Geistertanz

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Geistertanz




Es war eine beeindruckende Erscheinung, die da im Lehnstuhl saß, und Klimbim blieb in der Tür stehen, wie angewurzelt, als er von der Schwester hereingeführt wurde. Schauen Sie sich ruhig erstmal um, sagte sie und zog zack zack die Gardinen beiseite, während ihr der Schwesternkittel um die breiten Hüften schwang. Sie war energisch, kurz angebunden, wischte einmal mit der flachen Hand über die Bettdecke und teilte das Kopfkissen mit einem Schlag. Dann stand sie da, ihr Blick wanderte gewissenhaft und schnell über Küchenzeile, Bett und Anrichte und über den mitten im Raum sitzenden Patienten. Sie nickte, dort schien ihr eine Unregelmäßigkeit aufgefallen zu sein, und sie ging hin, streichelte dem alten Mann den Oberarm und zupfte den knittrigen Kragen glatt.
Und Ihnen geht es auch gut, Herr Löbelin, sagte sie scharf und rüttelte an seinem Arm, so als wollte sie ihm neue Lebensenergie zuschustern.
Wir sind heut nicht ganz beieinander, rief sie und kam straffen Schritts auf den Clown zu, der sich in der Tür schnell zur Seite drehte. Sie schaute ihm fest in die Augen. Das machen Sie gut, sagte sie, in den Türrahmen getrieben, wie ein Keil. Klimbim nickte, auf Zehenspitzen stehend und zwirbelte den Stängel einer orangefarbenen Germini zwischen den Fingerspitzen. Die Schwester lächelte und drängte davon.

Grienend lugte Klimbim über den Horizont der Blütenblätter auf den Mann im Lehnstuhl und zwinkerte. Ganz leise wollte er sein und den Lethargischen nur mit Worttupfern wecken. Ein angedeutetes Lächeln wollte ihm schon genug sein, angesichts der senkrecht verlaufenen Falten, die dem Mann die Mundwinkel tangierten. Darüber ein undurchschaubarer Blick, der nichts und alles dahinter vermuten ließ. Die zitternden Augenbrauen, unschlüssig, ob sie diesem Blick etwas Melancholisches oder Fragendes verleihen sollten, sträubten sich wild.
Klimbim ließ die Germini langsam sinken. Ihr leuchtendes Orange verstellte ihm den Blick.
Da saß ein ganzes Leben vor ihm, dachte er, irgendwo eingeschlossen, in einer langsam dahinsiechenden Hülle. Und dieser Blick, mein Gott, dieser Blick, dachte er. Er raubte ihm den Atem.

Er bekam weiche Knie, als er seine Zaubertricks vorführte. Nichts Besonderes. Ein hervorgeholter Cent, hinter dem Ohr; ein Gummiball, der in der Luft verschwinden sollte, entglitt ihm und hüpfte vom Tisch auf den Boden, wo er unbeachtet liegen blieb. Klimbim klaubte ihn auf und schielte über die Schulter. Da regte sich nichts.
Was für ein Zaubertrick musste das sein, dachte er sich, bei dem jemand das, was einen Menschen erst zum Menschen machte, auf Fingerschnipp verschwinden ließ. Einfach so, als wäre es ein Traum gewesen.
Das ganze kam ihm mit einem mal unendlich lächerlich vor. Die Clownsnase, die Schminke, was sollte das? Er zog sich einen Stuhl heran, setzte sich.
Ich bin Harald, sagte er und nahm die Clownsnase ab. Er lächelte und verwischte die aufgemalten Tränen auf den Wangen. Er faltete die Hände, vor sich auf dem Tisch, und schwieg.

Das Gesicht des alten Mannes verdrehte sich auf dem Hals so langsam, dass es Harald zuerst gar nicht auffiel, als er ihm, wie ein verrosteter Schraubenkopf, der sich ächzend aus einer alten Holzbohle erhebt, den Blick zuwandte.
Jürgen, sagte er einfach, mit einer tiefen Stimme, die aus einem Abgrund zu kommen schien, und die Pupillen zitterten wie dürres, trockenes Astwerk von einem Stamm, an dem die Kettensäge nagt.
Harald sah ihn entsetzt an. Gegen das Entsetzen war gar nichts zu machen. Wie eine Leiche, die auf dem Obduktionstisch die Augen aufschlägt und die bleichen Lippen bewegt, hatte der alte Mann die Stimme erhoben. Seine gichtkranke Hand kroch über den Tisch auf ihn zu, wie ein Getier, das sich verletzt über den Erdboden zerrt, Zentimeter um Zentimeter auf seine gefalteten Hände zu.
Wohnen Sie auch hier, fragte der alte Mann und klammerte ihn mit kaltfeuchtem Griff, gleich einer Spinne, die einem, kaum spürbar, über die Haut schleicht. Harald glaubte schreien zu müssen, denn welch unglückliches Wesen auch immer die Stimme gegen ihn erhoben hatte, dahinter stach eine Eiseskälte aus den stahlblauen Augen, die ihm, trotz der Flüchtigkeit ihrer Gegenwart, wie ein Sauhaken in die Eingeweide ging.
Nein, ich wohne nicht hier, gab Harald schreiend von sich und sprang auf. Er rieb sich die Knöchel. Was, wenn die Gicht des Mannes ihn wie einen Virus befallen hatte?
Aber nein! Rasch versuchte er sich zu beruhigen. Der Blick des Alten kroch ihm wie ein Ungeziefer nach und blieb wie eine Klette an ihm hängen.
Sind Sie schon lange hier, fragte Harald sehr vorsichtig und setzte sich wieder, allerdings den Stuhl ein wenig fortgezogen und außerhalb der Reichweite des Alten.
Nicht lange, sagte der leise, als wäre es eine Gegenfrage und Harald seufzte und knickte ein, als er die Orientierungslosigkeit verspürte, die in diesen Worten lag.
Die Angst, die ihn befallen hatte, war nichts weiter, als die Angst vor dem Vergessen, das sich so klar in den Worten des Alten abzeichnete. Seine Hilflosigkeit schien eine Drohung, die er wie einen Fluch aussprach.
Sein Blick verfluchte ihn, dereinst das gleiche Schicksal teilen zu müssen, seine Hände, die gichtigen, wollten es ihm aufschmieren, wie etwas, das leicht in die Haut eindrang, wie eine Creme. Und seine Lungen bliesen es faulig in die Luft.

Harald saß stocksteif gegen die Lehne seines Stuhls gepresst und atmete flach. In seinem Kopf drängelten sich Musterbeispiele aus den Weiterbildungskursen clownskostümiert in den Vordergrund und sangen ihm Rad schlagend vor. Luftrüssel blasend und trötend, rieten sie ihm, mit dem alten Mann Verstecken zu spielen und ihm einen lustigen Hut aufzusetzen. Wenn nichts half, half immer noch singen! Er schluckte den Klos herunter, der sich an seinen Kehlkopf geschmiegt hatte und griff nach der Ukulele, die ihm zu diesem Zweck um die Schulter hing. Nachdenklich summte er diesen und jenen Schlager und suchte ein Wiedererkennen im Blick des alten Mannes zu erhaschen. Fragend sah der ihn an, wankelmütig bis ins Mark. Und bald fehlten Harald die Worte, und er klopfte nur noch die Rhythmen auf den Korpus der Ukulele, die Rhythmen, die ihm vertraut schienen. Ihr marschartiger Charakter fiel ihm zuerst gar nicht auf, denn er klebte mit dem Blick an den Lippen des alten Mannes, die zitterten und bebten, als würden sie von den Märschen getrieben.
Der alte Mann summte, bald klopfte er mit der Faust auf den Tisch, und Leben befiel ihn, wie ein aus der Dunkelheit hervorspringendes Monstrum. Er erhob sich, wie an Fäden gezogen und begann zu singen, während Harald spielte, so als wäre der Fluch wahr geworden, und er, umnachtet, könne nicht aufhören zu spielen, nicht einmal denken. Es trieb ihn tiefer und tiefer in die Vergangenheit, bis sich plötzlich eine glockenhelle, jugendliche Stimme aus der Kehle des Alten erhob, so als hätte sich in ihm ein vierzehnjähriger Junge verborgen gehalten, in einer Kinderuniform, aufrecht stehend. Und er sang die Worte so klar und für den Augenblick so fest daran glaubend, dass sich die Clownsschminke in Haralds Gesicht grotesk verformte, als er einen lautlosen, unheimlichen Schrei von sich gab.

Wir werden weiter marschieren/ Wenn alles in Scherben fällt/ Denn heute da hört uns Deutschland/ Und morgen die ganze Welt

Es war, als sprühten Götterfunken durch die Flure des Pflegeheims, und die Pflegerinnen und Schwestern hoben die Köpfe, als sich die Türen der Patientenzimmer öffneten und die wilden, grauen Kraushaarköpfe unter den Türbalken ins Freie lugten. Gehhilfen und Krücken schlugen zum Takt, und ein Summen erhob sich, in das sich erinnerte Worte mischten. Längst umnachtete Blicke strahlten plötzlich wie Sterne aus den dunklen Augenhöhlen. Baritone grüßten, Soprane, Bässe und Tenöre schwollen an und sangen von niemals untergehenden Welten und herbeigesehnten Wundern. Eine graumelierte Flut schwappte, entgegen aller Physik, die Treppen empor und brandete, singend und stampfend, gegen die Tür, hinter der Harald, inmitten des Wahnsinns kauerte.

Der alte Mann, den Geisterchor weithin mit seiner Stimme überstrahlend, während auf dem Flur die gichtkranken Hundertjährigen tanzten und sich zärtlich im Arm hielten, schaute auf ihn herab, mit seinen lebendigen, strahlenden Augen. Vom Leben gepackt, sang er lauter und griff sich eine Frau, die kaum stehen konnte und tanzte mit ihr fort.

Auf dem Flur brüllten die Pfleger Befehle und trieben mit beruhigenden Worten eine Bresche in die wilde Gruppe. Doch solange die Musik spielte, wurde getanzt. Das Vergessen kam schleichend und mit ihm das Schweigen.
Einige schauten sich ungläubig an, noch die Hände ineinander verschlungen, noch tanzend.
Dann aber gingen sie auseinander.

Und niemand
wusste wohin…
 

Markus Saxer

Mitglied
Hallo Marcus

Bin beeindruckt. Der beste Text, den ich bislang von Dir gelesen habe, sehr stimmig, gepflegt gruselig, atmosphärisch dicht, schönes Ende. Ich oute mich hiermit als Fan Deines 'Geistertanzes'.

Das hier:
Das Gesicht des alten Mannes verdrehte sich auf dem Hals so langsam, dass es Harald zuerst gar nicht auffiel, als er ihm, wie ein verrosteter Schraubenkopf, der sich ächzend aus einer alten Holzbohle erhebt, den Blick zuwandte.

find ich grossartig!

Fazit: Überaus gelungen. Ich gratuliere herzlich.

LG, Markus
 
Danke, Markus; nachts,

dass sich ein Blick einem Menschen wie ein verrosteter Schraubenkopf zuwendet, ist natürlich harter Tobak, und ich habe zu diesem Bild schon andere Meinungen gehört, die doch zweifelnd waren, ob die Bilder zueinander passen. Aber ich sah das genauso- einfach ein Wahnsinnsbild - und ich hab eben eine blühende Fantasie.
Dass in einem Altersheim nun fast alle Heimbewohner Altnazis sein sollen, ist ebenfalls grenzwertig. Aber der Text sollte auch keinen Zweifel daran lassen, dass er mit Wahrheiten nur spielt und wesentlich überspitzt.

Dabei möchte ich es gerne belassen. Der Text ist kein Spiegel der Realität. Der Spiegel ist eben gewölbt, nicht wahr?

Grüsse an Euch,
Marcus
 



 
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