Genesareth

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Owly

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Das übergelaufene Wachs der roten Grabkerze krallte sich am Rand der ausgegrauten, abgestoßenen, zerkratzten und verlebten Kommode fest, und formte ein Muster wie auf einem indischen Bidjar-Teppich. Der Alte saß, gefesselt an einem Stuhl, davor. Sein Körper war wie die Kommode, seine Haut wie das Wachs, aber der Glanz seiner Augen pulsierte im Feuerschweif der heruntergebrannten Kerze. Der Glanz zeugte von einem immer noch lebendigem Geist.

In dieser Altarszene war der Alte Jünger. Eine junge, hübsche Frau predigte ihm Schmerz. Einmal im Monat suchte sie ihn heim und prügelte den Altersrost aus ihm heraus, wie Staub aus einem Sofa. Die Lust an der Perversion spielte dabei keine Rolle. Stattdessen ging der Alte auf Zeitreise. Jeder Schlag mit der Reitgerte, jede Verbrennung, jeder kleine Kniff und jede Beinahe-Strangulation, riefen eine Erinnerung wach, so intensiv wie der Begleitschmerz. Rente. Hausbau. Heirat. Arbeit. Kindheit. Je näher er dem Tod kam, desto weiter reiste er zurück. Und er wollte weiter zurück. Immer weiter. Bis zum Ursprung. Bis zum Eisprung.

Seine Herrin umkreiste ihn wie ein Lehrer, der über eine Strafe für einen ungezogenen Schüler nachdachte. Die Pfennigabsätze ihrer Lackstiefel bohrten Stigmata in den morschen Holzboden. Sie befanden sich in einem kleinen, schäbigen Raum auf dem Dachboden des Alten, der sich beim Betreten auftat wie der Rachen eines Wales. Feuchtigkeit hatte das Holz aufgequollen und eine Empore in der Raummitte herausgearbeitet. Wie gemacht für einen Propheten.

"Die Kerze ist gleich aus, aber ich bin noch lange nicht fertig mit dir.", verhieß sie in seinem Rücken. "Guck mich nicht an, guck nach vorne!" Sie holte mit der Gerte aus und geißelte dreimal dieselbe Stelle. Das Fleisch platzte auf, teilte sich, wie Mose einst das Rote Meer teilte. Zu den Füßen des Alten bildete sich sein eigenes Rotes Meer. Ein Wunder ohne Zeugen, aber ein Wunder bestimmt. Er stöhnte in Ekstase; stand vor seinen Arbeitskollegen im Foyer, die Applaus spendeten, während sein Chef ihm einen Strauß roter und weißer Nelken überreichte, Anekdoten erzählte, die üblichen Floskeln - "sie werden uns fehlen" etc. pp. - loswurde und ihm einen schönen Ruhestand wünschte. Er steigerte sein Gestöhn. Nicht weil der Schmerz zunahm, sondern weil er verblasste wie ein altes Kleidungsstück. Und mit ihm die Erinnerung. Sie verstand ihr Opferlamm inzwischen. Die Regungen des Alten, impulsiv und unverbraucht, beteten um ihre Gnadenlosigkeit. Wenn sie aufhörten und seine Augen müde wurden, war ihre Mission erfüllt.

Sie schritt zur Kommode und öffnete die oberste Schublade. Die Kerze flackerte heftig. In der Schublade lagen persönliche Arbeitsutensilien des Alten, Fragmente seiner Vergangenheit und Gegenwart, Ritualwerkzeuge. Sie holte eine Zigarrenkiste hervor, entnahm die letzte Zigarre und schnitt den Großteil ab. Er rauchte längst nicht mehr, schätzte aber das Aroma. Den Stumpen entzündete sie an der Kerze und paffte zweimal kurz daran. Mit dem Qualm weihte sie den Raum. Dann nahm sie einen tieferen Zug, beugte sich runter zu dem Alten und blies ihm den blauen Dunst ins Gesicht. Er schloss die Augen. Sie wippte den Zigarrenstummel zwischen Zeige- und Mittelfinger wie ein Trommler seinen Schlägel. Ihr Blick fixierte einen Punkt am Körper des Alten. Sie drückte das brennende Ende mit leichten Drehbewegungen in seine Oberschenkelinnenseite, knapp neben dem Penis. Es zischte. Sie öffnete ihm die Augen. Vor dem Rohbau seines Hauses kauerte er unter einem Stück Bauplane. Er gedachte dem plötzlichen Tod seiner Frau letztes Jahr und dem gemeinsamen Traum vom Haus, indem er davor wachte. Trauer, Wut und Hoffnung. Die Dreifaltigkeit des Verlustes. Zehn Ave Marias lang hielt das Feuermartyrium an, dann waren die Nervenenden zerstört. Der Alte kam zurück in die Gegenwart. Wieder stieß er Gestöhn aus. Seine Herrin war darüber erfreut. Sie genoss seine Hingabe und Opferbereitschaft.

Um sie zusätzlich herauszufordern, stampfte der Alte auf dem Boden wie ein Kleinkind, das nicht im Hochstuhl sitzen wollte. Der unstete Rhythmus missfiel ihr. Sie lehrte ihn Taktgefühl, indem sie mit einem Präludium aus Ohrfeigen fast seinen Unterkiefer brach. Sie klatschte sich in Trance und verlor die Kontrolle. Faustschläge gingen auf ihn nieder. Hämatome übersäten seinen Körper wie Druckstellen eine überreife Frucht. Der Alte ließ alles über sich ergehen. In dem Moment gab es schließlich keine Wahl. Die Folterkammer verwandelte sich in einen richtigen Altarraum und er hielt die Hand seiner frischgebackenen Ehefrau. Er drehte sich zur Hochzeitsgesellschaft, fand jedoch seine Arbeitskollegen vor sich, das Großraumbüro seiner ersten Versicherung, den wutschnaubenden Vorgesetzten, dessen zerknautschtes Gesicht aussah wie das eines leprakranken Mops, und sah an den schier endlosen Beinen seiner Mutter hoch, die ihn zu Disziplin, Gehorsam und Gottesfürchtigkeit ermahnte. Dem Alten standen Tränen in den Augen. Sie mischten sich mit Blut. Das gerade lief zu schnell ab. Er erkannte die verschwommene Figur seiner Peinigerin und Wohltäterin. Sie hockte vor der Kommode, hatte eine Hand unsicher auf die Brust gelegt und den Kerzenschein hinter ihrem Kopf. Was eine Frau war, die glaubte, zu weit gegangen zu sein, war für ihn ein Marienbildnis.

Der Alte schüttelte sich wie ein nasser Hund. Er brüllte in den Knebel, stürzte mit dem Stuhl vor, dass er umkippte. Sie kroch auf allen Vieren zu ihm und hatte ihre Souveränität wiedergewonnen. "Hast du etwa immer noch nicht genug?", fragte sie, die karmesinroten Lippen zu einem süffisanten Lächeln hochgezogen. Zur Antwort trat er nach ihr. Als er sie am Schienbein traf, wandelte sich ihr Lächeln zu einer verächtlichen Schnute. Sie umklammerte seinen Hals, drückte zu und ließ locker im Intervall der Atmung. Er zappelte weiter wie bei einer Massenevangelisation. Sie änderte das Intervall, würgte ihn länger und härter, und verkürzte die Ruhephase. Auf dem langsamen Weg zur Bewusstlosigkeit, während sein Kehlkopf brach, erlangte der Alte Transzendenz. Er hatte seine Knie angezogen, den Kopf darauf gelegt. Er schwamm im Fruchtwasser der Jungfrau.
 



 
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