Genuss ohne Reue

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valcanale

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Genuss ohne Reue

Natürlich ist es verrückt was sie da täglich anstellt, aber wer fragt schon danach und letztlich wäre es ihr auch egal. Sie freut sich auf diesen Moment, kann es kaum erwarten, wird dann schon immer ganz zappelig und unruhig, wenn sie mal nicht rechtzeitig von der Arbeit wegkommt oder der Bus Verspätung hat.
Der ganze Tag ist darauf abgestellt, mit Ausnahme des Sonntags, weil sie da sowieso zu Hause ist und die alte Mutter zu Besuch kommt, aber an den anderen Tagen wird das Ritual strikt eingehalten. Und da sie einen geschützten, überdachten und vor allem westseitigen Balkon hat, was wunderbar ist, wenn die Abendsonne scheint, findet es fast immer draußen statt. Selbst der Winter hält sie nicht davon ab, dann sitzt sie schon auch manchmal mit dem dicken Steppmantel und einem Thermophor im Rücken, nur wenn es allzu sehr stürmt und weht, oder die Temperaturen so absinken, dass die Hände rot frieren, dann muss sie es lassen und in der Wohnung bleiben, aber dann fehlt ihr das gewohnte Publikum, dann ist es nur der halbe Spaß, da kann sie schon auch mal depressiv werden. So wie an den Sonntagen, wenn ihre Mutter kommt und sie ihren Bedürfnissen nicht freien Lauf lassen kann. Sie hasst diese Sonntage, es ist alles anders, nichts ist so, wie sie es mag und der ganze Tagesablauf ist durcheinander. Sie hat schon versucht, es später zu machen, wenn die Mutter gegangen ist, aber da ist dann immer so ein eigenartiges Gefühl in ihr, eine Art Schuldbewusstsein, sie fühlt sich wie ein kleines Mädchen, dass verbotene Dinge tut. Obwohl es doch eine ganz natürliche, ja lebensnotwendige Sache ist.
Das mit dem Publikum macht ihr noch zusätzlichen Spaß. Zuerst hatte sie es gar nicht bemerkt oder für Zufall gehalten, aber dann fiel ihr auf, dass die alte Frau von gegenüber fast immer zur selben Zeit auf ihrem Balkon saß und sie bei ihrem Ritual beobachtete. Und sie schien immer mehr Gefallen daran zu finden. Das war natürlich nur eine Annahme, aber warum sollte sie sonst Tag für Tag genau zum richtigen Zeitpunkt dort sitzen und ihr zuschauen? Später gesellte sich noch ein Mann mittleren Alters dazu, der ihr von seinem Fenster aus zusah. Zuerst etwas versteckt hinter der Gardine, die er nur zur Hälfte weg schob, später dann sogar bei geöffnetem Fenster. Und auch er schien Gefallen daran zu haben, denn einmal – sie war schon mittendrin in ihrem Ritual – hatte er sich verspätet und riss fast hektisch und atemlos das Fenster auf. Als er merkte, dass er noch nicht zu spät gekommen war, meinte sie ein Lächeln auf seinem Gesicht zu erblicken.
Bei einigen Anderen war sie sich nicht so sicher, sie waren nicht immer da. Das junge Mädchen zum Beispiel im obersten Stockwerk des gegenüberliegenden Hauses. Wenn sie da war und sich auf das Fensterbrett ihres geöffneten Fensters setzte, sah es aus, als würde sie fast sehnsüchtig herüberblicken, aber genau konnte man das nicht sehen, dafür war die Distanz zu groß.

Begonnen hatte es eigentlich ganz harmlos. Nach einem stressreichen Arbeitstag, wo sie sich mit den Kunden herumgeärgert hatte und wieder einmal zu spät aus der Arbeit wegkam – was nicht bezahlt wurde – war sie in den nächsten Supermarkt gegangen und hatte Lebensmittel eingekauft. Auch solche, die sie sich sonst nicht leistete, aber die ihr gut schmeckten. Dann war sie nach Hause gefahren, hatte den Tisch auf dem Balkon mit dem schönen alten Porzellan, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, für zwei Personen gedeckt, zwei silberne Leuchter mit Kerzen dazugestellt und die Servietten so gefaltet, dass sie wie eine sich öffnende Blume auf dem Teller lagen. Aus den eingekauften Lebensmitteln hatte sie ein fünfgängiges Menü zubereitet und wie in einem Luxusrestaurant auf dem Beistelltischchen arrangiert. Selbstverständlich mit den jeweils dazupassenden Getränken.
Dann hatte sie Gang für Gang auf den Tellern aufgetürmt und mit Genuss verspeist, wobei sie abwechselnd von beiden Tellern aß und aus den bereitgestellten Gläsern trank. Dazu unterhielt sie sich mit einer imaginären Person, wobei sich das Gespräch hauptsächlich um die Qualität des Essens drehte.
Nach dem letzten Gang – einem Sorbet mit köstlichen Meringues – hatte sie sich rundum glücklich und zufrieden gefühlt. Es war eine Art Wohlbefinden, das sie sonst noch nicht in solcher Form erlebt hatte. Und während sie den Tisch wieder abräumte, hatte sie beschlossen, sich diesen Genuss öfter zu gönnen.
Schließlich wurde es zu einem täglichen Ritual. An Tagen, wo es nicht stattfinden konnte oder das Wetter ungeeignet war, oder sich zuwenig Publikum einfand, ging es ihr deutlich schlechter. Ein Höhepunkt war, als ihr der Mann mittleren Alters einmal mit einem Glas Wein von seinem Fenster aus zuprostete, als sie wieder einmal ihr eigenes Glas zu ihrem imaginären Gegenüber am Tisch erhob.
Eines Tages läutete während des Rituals ihre Türglocke. Zuerst wollte sie gar nicht reagieren, sie erwartete niemanden und wollte auch nicht gestört werden. Unterhalb ihres Balkons hörte sie Stimmengewirr, sie blickte auf die Strasse und sah einen Rettungswagen vor dem Wohnhaus stehen. Nun ging sie doch zur Wohnungstüre um zu öffnen, vielleicht war etwas passiert und man wollte sie informieren.
Vor der Tür standen zwei Männer in weißen Kitteln, dahinter ein Mann mit einer schwarzen Arzttasche. „Wir haben einen Hinweis bekommen“, sagte der Mann mit der Tasche, „würden Sie uns bitte einlassen, ich müsste Ihnen einige Fragen stellen!“
Im Stiegenhaus hinter den Männern wurde das Stimmengewirr lauter, Menschen drängten sich auf den Treppen, sie erkannte die alte Frau und das junge Mädchen aus dem obersten Stockwerk des gegenüberliegenden Hauses. Ein Mann drängte sich nach vorne, es war jener, der ihr einmal zugeprostet hatte und schob den Mann mit der Tasche beiseite. „Hallo“, sagte er fast atemlos zu ihr, „wie schön, dass wir es alle noch pünktlich geschafft haben!“ Und zu den weissbekittelten Männern gewandt: „Es ist alles in Ordnung, wir sind hier eingeladen, sie haben wohl eine falsche Information bekommen! Lassen sie die Frau in Ruhe!“ Und er drehte sich zu den Leuten im Stiegenhaus um, die alle lächelnd und voll Vorfreude nickten.
 
DasEnde gefällt mir durchaus. War irgendwie versöhnlich. Der ganze erste Abschnitt erscheint mir insgesamt aber etwas langatmig. Hier wäre -meine Meinung- weniger mehr gewesen.
 

valcanale

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Danke, Monsieur Milan, für deinen Leseeindruck!
Für mich sehr interessant, da ich eher dachte, die Geschichte wäre zu kurz um zu verstehen, was da wirklich abläuft. Die Länge auch deshalb um etwas Spannung hineinzubringen (dass es sich um kochen und essen handelt, wird ja erst im letzten Abschnitt thematisisert).
Liebe Grüße Valcanale
 



 
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