Gelbe Rosen

3,30 Stern(e) 4 Bewertungen

Rafi

Mitglied
Gelbe Rosen

Verwirrt erwachte er. Dunkel war’s um ihn herum, er wusste nicht, wo er war, Panik kroch giftig in seine Eingeweide. Die Schatten drüben – waren das seine Sessel, sein Tisch, seine Truhe? Die Fotos an der Wand; er konnte sie nicht sehen. Entdeckte nicht Franziska und sich vor der Bergkulisse, nicht Veronika und Matz als Neugeborene, als Erwachsene. Wo waren sie, die Kinder, welche sie längst nicht mehr waren? Im Garten sollten sie doch spielen, stolz ihre Schultüten in die Kamera halten, unter dem Weihnachtsbaum das Geschenkpapier zerfetzen, heiraten und in Barcelona den ersten Job als Hotelmanager annehmen. Wo waren sie hin? Wo waren denn all die Jahre hin?
Neben sich hörte er leises Atmen. Wie fließender Honig drang die Wirklichkeit in sein Bewusstsein. Er hatte geträumt, nur geträumt.

Leise wand Gernot sich aus dem Bett. Er tastete sich vor bis zur Tür, öffnete sie; Licht drang ins Schlafzimmer. Einen Moment hielt er inne, schaute zurück. Er erkannte Nicoles weißen Körper zwischen den Laken. So makellos, so jung, so schön. Ihre festen Brüste hoben und senkten sich, einen Arm hatte sie über den Kopf gebeugt, der andere lag neben ihrer Taille. Sie war nackt, und wie sie da so lag in ihrem Schlaf, hätte kein Maler sie perfekter auf Leinwand bannen können. Sinnbild der Sinnlichkeit.
Vorsichtig schlich Gernot aus dem Raum, schloss die Tür. Er ging ins Wohnzimmer, machte Licht. Vor ihm auf der Kommode stand die Vase mit den Rosen. Traurig ließen sie ihre Köpfe hängen. Ihre Farbe war verblasst, braune Ränder zeigten sich. Zeichen der Vergängnis, des Verfalls. Der wievielte Strauß mochte es wohl sein, den er dort hatte verwelken sehen? Er wusste es nicht, längst hatte er aufgehört zu zählen.

„Gelbe Rosen!“, hatte Nicole sofort geantwortet, als er sie fragte, welches ihre Lieblingsblumen seien. „Keine roten und auch keine weißen. Gelbe müssen es sein. Um Himmels Willen auch keine Tulpen oder Narzissen oder Gerbera. Nein, gelbe Rosen müssen es sein!“
Und so kaufte er ihr gelbe Rosen. Woche für Woche einen Strauß aus dieser kleinen Gärtnerei, an der er seit Jahren auf dem Weg zur Arbeit vorbeikam. Nicole nahm sie jedes Mal, steckte sie, oft noch ins Papier gewickelt, in die Vase und blickte sie nie wieder an. Nur Gernot sah jeden Tag nach ihnen, sah sie verwelken und vergehen, die gelben Rosen.

Er setzte sich auf die Couch und starrte dieses Bild des Sterbens an. Wie schnell sie doch vergeht, dachte er, die Leidenschaft der gelben Rosen.
Und dann dachte er daran, wie alles begonnen hatte. Auf dem Betriebsfest im Sommer. Als sie auf ihn zukam, die junge Buchhalterin, ein Glas Sekt in der Hand, schon ein bisschen beschwipst. „Schön, dass wir uns mal näher kennenlernen“, hatte sie gesagt. „Ich heiße Nicole.“
Gernot hatte mit ihr getrunken und gelacht, hatte ihr zugezwinkert, als der Chef in seiner Rede davon sprach, dass doch alle „eine große Familie“ seien und zusammenhalten müssten. Dass auch in schweren Zeiten einer für den anderen da sein müsste und Sorge tragen und sich kümmern.
„Ich wäre gerne für dich da“, hatte Nicole in Gernots Ohr geflüstert. Ihre Stimme perlte wie Champagner auf seiner Seele, ihr Lachen entzündete ein Feuer. Eines, das er lange nicht mehr gespürt hatte. Wenn man jung heiratet, seine Jugendliebe, und bald darauf Kinder bekommt, wenn man seine Karriere schmiedet und Verantwortung trägt Tag für Tag, dann legt sich Staub auf die Träume von einst. Dann verglimmt das Feuer, Flämmchen für Flämmchen, erstickt unter diesem Staub und wird bald nur noch zur Erinnerung an etwas, das man manchmal schmerzhaft vermisst.
Dreißig Jahre wiegen schwer, dachte Gernot. So schwer, dass sie einen am Laufen hindern, dass sie Blei an den Füßen sind und an den Gefühlen und Gedanken. Dreißig Jahre, die viel zu schnell dahinfließen, sind irgendwann ein zäher Schleim, der einen hält.
Nicole hatte ihm die Hand gereicht und manches mehr. Befreit hatte sie ihn, erweckt. „Man lebt doch nur einmal“, sagte sie. „Komm, lass uns leben. Jetzt!“
Oh, wie wild sie war! Wie leidenschaftlich, frei, spontan! Sie trank, und sie tanzte, und sie lachte. Sie sang auf offener Straße und sie küsste ihn, wenn ihr danach war. Sie verführte ihn und ließ ihn Verführer sein, sie schwärmte von Paris, träumte davon Model zu werden, und sie wurde traurig, wenn sie daran dachte, dass sie bald dreißig werden würde.
Unwillkürlich dachte Gernot an Franziskas dreißigsten Geburtstag. Sie hatten ihn mit Freunden gefeiert. Es war ein gutes, ein fröhliches Fest gewesen. So wie ihr vierzigster, ihr fünfzigster Geburtstag …

Sein Blick heftete sich wieder an die Rosen. War Nicole nicht so wie diese Blumen? Verheißung, solange sie frisch und voller Saft waren. Bei ihr spürte er die Lust zu atmen, zu riechen, zu fühlen, mit ihr wollte er nach Ibiza fahren, nächtliche Feuerwerke entfachen. Das unbeschwerte Sein war sie, welches keine Vergangenheit hat. Doch auch Ungestümtheit und Aufregung.
Was war dagegen Franziska? Eher ein Baum, der Wurzeln geschlagen hat, der den Stürmen widersteht, der Kälte und der Sonne trotzt. Gewohnheit, bequem, verlässlich, vertraut. Sie stellte ihm eine Tasse Kaffee auf den Schreibtisch, wenn er Arbeit mit nach Hause brachte. Sein Ruhekissen war sie am Abend, wenn er müde war; in ihren Schoß konnte er seinen Kopf legen, und nichts musste ihm peinlich sein.
Erst jetzt, nach so vielen gemeinsamen Jahren, war ihm etwas peinlich. „Wirf alles weg“, hatte sie gesagt und geweint dabei. Aus Wut vielleicht. Vielleicht aus Trauer und weil sie verletzt worden war. Sicher nicht, um ihn zu halten. „Geh und leb dein Leben, wenn du glaubst, dass das dein Leben ist. Aber lass mir meines, hörst du? Weiter will ich nichts als nur mein Leben! Wenn es das Richtige für dich ist, dann liebe mich nicht mehr. Und ich werde dich nicht mehr lieben.“
Ruhig war sie dabei geworden, ganz ruhig. Und sie war seinem Blick nicht ausgewichen, und ihre Stimme hatte nicht gezittert. Er hatte nichts antworten können, und sie hatte nur auf die Tür gezeigt und gesagt: „Geh!“
Ihre Tränen hatten helle Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Gernot hätte sie gerne weggewischt, aber ihm fehlte der Mut. Diese kleinen Straßen auf ihrem Gesicht, das wusste er, würden für immer bleiben. Sie gehörten nun zu ihr. Es gab Spuren, die ließen sich nicht wegwaschen …

Er ging ins Bad. Im Spiegel sah er einen Mann, dessen Haut schlaff und dessen Haare dünner geworden waren. Ein ganzes Leben stand ihm ins Gesicht geschrieben, das konnte man nicht so einfach weglieben. Da war langsam Übergewicht gewachsen, da klebten schon Male auf der Haut, da hatten sich Falten gegraben.
„Weißt du, was mich tröstet?“, hatte Franziska ihn kurz vor ihrem Geburtstag gefragt und ihn dabei verschmitzt angestrahlt.
„Nein, was?“ Er hatte kritisch das Grau an seinen Schläfen betrachtet.
„Dass ich nicht alleine älter werde. Ein gutes Gefühl, finde ich.“
Nun fühlte Gernot sich einsam. Gerne hätte er jetzt Franziska neben sich gewusst, ihre Ruhe, ihre Stärke. Aber sie war nicht mehr da, er hatte sie verlassen. Eingetauscht gegen Nicole, die nebenan schlief, Kraft sammelte für all die Abenteuer, die auch an diesem Tag wieder auf sie warteten.
Kann man sich an ein schlechtes Gewissen gewöhnen?, fragte er sich. Irgendwann, gab er sich selbst die Antwort, wenn man nur oft genug lügt, wird es wie eine Verspannung im Nacken. Lästig, aber vernachlässigbar. Man wird vorsichtig mit seinen Bewegungen; man wird vorsichtig mit seinen Worten.
Gernot hatte Franziska oft belogen. Ausreden hatte er erfunden, wenn er bei Nicole sein wollte. Wenn sie fragte, wann er von der Arbeit oder von einem Geschäftsessen oder von einem Kundentermin zurück sein würde, hatte er sie belogen. „Ich weiß nicht“, hatte er oft gesagt, „bestimmt wird es spät. Bei diesen Treffen weiß man nie. Du brauchst nicht auf mich zu warten.“
„Ich weiß“, hatte sie beim letzten Mal gesagt, „ich weiß.“
Ihr Blick! So voller Verachtung, Widerwillen. Strafe! Dieser Blick hatte Gernot verraten, dass sie wirklich wusste, wirklich und ohne Zweifel. Aber sie hatte nichts weiter gesagt, ihm keine Vorwürfe gemacht, hatte nicht geschrien und geweint und gebettelt und gedroht. Stumm war sie geblieben, hatte nur ihren Blick sprechen lassen.

Die Verspannung schmerzte. „Franziska“, flüsterte er, wobei der Spiegel vor ihm beschlug und sein Jetzt verschwimmen ließ. „Franziska …“
Nächste Woche wollte Nicole unbedingt in den Urlaub fliegen. „Irgendwohin, wo es schön warm ist und wo die Sonne scheint. Wie wäre es mit Gran Canaria? Da kann man super Partys feiern.“
„Ich weiß nicht, ob ich unbedingt Partys auf Gran Canaria feiern will …“
„Langeweiler! Aber du kannst ja auch am Strand liegen oder Ausflüge machen. Ich will jedenfalls feiern!“
Nächste Woche mussten auch die letzten Äpfel aus dem Garten geerntet werden. Franziska machte daraus feinen Kompott und herrliche Säfte. „Gesünder geht’s nicht“, sagte sie oft. „Damit werden wir hundert Jahre alt.“
„Ich weiß nicht, ob ich unbedingt hundert Jahre alt werden will …“
„An apple a day keeps the doctor away“, rezitierte Franziska dann immer den alten Spruch. „Und jetzt iss deinen Apfel – ich will schließlich nicht alleine hundert werden!“

Gernot ging zurück ins Wohnzimmer. Draußen vor dem Fenster begann es hell zu werden. Ein neuer Tag. Es stürmte. Der Herbst zeigte, dass er bereits lauerte. Ein paar Wochen noch, dann würde es kälter werden und grauer. Die Sonne hatte schon keine Kraft mehr.
Sollte er zurück ins Bett gehen, sich neben Nicole legen, sich an sie schmiegen? Sie würde schnurren wie ein Kätzchen, sich ein bisschen wiegen, ihn dann vielleicht umarmen. Küsse, wandernde Hände, Stöhnen. Sie würden Sex haben. Zu schnell für sie, die leidenschaftlich war und hungrig. Er würde sich Mühe geben, ihr zu genügen; aber er wusste ja, dass man in seinem Alter diesbezüglich nicht mehr protzen konnte.
Mit Franziska hatte sich diese explosive Leidenschaft schon lange schlafen gelegt. Da ging es mehr darum, sich gegenseitig zu wärmen und zu halten. Sie schliefen noch miteinander, ja. Selten, aber doch regelmäßig. Ihre Körper kannten einander, hatten einander bereits alles gegeben und wussten um ihre Beschaffenheit. Zu beweisen gab es da nichts mehr; nur noch zu genießen.

Die verdorrten Rosen schienen ihm zuzunicken. „Tausch uns aus“, glaubte er sie wispern zu hören. „Wirf uns weg und kauf einen neuen Strauß. Einen, der frisch ist und leuchtet!“
„Ihr lebt immer nur ein paar Tage“, flüsterte Gernot. „Am Anfang strahlt ihr dreist wie die junge Sonne. Ihr wisst ja nicht, wie schnell vergänglich ihr seid. Ihr wisst es ja nicht!“
Er ging wieder ins Bad, wusch sich, zog sich an. Dann verließ er Nicoles Wohnung. Nichts blieb ihm von da als die Erinnerung an den Duft der gelben Rosen. Doch der verflog schon nach ein paar Tagen …

Gernot wusste nicht, ob er noch ein Zuhause hatte. Was, wenn Franziska ihn nicht mehr wollte? Verstanden hätte er es ja – und akzeptiert. Doch hätte es ihn auch in den Abgrund gestürzt. In das Nichts, in dem es keine Rosen gab und keinen Champagner, keine Liebe, kein Leben.
Die kleine Gärtnerei war bereits geöffnet. Also hielt er an und kaufte etwas für Franziska. Gernot hoffte, sie würde sein Geschenk annehmen. Denn dann, und nur dann, würde sie auch ihn wieder annehmen …

„Was ist das?“, fragte Franziska, als er vor ihr stand. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, blickte ihn unsicher an, hart.
„Das ist ein Apfelbäumchen“, sagte Gernot beschämt. „Ich glaube, wenn wir es an einem guten Platz einpflanzen und pflegen … vielleicht wird er eines Tages Früchte tragen.“
Franziska sah abwechselnd erst ihren Mann und dann das hilflose Gewächs in seiner Hand an. „Ja“, sagte sie schließlich, und auf ihrem Gesicht malten Tränen kleine Straßen. „Lass uns einen guten Platz dafür finden …“
 



 
Oben Unten