Gelb

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sevenstar

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Gelb

Gelb ist die Farbe des Wahnsinns, sagte die Lehrerin. Ihr Pinsel wippte drohend vor ihrem Gesicht.
Gelb bringt um den Verstand - oder besser: Gelb bringt den Verstand um? Sie lachte.
Wir verstanden nichts, freuten uns nur, daß endlich Pause war.
Ich fuhr mit der Bahn nach Hause an diesem Tag, so als wäre nichts. Ich wusste aber ganz genau, daß etwas war.
Etwas war.
Ich öffnete den Kühlschrank und wußte, daß etwas war. Ich aß, ging in mein Zimmer, überlegte hin und her, wie man das lösen könnte: Ein Baum ist vierzehn Meter hoch und wiegt circa zehn Tonnen. Wie stark ist sein Saugdruck?
Etwas ist, dachte ich. Ich schlug das Buch zu, spielte mit meinem Klappmesser herum. Ein gutes Messer, Schweizer Qualität und scharf wie eine Rasierklinge. Manchmal hatte ich mir vorgestellt, mich damit zu ritzen. Hatte ich mich nur
nie getraut?
Ich sah aus dem Fenster zum blauen Himmel. Etwas ist, dachte ich. Da waren Wolken, trübe, dießige Wolken, die man kaum sehen konnte. Der Wald in der Nähe lag schwer und fett. Stimmen von Leuten, die den schwülen Sommertag mit vielen Flaschen genossen. Ich mochte kein Bier.
Etwas ist, schoß es mir durch den Sinn. Meine Hand zitterte, als ich das Fenster öffnete. Ich lehnte mich hinaus, um mehr sehen zu können. Warm kroch es durch die viereckige Luke in mein Zimmer. Ich wollte keine Kühle, ich wollte diesen Sommer hier in meinem Rattenloch. So nannte ich mein Zimmer, auch, wenn es nicht unbedingt klein war. Aber es sah ungefähr wie ein Rattenloch aus. Überall Unrat, der mich nicht störte.
Etwas ist. Ich setzte mich wieder in meinen Sessel und schwieg die Wand an. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Der PC summte vor sich hin, schwieg ebenso. Er maßte sich an, mein Spiegel zu sein. Ich verspürte Wut.
Etwas ist. Ich stand plötzlich auf und sah mich um. Dann sah ich es. An der Wand. Es war vorher nicht dort gewesen. Erst dachte ich, es wäre vielleicht ein totes Insekt. Ich kam näher heran. Ich bemerkte, daß es kein Insekt war. Es war einfach eine dicke, gelbe Masse, die durch ein kleines Loch aus der Wand drang. Nicht unangenehm gelb, nicht wie Eiter. Schön gelb, wie eine Zitrone. Es drang und drang, schien aber nicht mehr zu werden. Ich roch daran. Es roch nicht.
Ich sah es mir genau an. Wie Ölfarbe, die aus einer Tube quillt, so sah es aus. Automatisch aber nicht schnell ging ich in die Küche, ein Küchentuch holen.
Wieder da, war es immer noch an der Wand, aber nicht größer. Ich fuhr gründlich darüber mit dem Küchentuch. Das Loch blieb, aber die Masse war im Tuch. Ich sah sie mir an. Sie klebte spöttisch am Papier, gelb und klebrig wie das,
was im benutzten Taschentuch klebt. Nur viel gelber.
Dann berührte ich es. Es färbte meine Fingerkuppe ein klein wenig. Sonst nichts weiter. Ich legte das Küchentuch auf den Tisch. Später ging ich schlafen.
Früh dachte ich wieder: Etwas ist. Mir gefiel dieser Gedanke nicht, er hatte etwas Bedrückendes. Mir fiel das Tuch ein. Es lag noch da, wo ich es liegen lassen hatte. Das Gelb war eingetrocknet, als ich das Tuch nahm, stiebten feine gelbe Partikel heraus. Sie glänzten fast golden. Irgendwie steckte ich das Ding in meine Hosentasche, um es später wegzuschmeißen.
In der Schule fiel es mir wieder ein. In der letzten Stunde. Ich griff in die Hosentasche. Ich mußte die Hand schnell wieder herausziehen. Ich hatte in etwas sehr weiches gegriffen. Die Hand war leich gelblich gefärbt, wie meine Fingerkuppe gestern.
Von außen fühlte sich die Tasche auch sehr weich an. Ich wußte, was das war. Ich mußte die Hose loswerden, sie war versaut. Ich zog sie aus, sobald ich zu Hause war. In der Tasche schimmerte es klebrig gelb. Ich wußte nicht, was tun. Ich
legte die Hose vorerst in den Kleiderschrank, in der Hoffnung, das Gelb würde eintrocknen wie das im Tuch.
Das Loch in der Wand war größer. Gelb quoll heraus. Dicker. Ich holte kein Tuch. In meinem Schreibtisch entdeckte ich auch Löcher. Winzige, aus denen Gelb quoll. Auch in der Tastatur, sogar in der Bildröhre vom Monitor. Etwas ist, dachte ich.
Ich holte Lappen und Reinigungsmittel aus der Küche. Als ich wieder ins Zimmer kam, entdeckte ich neue Löcher: Im Bett, am Fenstergriff, an der Türklinke, an meiner Kleidung. Ich stand da. Ich glaubte, daß etwas nicht ganz richtig war.
Nachdem ich den Bildschirm geputzt hatte, so daß nur noch die Löcher waren, nicht aber das Gelb, das aus ihnen herausquoll, bemerkte ich Löcher an der Flasche, in der das Putzmittel war. Seltsam. Es lief kein Putzmittel aus. Gelb quoll aus den Löchern.
Ich ließ mich auf das Bett fallen. Ich schloss die Augen. Meine Mutter war beim Abendbrot etwas müde, redete wenig. Aber sie schien das Gelb nicht bemerkt zu haben, das gleich neben dem Herd aus einem kleinen Loch quoll.
Ich schlief schnell ein und träumte nicht. Es war ein böser, schwerer Schlaf, nicht erholsam.
Ich wollte mich anziehen am nächsten Morgen. Ich öffnete den Kleiderschrank und wankte zurück. Gelb leuchtete mir entgegen. Aus den Fächern quoll dick das Gelb, floß auf den Boden. Ich drückte die Tür zu und zog an, was noch auf meinem Stuhl lag.
In der Küche war das Loch größer geworden. Gelb war in einer großen kreisrunden Beule neben dem Herd. Ich hatte ein bißchen Angst um meine Mutter, sie war doch so empfindlich gegen Unordnung und Schmutz.
In der Schule war Gelb auf meiner Bank. Aus kleinen Löchern quoll es heraus. Ich versuchte, es vor den anderen zu verbergen. Die lachten über mein Verhalten. Störte sie denn das Gelb nicht, das vorn, aus einem kleinen Loch in der Tafel quoll? In der Straßenbahn nachmittags war Gelb an den Haltestangen. Kleine Löcher, aus denen es unaufhörlich quoll. Ich wollte vermeiden, hineinzufassen, aber ich gab es bald auf. Auch andere fassten hinein. Keiner schien sich daran zu stören. Auch andere fassten hinein. Aber nur an meinen Händen blieb Gelb kleben, färbte ab. Ich hatte ein wenig Angst.
Zu Hause, in der Küche, war Gelb auf dem Fußboden. Es war aus mehreren Löchern, die sich im Tisch befanden, heruntergelaufen. Auch die Teller von heute morgen hatten Löcher. Ich räumte sie in die Spülmaschine und stellte auf 60 Grad.
In meinem Zimmer war auch Gelb auf dem Boden. Es quoll aus dem Kleiderschrank und vom Schreibtisch. Der Bildschirm war übersäht mit kleinen Löchern. Im Bett war ein sehr großes. Ich hätte meine Hand hineinstecken können. Als ich meine Tasche öffnete, um das Schulzeug herauszuholen, quoll mir Gelb entgegen. Ich mußte die Hefter aus der zähen Masse herausziehen. Es gelang mir kaum. Ich konnte nicht schreiben, aus dem Füllhalter quoll das Gelb.
Ich legte mich hin, ich hatte Kopfweh. Ich schloß die Augen und bekam plötzlich Angst. Furchtbare Angst. Ich sprang auf, ich rannte in die Küche, ins Wohnzimmer. Überall waren kleine gelbe Löcher. An manchen Stellen sogar größere.
Ich rief meine Mutter. Sie kam, fragte mich, was los sei.
Ich sah sie an. Sie sah mich an. Ich fragte, ob sie denn nichts bemerkte. Sie fragte, was sie denn bemerken solle, es sei doch alles normal.
Ich wußte nicht, ob ich das mit dem Gelb sagen sollte. Als ich wieder in mein Zimmer kam, hatte das Gelb meinen Kleiderschrank aufgedrückt und quoll in riesigen Mengen heraus. Ein richtiger Berg war schon da. Ich mußte aufpassen, daß ich nicht hineintrat. Ich legte mich wieder auf das Bett, überall quoll das Gelb. Sogar aus der Fensterscheibe quoll es. Ich schlief ein, ich war erschöpft. Vielleicht ein Alptraum, dachte ich. Als ich aufstand, war es Abendbrotzeit, ich ging in die Küche. Nachdem ich mich durch Berge von Gelb gekämpft hatte, die überall im Flur und im Wohnzimmer krochen,
erstarrte ich fast, als ich in die Küche kam. Das Essen war über und über mit Gelb bedeckt, man konnte kaum noch etwas erkennen. Meine Mutter watete im gelben Brei ohne auch nur das geringste Anzeichen von Ekel.
Ich fiel auf einen Stuhl und sah sie an. Sie bewegte sich ganz normal. Sie setzte sich auch und griff sich eine Brotscheibe. Alle Brotscheiben klebten im Gelb. Ich sah meine Mutter an. Sie sah mich an. Dann sagte sie: Guten Appetit. War da Gelb in ihrem Mund?
Ich sah weg, wollte nicht hinsehen. Meine Brotscheibe. Ich schmierte meine Brotscheibe, mit Gelb oder mit Butter. Ich weiß nicht mehr.
Als ich wieder zu meiner Mutter sah, sah ich sie essen. Sie aß nich wie sonst. Dick quoll gelb aus ihrem Mund auf den Teller. Mutter, sagte ich.
Da drückte Gelb von außen das Fenster ein.
 
Dein Text hat mir sehr gefallen, denn Gelb ist meine Lieblingsfarbe.Die Mystiker behaupten Gelb sei die Farbe von Wahnsinn und...Weisheit! Und das ist kein Widerspruch!
 

GabiSils

Mitglied
Ich schließe mich an: so[/] ist Horror ein Genre, mit dem ich mich anfreunden kann. Unheimlich und verstörend, rätselhaft, ohne Erklärungsversuch.
Ganz stark der Schluß.
Kompliment!

Gabi
 



 
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