren.

Marios Geburtstag rollte ins Land und Mario wünschte sich nichts sehnlicher als ein Haustier. Bereits seit Monaten quälte er seine Eltern um ein kleines Lebewesen für zuhause. Er versprach hoch und heilig sich auch wirklich um das Tier zu kümmern, es zu hegen und zu pflegen. Seine Eltern würden nicht einmal die Anwesenheit seines Haustieres bemerken. Heulattacken folgten herzzerreißenden Bittgesuchen.

Endlich war der Vater fast weichgeklopft, als die Mutter Mario die Frage nach dem gewünschten Tier stellte. Ein Meerschweinchen, ein Hamster, eine Katze, ein Hund, all das wurde von Mario kategorisch abgelehnt. Seine Mutter bohrte weiter.

Irgendwann stotterte er heraus. "Einen Vogel!" Aber kein Wellensittich, Papagei oder Fink sollte in die Familie einziehen. Nein, etwas größeres war Marios Begier. Der dunkle Vogel von der Flugshow, der sollte schon bald über die Köpfe im Wohnzimmer seine Runden ziehen. Marios Mutter lachte und sein Vater schimpfte. Mario begann zu heulen. Er schlug aus Wut auf seinen Stoffhund ein. Wieso erlaubten ihn seine Eltern ein Haustier, wenn er sich keines aussuchen durfte? Er konnte nicht verstehen, weshalb die nette Dame auf dem Schloss einen Vogel haben durfte und er nicht. Nur weil er viel kleiner war? Das konnte doch kein Grund sein? Sein Zimmer ist doch groß genug und spazieren gehen könnte er im anschließenden Park auch mit dem Vogel an der Leine. Er grübelte und grübelte.
Mario vergaß nichts. Tagelang war er auf seine Eltern böse und sprach kein Wort. Haustiergegner gehörten ab sofort nicht auf die Liste der Freunde. Er schmollte in seinem Zimmer, während sein Geburtstag immer näher kam.

Eine große Party war geplant. Alle seine Freunde sollten kommen. Ein Zauberer war engagiert und Mario löste einen Teil seiner Schmollecke auf. Das Sauer sein war doch nicht so seine Stärke, vor allem nicht, wenn es Geschenke hagelte.

Ein rauschendes Fest hatten seine Eltern für ihn und seine Freunde organisiert. Der Haustierwunsch war schon längst vergessen. Die Geschenke, die sich mittlerweile im ganzen Haus verstreuten, trösteten über die letzten einsamen Tage hinweg. Mario war seiner Mutter nicht mehr böse und hatte auch kein Verlangen mehr nach dem Mönchsgeier.

Marios Oma stand in der Küche. Am Tisch und auf der Arbeitsplatte stapelten sich die Essensreste des Nachmittags. Wie immer hatte die Gastgeberin viel zu viel eingekauft, gekocht und serviert. Im Haus war es bereits ruhig geworden. Mario war schon im Traumland und vermutlich auch alle seine Freunde. Die Oma stand mitten in dem Chaos und betrachtete wehmütig die Essensreste. Kurzfristig streifte ihr Blick das viele schmutzige Geschirr, welches sich in der Abwasch stapelte. Sollte sie anpacken und helfen? Doch sie verwarf sofort den Gedanken, zu wichtig waren ihr die Speisen. Sie kramte beherzt in den Küchenkästen und zog eine Menge an Tupperware-Dosen hervor. Dann begann sie fein säuberlich die Reste getrennt voneinander einzupacken. Sie war so sehr beschäftigt, dass sie die Worte ihres Schwiegersohnes gar nicht hörte.

"Mario braucht kein Haustier! Einen Geier haben wir ohnehin schon in der Familie", murmelte er in seinen Bart, während er ein Glas Milch aus dem Kühlschrank holte.
 



 
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