Geisterstadt

Kryo

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Er war tot. Von all den Gedanken, die in seinem Kopf herumschwirrten war das der einzige, der für ihn klar war. Er sah die verschiedensten Menschen, während er langsam den Bahnsteig hinunter lief, aber sie konnten ihn nicht sehen. Vor ihm stand ein junger Vater, der seinen Sohn an der Hand führte, vorsichtig bedacht darauf, ihn nicht zu nah an die Gleise kommen zu lassen. Er ging völlig unbemerkt an ihnen vorbei. Rechts von ihm stand eine junge Frau, die ihre Musik so laut aufgedreht hatte, dass er sie sogar durch die Kopfhörer hindurch hören konnte, die sie trug. Sie pochte mit ihrem Fuß im Rhythmus des Taktes auf den Boden, als er an ihr vorbei ging.

Er fragte sich, wie und wann er gestorben war. Er konnte sich nicht erinnern. Das einzige, was er wusste, war, dass es vor langer Zeit gewesen sein musste. Und seitdem trieb er ziellos von Tag zu Tag, gefangen in einem Nachhall des Lebens, abgetrennt von der Realität. Die meiste Zeit über war er sich nicht einmal bewusst, dass er tot war, während er seinem täglichen Trott folgte, ohne zu merken, dass sein Dasein längst von der Welt um ihn herum abgeschnitten war. Vielleicht lag es daran, dass er es nicht merken wollte.

Der Zug fuhr an ihm vorbei und kam mit einem sanften Summen zum Stehen. Rings um ihn herum drängten die Leute zu den Türen, welche sich prompt öffneten und eine große Zahl an Passagieren ausspien. Er ließ die Massen an sich vorbei strömen und trat dann, nachdem alle anderen bereits eingestiegen waren, schnell und leise wie der Geist, der er war, ein.

Die Türen schlossen sich hinter ihm und der Zug nahm seine Fahrt mit jenem charakteristischen leisen Summen wieder auf. Er blieb wo er war und ging nicht weiter hinein, da er fürchtete, was passieren würde, wenn er unbeabsichtigt mit einem der Passagiere in Kontakt kam. Ihm gegenüber, an der anderen Tür, stand ein Mann, der eine Zeitung las. Er konnte einige der Schlagzeilen von seinem Platz aus erkennen, aber sie ergaben keinen Sinn für ihn. Auf der anderen Seite der Tür stand ein Junge, der ihn mit glasigem Blick anstarrte - nein, durch ihn hindurch starrte.

Die Fahrt schien endlos zu dauern, so wie sie es immer tat, obwohl es tatsächlich nur vier Stationen waren. Was er erlebte war nichts weiter als eine immerwährende Abwechslung von Stillstand und Bewegung, genauso wie alles andere in seinem geisterhaften Dasein. Eine elektronische Stimme sagte die Namen der Halte an, aber sie hatten keine Bedeutung für ihn, außer dass sie ihm das diffuse Gefühl von zurückgelegter Entfernung gaben.

Er konnte nicht sagen warum genau, aber dann, als der Zug erneut anhielt, wusste er plötzlich, dass er hier aussteigen musste. Die Türen öffneten sich und diesmal war er der erste der an der Spitze einer kleinen Gruppe von Leuten heraustrat. Keiner von ihnen nahm Notiz von ihm. Er ließ sich in der Masse treiben, eine Treppe hinunter, durch eine kleine Eingangshalle und dann nach draußen.

Er kam auf einer überfüllten Straße mitten im Herzen der Stadt heraus. Der Verkehr war dicht und die breiten Fußwege waren voller Menschen. Er bewegte sich zielgerichtet im Strom der Masse, in dem Bewusstsein, dass sein Ziel nun nicht mehr fern war. Obwohl er bereits lange tot war, verspürte er eine starke Bindung zu jenem Ort, die ihn zwang, sich in einer niemals endenden Routine Tag für Tag immer wieder dort hin zu begeben.

Auf der anderen Seite der Straße sah er einen kräftig gebauten Mann, der sich durch die Menge schob. Die Aktentasche, die er trug, war der seinen sehr ähnlich. Der Mann schaute auf seine Uhr und beschleunigte seinen Schritt, wie er es immer an dieser Stelle tat.

Von rechts blies ihm jemand eine Wolke Zigarettenrauch ins Gesicht, aber er schenkte dem keine Beachtung. Er lief einfach weiter und dann, plötzlich, wusste er, wann er gestorben war, so als ob das Wissen schon immer da gewesen wäre. Er konnte sich noch immer nicht erinnern, wie es passiert war, aber er war nun sicher, dass sich sein Tod nur kurz nachdem er in diese Stadt gezogen war ereignet hatte. In seinem gegenwärtigen Zustand war es schwer, die Zeit zu schätzen, aber es musste vor vielen Jahren gewesen sein. Jahre des ziellosen Treibens in einem geisterhaften Halb-Dasein.

Er wandte sich nach rechts und sah sich dem Eingang eines gewaltigen Bürogebäudes gegenüber. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, ging er hinein. Er durchquerte den Empfangsbereich gemeinsam mit einer Gruppe von Leuten, die mit ihm zusammen eingetreten waren und bewegte sich geradewegs auf die Anordnung von Fahrstühlen auf der anderen Seite zu. Einer von ihnen stand mit offenen Türen bereit. Er stieg schnell ein und zog sich in die hinterste Ecke zurück. Bereits ein paar Sekunden später quoll der kleine Raum förmlich mit Menschen über. Die Türen schlossen sich und der Aufzug begann, sich aufwärts zu bewegen.

Er konnte nur mit Mühe den Kontakt mit einer Frau zu seiner Linken vermeiden. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sie in den Spiegel an der Rückwand schaute und ihre Haare zurecht machte, ohne auch nur im Geringsten auf die anderen Passagiere zu achten, die sie dabei anstieß. Er hatte Angst sich umzudrehen und selbst in den Spiegel zu blicken.

Die Türen öffneten sich und ermöglichten so einigen der Insassen den Ausstieg. Er stieg nicht aus. Der große Mann vor ihm tappte ungeduldig mit dem Fuß, während sich die Türen wieder schlossen, wodurch er ein trommelndes Geräusch verursachte, das keiner zu hören schien. Der Fahrstuhl bewegte sich abermals nach oben und hielt schließlich an. Als sich die Türen erneut öffneten, stiegen noch mehr Menschen aus. Er folgte ihnen.

Nachdem er den Aufzugsbereich verlassen hatte, trat er in einen schmalen, schwach beleuchteten Gang. Die Frau vor ihm schaute auf ihre Uhr und begann leise zu fluchen, sich seiner Präsenz offenbar nicht gewahr. Er ging an ein paar Türen auf beiden Seiten des Gangs vorbei, bis er schließlich eine zu seiner Rechten öffnete und den kleinen Raum auf der anderen Seite betrat.

Eine Frau saß hinter einem Schreibtisch in dem spärlich dekorierten Zimmer. Als er eintrat blickte sie von ihrer Schreibarbeit auf und lächelte ihm zu. "Guten Morgen, Herr Berger."

Er seufzte tief und ging, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, durch die Tür am anderen Ende des Raumes in sein Büro. Es gab keinen Zweifel - er war wirklich tot.
 



 
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