Gerd

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Marc Hecht

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Gerd

„Wir könnten Andi mitnehmen, oder Gerd", hatte Doro erklärt. Sie stand vor dem Schrank und packte und war schon voller Vorfreude.
Ich stimmte zu. Eine gute Idee war das.
Von allen meinen Freunden hatte Doro am stärksten Gerd in ihr Herz geschlossen. Er hatte sie damals im Sturm erobert. Bis heute sitzt ein kleiner Stoff-Delphin in ihrem Ankleidezimmer, ein Stoff-Delphin, der immer zusehen darf, wie sie sich an- oder umzieht, sie hatte ihm einen Ehrenplatz zugewiesen, auf der Kommode, neben ihrem Schmuck. Gerd hatte ihn ihr geschenkt, den Stoff-Delphin, denn von allen Tieren erinnere ihn ihr freundliches Wesen vor allem an einen Delphin, hatte er dazu erklärt, deshalb - statt Blumen... die ja im Angesicht ihrer eigenen Schönheit sowieso viel zu schnell verwelkten...
Sie war entzückt, die linkische und altmodische Art, in der Gerd dies alles vortrug, hatte sie verzaubert. Sein Stoff-Delphin jedenfalls hatte seitdem einen Ehrenplatz - und auch sonst hatte sie Gerd tief in ihr Herz geschlossen. In Doro hatte Gerds Schicksal von Anbeginn eine unauslöschliche Zuneigung entfacht, sie fand ihn „süß" und „brillant" und „tragisch" - seine schüchterne Zurückhaltung gegenüber Frauen faszinierte sie, für sie war Gerd etwas ganz Besonderes.
*
Wir wussten damals noch nicht, wohin es gehen sollte, nur raus wollten wir, ein paar Tage raus aus Berlin. In die Natur. Doro freute sich sehr darauf, seit Tagen schon.
Schließlich fuhren wir nach Rheinsberg; es war das zweite Mal, seit wir uns kannten, frisch verliebt hatten wir dort schon einmal zauberhafte Tage verbracht.
Damals war Rheinsberg jedoch noch kaum wiederentdeckt worden; nur wenige Besucher hatten sich damals in den Schlossgärten und im Ort verloren, alles war noch recht schäbig und heruntergekommen.
Jetzt jedoch mussten wir feststellen, dass der Ort mächtig herausgeputzt war; am Triangelplatz vor dem Schoss standen Pferdekutschen für die Gäste bereit; aus dem „Deutschen Hof" erklang Marschmusik; Bänder mit bunten Flaggen säumten die Restaurants und Cafes; Dutzende Tische waren auf die Bürgersteige gestellt worden und auf dem See wimmelte es von Tret- und Ruderbooten und Ausflugsdampfern voller Touristen.
„Rimini in Preußisch", hatte ich gesagt, und Doro wollte sich darüber halbtot lachen.
Wir waren weitergefahren, nach Norden, und kamen in einen Ort, der „Flecken Zechlin" hieß. „Flecken" - das hatte mir gefallen, und wir hatten dort ein Haus gefunden, ein Häuschen, dicht am Wasser, ganz für uns allein. Alles war klein, das Wohnzimmer, die Küche, das Bett; wir zogen dort ein, wanderten durch die Wälder, an kleinen und großen Seen vorbei, besichtigten alte Feldsteinkirchen in den Dörfern und liebten uns, im Häuschen, im Wald, einmal auch im See, beim Schwimmen, und abends las ich Fontane, las noch einmal den Stechlin, der genau in dieser Gegend spielte. Doro schlief dann schon, ihr Kopf schlief auf meiner Brust und ich streichelte ihr Haar und war glücklich.
*
Drei Tage später fuhren wir nach Gransee, zum Bahnhof. Gerd kam dort an, ich hatte es so arrangiert, dass ich zuerst ein paar Tage mit Doro allein war - und wir hatten uns dann beide gefreut, als er schließlich aus dem Zug gestiegen war. Gerd war noch dicker geworden - er trug einen leichten Sommermantel, der Mantel spannte sich jedoch wie eine Wurstpelle um seinen Körper. Er hatte auch noch tiefere Geheimratsecken bekommen, war braungebrannt - Gerd sah immer mehr aus wie Willy Brand - Willy Brand in dick. Er sprang aus dem Zug, dick und behende, und lachte und sein braunes Gesicht war voller freundlicher Furchen. Er hatte kaum etwas bei sich, nur einen kleinen Koffer. Doro hatte ihn begrüßt, ihn flüchtig auf die Wangen geküsst - war dann aber ein paar Abteiltüren weiter gegangen - denn dort war uns doch wahrhaftig Iris entgegengekommen, Iris, eine Freundin von Doro. Auch sie trug einen kleinen Koffer. Doro hatte mir nichts davon erzählt, es war ganz offenbar eine ihrer Marotten, ihrer kleinen Verrücktheiten. Iris war eine groß gewachsene Frau, blond, hübsch, Mitte dreißig, sie hatte große blaue Augen, arbeitete in einer Bank und hatte früher mit Doro zusammen Klavierunterricht, ganz früher, als Kind; bei der selben Lehrerin, seitdem kannten sich die beiden.
Meine Frau hatte Iris und Gerd bekannt gemacht und hatte lapidar erklärt: „...tja, dann sind wir wohl zu viert, für die nächsten Tage..." Es war recht offensichtlich, was Doro da versucht hatte - und uns allen war es sehr peinlich. Doro konnte so etwas nicht. Gerd hatte mich verlegen angesehen, aber ich zuckte die Schultern, zeigte, dass ich keine Ahnung hätte; Iris hatte freundlich gelächelt, mit ihren großen blauen Augen, auch sie wusste offensichtlich nichts, hatte umher gesehen, und wurde dann ebenfalls verlegen.
Schließlich hatte ich alle mitgezogen und wir waren zu viert ins Bahnhofsrestaurant marschiert. Ich hatte eine Flasche Sekt bestellt, zur Begrüßung. Wir plauderten und nach dem ersten Schreck wurde es recht lustig. Gerd war hingerissen von der Situation, sofort begann er zu brillieren mit seinen Anekdötchen. Es war eine Freude, ihm zuzuhören. Er war ein großer Erzähler. Und ein großer Schauspieler. Schon immer.
Als sie ihn damals zum Militär einziehen wollten, gleich nach dem Abitur, hatte er es zum Beispiel in einer wahrhaften Tonio-Kröger-Adaption verhindert. Hatte damals nicht nur auf verrückt gemacht, sondern gleich auch noch auf schwul, verklemmt schwul - in einer ganz schrägen Art; als wolle er es sich selbst nicht recht zugeben. Und als der Militär-Arzt schließlich gefragt hatte, ob er sich denn auch zu Männern hingezogen fühle, hatte Gerd zu Boden geblickt, in die Enge getrieben, ängstlich - hatte aufgeregt gehustet und erklärt: „...weiß nicht...?" Genial war das, schon damals. Er wurde nicht angenommen beim Militär, er wurde ausgemustert.
Und hier, jetzt, in der Bahnhofskneipe von Gransee, in dieser ungewöhnlichen Situation, war Gerd sofort charmant, zuvorkommend, witzig, fand alles entzückend - und plauderte. Und er hätte es also langsam angehen lassen, auf der Fahrt hierher. Hätte sich dies und das angesehen, Perleberg zum Beispiel. Dort hätte er halt gemacht, aus einer Laune heraus, und weil er einmal gelesen hätte, dass Perleberg die „Perle der Prignitz" wäre. Aber das wäre nun eine traurige, eine blasse Perle gewesen... und er hätte dort zu Mittag gegessen, in einem hübschen Gastkrug, gegenüber der Kirche - und wäre also ins Gespräch gekommen, mit zwei Herren... nette Leute... und hätte „eine Runde" Bier bestellt. Gerd sah auf, schwieg, dann, die Empörung in Person: „Und was soll ich euch sagen? Die Kellnerin antwortet doch glatt: ‚Nein danke, für mich nicht, ich bin im Dienst!’ Ist das die Möglichkeit...?!"
Die Frauen kicherten, ich bestellte eine zweite Flasche Sekt. Gerd erging sich schließlich in der Frage, ob es vielleicht eine Tradition, ein alter Brauch sein könnte, noch vom Sozialismus her. Ein Brauch, der in kleinen Dorfgasthöfen im Osten bis heute gilt: Die Kellnerin wird immer mit eingeladen... im Sinne der Gleichheit ... alle sollten gleich besoffen werden...
Die Damen waren höchst amüsiert, wir tranken die zweite Flasche Sekt und brachen schließlich auf. Es war spät geworden.
*
Gerd und Iris konnten wir jedoch unmöglich in unserem Häuschen wohnen lassen; also suchten wir ein Quartier für die beiden, waren durchs Dorf gelaufen, zu viert, durch den Flecken, alles war schon still, nur ein paar Krähen hatten gekrächzt, in den Wipfeln der Kiefern, am Ufer. Wir gingen über die Dorfstraße, und bewunderten die Stille, die Wälder rings um den See waren schon schwarz in ihren Konturen; und auch der See war schwarz, schwarz und glatt lag er da, manchmal schrie eine Wildente auf, oder ein Haubentaucher, und seine Flügel klatschten kurz auf das Wasser; ansonsten war alles still.
Endlich hatten wir eine Pension gefunden. Ja, zwei Zimmer wären noch frei, die Wirtsfrau freute sich, war überrascht und hatte so spät am Abend keine Gäste mehr erwartet.
Wir inspizierten die Zimmer; anständige Zimmer, und die Damen wollten plötzlich „allein sein"; es war der Gipfel des schlechten Verkupplungsversuches meiner Frau; nun wollte man sich also offensichtlich besprechen, hinsichtlich dieser Angelegenheit... und mein Freund Gerd kam auf den Prüfstand.
Gerd fand auch dies „entzückend". Zuerst war er zwar überrascht, aber dann fand er es „entzückend". Doros offensichtlicher Versuch, ihm eine Frau zu verschaffen, rührte ihn wohl zutiefst.
Wir wurden also weggeschickt, sollten uns vergnügen - und ich zog Gerd mit, froh, der peinlichen Situation zu entkommen. Auf dem Weg entschuldigte ich mich bei ihm, für diesen „Mummenschanz", aber er winkte ab; und da gäbe es ja wohl Schlimmeres.
Wir liefen noch einmal über die Dorfstraße. Auch die Krähen hatten sich jetzt zur Nachtruhe begeben, es war vollkommen still, den See konnten wir nur noch erahnen. Und durch die Wälder ringsumher rauschte manchmal leise der Wind.
Wir blieben stehen. Gerd sah in den Himmel.
„Schön ist es hier", sagte er.
„Ja."
Ich sah ihn an, von der Seite, sein Profil, selbst jetzt in der Nacht wirkte es freundlich und gütig. Interessiert, offen, neugierig aufs Leben, fürsorglich beim Schicksal Anderer, nur sein eigenes Leben bedeutete ihm nicht mehr allzu viel, er hatte sich längst arrangiert, hatte resigniert, eingesehen, dass der Alkohol ihn immer wieder einholen wird.
Gerd konnte wochenlang keinen Tropfen anrühren - und dann war er tagelang verschwunden und wusste später von nichts mehr. Seit fast 20 Jahren ging das jetzt so. Einmal hatte er mir erzählt, wie er auf einer Verkehrsinsel aufgewacht war, in einer fremden Stadt, sitzend, an eine Laterne gelehnt, ohne Schuhe. Grausame Sauftouren mussten das sein, die Gerd immer wieder aus der Bahn warfen. Er hatte längst aufgegeben - für sich selbst.
„Schön ist es hier", sagte er jetzt noch einmal.
„Was hältst du von ihr?"
„Von wem?"
„Von Iris."
„Ach so. Ja, hübsch..."
Gerd ließ keine Frauen an sich heran. Nicht richtig, jedenfalls, über kurz oder lang müsste er dann ja sein furchtbares Elend preisgeben, seine regelmäßigen Saufzüge, nein, Gerd lebte seit langem lieber allein.
*
Schließlich marschierten wir wieder ins Wirtshaus, was sollten wir anderes tun? Hier war nicht viel los, um diese Zeit, im „Flecken Zechlin", hier war sonst überhaupt nichts los.
Wir bestellten Schnitzel und später Schnaps und Bier.
„Auf jeden Fall hat sie hübsche Titten", hatte Gerd erklärt, nach ein paar Schnäpsen - und ich stimmte ihm zu: „Du könntest sie heute nacht gleich vögeln..."
„Nein!" Gerd war entsetzt; wenn überhaupt, müsse es langfristig sein, mit Verständnis und so weiter...und ob ich wirklich glaube, dass er Iris gefallen könnte.
„Na klar, hast du das nicht bemerkt?"
„Ich? Nein! Was sollte ich denn bemerkt haben?"
„Du hast Eindruck auf sie gemacht."
„Naja, Eindruck...Eindruck ist das Eine", erklärte er, zaghaft, Gerd war rührend, in diesen Dingen. Offenbar hatte Iris ihm ein wenig den Kopf verdreht, jedenfalls lockerte er seinen Schild. Iris, mit ihren blauen Augen, ihren großen festen Brüsten, die Beine in den kurzen Hosen waren ein bisschen zu dick, die Füße ein bisschen zu groß, alles an ihr war groß – aber Gerd schien es mächtig zu beeindrucken. Und ich beschloss, ihn darin zu bestärken. Auch wenn ich wusste, wie es ausginge – wenn es denn begänne.
„Wer Frauen zum Lachen bringen kann, hat sie fast schon auf dem Rücken", hatte ich deshalb erklärt, etwas zu burschikos, angeheitert vom Schnaps, aber es war auch meine feste Überzeugung.
Gerd jedoch hatte zweifelnd geblickt. Wenn das so wäre, dann käme er ja vor lauter Bumserei zu nichts anderem mehr..., nein, nein: „Sie mögen zwar den, der sie zum Lachen bringt", hatte er erklärt, „aber dann brauchen sie noch einen Anderen, einen, der sie ganz humorlos durchvögelt."
Ich wischte das weg, als Blödsinn - und er solle die Chance nutzen. Insgeheim jedoch bekam ich ein wenig Angst. Ich wusste, wie es ausginge – im Ernstfall, Gerd war ein denkbar schlechter Kandidat für Iris; es begänne mit unendlicher Nachsicht ihrerseits, seinen Kapriolen und Saufzügen gegenüber, denn sie wusste ja, was für ein schwieriger Fall er nun mal war, Doro hatte es erzählt, in ihrer rosaroten Romantik. Und wie süß Gerd im Grunde wäre, und wie schüchtern und so weiter.
Aber Iris war auch eine tüchtige Frau, erfolgreich, im Leben stehend, zuverlässig in ihrem Beruf, bei einer Bank auch noch, dem Inbegriff eines korrekten Berufes. Täglich ging sie in diese Bank, eingebunden, in kleine Animositäten und in Kollegen, die man „auch mal privat" einladen könnte.
Für Gerd wäre dies alles nichts, zwar hätte er bei den ersten Einladungen durchaus geglänzt, und hätte die gesamte Schar überbügelt mit seiner Weltläufigkeit und mit seinem Wissen und mit seinem Humor - und alle hätten ihn für einen tollen Kerl gehalten; doch spätestens beim dritten Abendessen hätte Gerd sich das erste Mal besoffen - und man wäre höchlichst pikiert - und die gesamte Fassade bräche peau a peau zusammen; und übrig bliebe Iris, die fleißige und hübsche und zielstrebige Frau, die zu ihrem kleinen Glück nur noch einen Mann brauchte; und dann an einen zauberhaften Alkoholiker geraten war, der ihr Leben und ihr Renommee in der Bank auf lange Zeit ramponierte, bis sie sich endlich von ihm getrennt hätte.
So wäre es gekommen, wie immer, wenn Gerd etwas mit einer Frau anfing. Er konnte einen Abend glänzend überstehen, eine Woche - aber keine längeren Distanzen.
Trotzdem – ich erklärte noch mal, vehement, dass er sie bestimmt schon heute nacht haben könnte, ganz bestimmt.
Gerd jedoch wischte das weg, peinlich berührt fast, unwillig: „Na, wir werden ja sehen", hatte er schließlich erklärt, geduldig, wie ein Bauer, der im nächsten Herbst auf gute Ernte hofft. Er war rührend, in Frauendingen. Immer Kavalier, bis zur Lächerlichkeit.
Einmal saßen wir nachts in einer Kneipe auf St. Pauli - und am Nachbartisch hatte ein farbiger Zuhälter seine Hure beschimpft. Gerd war damals aufgestanden und hatte dem Schwarzen nacheinander auf deutsch, englisch und französisch erklärt, dass er diese Dame hier in Ruhe zu lassen hätte und verschwinden sollte... es hatte einen furchtbaren Streit gegeben, Gerangel, die Angestellten der Bar waren dazwischen gegangen - und der Zuhälter wurde schließlich hinausgeworfen. Die Hure hatte Gerd gedankt, verängstigt, keineswegs glücklich.
So war Gerd.
*
Wir plauderten und tranken, im Wirtshaus vom Flecken Zechlin. Ich erzählte von Fontane; und dass es ganz unmöglich wäre, ihn nicht zu lesen, hier, in dieser Gegend.
Gerd hatte genickt, weise, bedeutungsschwer, und sein dickes Kinn war ihm dabei auf die Brust gefallen: „Fontane war gut", hatte er gesagt, und Effi Briest zum Beispiel wäre um keinen Deut schlechter als etwa Emma Bovary. Oder Anna Karenina. Und ob ich denn nun vorankäme, mit der Schreiberei?
Ich winkte ab, resigniert.
Er sah mich treuherzig an.
„Du bist nur noch zu hitzig", hatte er erklärt.
Es war eine Freude, wie ein Nobelpreisträger hatte Gerd das gesagt, wie einer, der diese Sorgen in seinen frühen Jahren auch alle durchmachen musste, mutmachend und voller Verständnis. Obwohl er doch keine Ahnung hatte, von den wirklichen Qualen der Schreiberei. Aber es war großartig.
Ich genoss den Abend, drängte alle schlechten Gedanken beiseite. Es war eine Freude, mit Gerd hier zu sitzen, zu trinken und zu plaudern. Hier, in der Grafschaft Ruppin, wie es bei Fontane hieß.
*
Schöne und unbeschwerte Tage waren es, in diesem Spätsommer; wir machten Ausflüge in die Umgebung, zu viert, wanderten zwischen Wasser und Wäldern umher, die Frauen sammelten Beeren, und wir badeten nackt in den Seen. Gerd traute sich zuerst nicht, hielt sich für zu dick und dies wäre für uns andere doch eine Zumutung, aber wir hänselten ihn, bis auch er schließlich seine Kleidung ablegte und dann wie ein Walross ins Wasser plumpste und prustete.
Ich hatte vom Kloster Chorin gelesen, bei Fontane, eine ellenlange Abhandlung, und ich wollte dort unbedingt hin, es war nur eine kurze Autofahrt; ich erzählte von den Zisterzienser-Mönchen; von den Sagen um das Kloster; von der weißen Jungfrau, die dort nachts über dem See erschiene, weil ihr Liebster nicht zurückgekehrt wäre...
Die beiden Frauen hörten fasziniert zu. Gerd jedoch lehnte sich zurück, auf seinem Sitz, ganz gespielte Empörung: Dies seien ja alles olle Kamellen und ich solle lieber andere Geschichten lesen, als junger und moderner Schriftsteller. Und das mit der weißen Jungfrau wäre ja schlichtweg Thünkram, wie man in Hamburg so schön sage; er jedenfalls wäre lieber nach Schloss Rheinsberg gefahren, wo schließlich der Geist vom alten Fritz schwebe - und von den Hohenzollern - das wäre was Handfestes... aber gut, er lasse sich gern überraschen, von meinem Kloster.
Allerdings war dann wirklich nicht viel übrig geblieben, vom Kloster Chorin - nur ein paar alte, nichtssagende Ruinen.
„Sehr bedeutend", Gerd hatte übertrieben aufmerksam umhergesehen und eine verrottete Säule inspiziert,... „sehr bedeutend..."
Später jedoch ließ er sich versöhnen; wir aßen zu Mittag, in einem alten Gasthof; das Kesselgoulasch dampfte - und es gab berühmtes Bier dazu, im eigenen Keller gebraut. Gerd trank ein paar Gläser vom Choriner Mönchsbräu - und verteilte Komplimente: „Von Bier versteht ihr was", hatte er dem Kellner erklärt. Der Kellner dankte recht freundlich. Alle Menschen dankten recht freundlich, wenn Gerd sie mit seinen Komplimenten überschüttete. „Sie machen Ihre Sache ausgezeichnet", konnte er zum Kellner sagen, nur weil der das bestellte Bier an den Tisch brachte. Und es war eine Freude ihm zuzuhören.
*
Am nächsten Morgen klopfte es. Doro und ich saßen noch am Frühstückstisch. Es war die Vermieterin, schüchtern stand sie in der Tür, und sie wolle so früh nicht stören - aber es wäre wohl dringend, „von Ihrem Freund." Sie übergab mir ein Papier und verschwand schnell.
Ich faltete es auf: Bin abgereist. Zauberhafte Tage. Wollte kein großes Aufsehen machen. Gruß an alle, melde mich. Gerd.
 

Gorgonski

Mitglied
Hallo Marc

Eine schöne lange Kurzgeschichte. Bliebe nur die Frage, ob für Gerd die Zeit zu lang geworden war (und er seinen Suff nicht mehr verbergen konnte), wenn er mit Iris was angefangen hat, oder ob da nichts gelaufen ist.
Es kann natürlich sein, daß es sich jeder Leser selbst ausmalen muß.

MfG; Rocco
 



 
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