Geisterstunde auf der Intensivstation

Michael Kempa

Mitglied
Geisterstunde auf der Intensivstation




„Verschwinde!“ zischte Pein.
„Ich denke nicht daran! Ich war schon so oft hier, da lasse ich mich von jemandem wie dir sicher nicht verscheuchen!“
„Ich bin mit meiner Arbeit noch nicht fertig.“ Pein tippelte aufgeregt hin und her.
„Du hast noch nicht einmal beginnen können“, bemerkte Tod trocken. Er machte es sich auf dem Monitor über dem Patientenbett bequem.
„Darum sollst du ja verschwinden, zuerst bin ich an der Reihe! Wenn ich fertig bin, kannst du ihn gerne von mir erlösen.“
„Pein!“ Tod grinste. „Der, der da auf diesem Bett liegt, ist schon lange tot, er weiß es nur noch nicht...
Wie kannst du glauben, daß du hier noch eine Chance hättest?“
Pein ließ noch nicht locker. „Wir haben uns noch nie gut verstanden...“
Tod ließ Pein nicht ausreden. „Ja, weil uns fast alle verwechseln. Du bist Pein und ich bin der Tod. Wir haben nichts miteinander zu tun. Basta!“
Endgültig beleidigt verkroch sich Pein unter das Bett und suchte nach einem Opfer, an dem er seine unbeschreibliche Wut langsam, sehr langsam, abreagieren könnte.
Unerwartet meldete sich Schicksal zu Wort. „Du siehst ja wie der Tod aus, Tod!“ Scheinbar gelangweilt lümmelte Schicksal im freien Raum des Krankenzimmers.
„Wie soll ich sonst aussehen?“ Tod verstand den kleinen Scherz nicht; warf dafür Pein tödliche Blicke zu. Pein konnte ein Kichern nicht unterdrücken, wußte er doch sehr genau, daß der Tod keinen Spaß versteht.
Schicksal mußte einfach wieder mal zeigen, wer eigentlich das Sagen hatte. „Tod, ich will dich daran erinnern, daß nur ich weiß, wie diese Geschichte ausgeht!“
Tod klapperte vor Zorn mit den Zähnen.
Pein zuckte hilflos mit den Schultern und begann sein Werkzeug peinlich genau zu sortieren. Die Bohrer, Nadeln, Nervenzieher und was er sonst noch alles hatte, wickelte er sorgfältig in seine erbeuteten Nervenkleider ein und verschwand mit den überaus bedeutungsvollen Worten: „Ich glaube, ich bin hier fehl am Platze!“
Tod und Schicksal waren nun allein.
Der Tote, der nicht wußte, daß er tot war, störte sie nicht.
„Nun?“ fragte der Tod.
„Was: Nun?“ äffte Schicksal nach.
„Wie lange soll ich noch warten?“ Tod wurde ungeduldig.
Schicksal grinste. „Wir haben es nicht leicht in letzter Zeit, von Pein ganz zu schweigen...
Es soll bald keine Pein mehr geben, habe ich gehört. Es war das erste mal, daß ich Pein weinen sah.“
„Mich wird es immer geben!“ Tod sah unpersönlich aus.
„Bist du dir auch wirklich sicher?“ stichelte Schicksal.
„Du bist nicht nur von mir abhängig. Bald geht es nicht nur Pein an den Kragen, sondern auch dir mein Freund. Sie wollen den Tod besiegen.“
„Ich weiß, es war schon immer so. Sie wollen mich überlisten, besiegen. Manchmal wollten sie sogar einen Wettlauf aber immer sind sie mir in die Arme gelaufen, spürten meine Schwingen und mußten mir schließlich doch in die Augen sehen!
Sie konnten mir höchst selten von der Schippe springen, doch am Ende habe ich immer das letzte Wort gesprochen!“
Tod richtete sich in seiner vollen, schrecklichen Größe auf.
„Liebes Schicksal, auch wenn du erbarmungslos zuschlagen kannst, wenn es mich nicht mehr gibt, werden die Menschen bald nach mir rufen, denn nichts hat Wert ohne mich.
Pein bräuchte jemanden, der ihn von seinem Größenwahn befreit. Du weißt: Unendliche Pein ohne mich!“
Tod breitete seine knochigen Arme weit aus. Er wandte sich dem Sterbenden zu und beendete gewissenhaft seine Arbeit.
Schicksal nickte zufrieden.
Wie fast immer, wurden sie von niemandem gesehen.
 



 
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