Gerda und ihr Musiklehrer

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Jean-Claude

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Gerda und ihr Musiklehrer

Das Zimmer war blau – hellblau - und vom Fenster schien die Sonne durch den ganzen Raum. Gerda wurde durch diesen klaren Sonnenstrahl geblendet. Noch nie hatte sie ein so schönes Zimmer gesehen und ein bisschen war sie eifersüchtig auf den Besitzer oder die Besitzerin. Sie würde aber nie wissen, wer hier wohnt. Und sie wusste auch nicht, in wessen Wohnung sie stand. Ja, sie wusste es nicht. Das ist nicht seltsam, für denjenigen, der Gerda kennt.

Gerda wurde diesen Frühling vierundzwanzig, und sie durfte ihren Geburtstag im großen Garten ihrer Eltern mit zwei Freundinnen feiern. Es war das erste Mal, dass ihr dies die Eltern erlaubten. Sie durfte noch nie in den Garten hinter dem großen Haus. Warum man ihr den Zutritt verweigerte, konnte sie nicht erfahren. Die Eltern wichen den Fragen ihrer Tochter aus. „Es ist einfach so. Du bist zu klein.“ – Gerda war nicht zu klein. Sie konnte alles haben, wenn sie es wirklich wollte. Auch von ihren Eltern. Nur der Garten war ein Tabu. Dabei war es ein ganz einfacher Garten mit einer Fichte und einer Rottanne, die Gerda von ihrem Zimmerfenster aus sehen und hören konnte, wenn der Wind leise durch ihre Äste säuselte. Als kleines Mädchen träumte sie davon, unter der großen Rottanne zu liegen und durch die Äste den blauen Himmel zu beobachten. Sie wusste, dass die Luft unter der Tanne ganz anders sein musste. Frischer und angenehmer, als diejenige in ihrem Zimmer. Und an ihrer Geburtstagfeier durfte sie zum ersten Mal unter ihren Ästen sitzen. Zusammen mit ihren Freundinnen Maya und Katharina.

Aber das hat eigentlich nichts damit zu tun, warum Gerda ständig in die Zimmer anderer Leute schleicht. Nein, Gerda weiß auch nicht warum, aber irgendwie reizen sie diese Besuche. Sie ist auch nicht besonders neugierig. Sie will nicht wissen, wie andere leben, was sie in ihren vier Wänden tun. Bestimmt nicht.
Irgendwie kann sie sich aber auch nicht erklären, warum sie plötzlich in einem neuen Zimmer steht und der Duft von fremden Menschen, Büchern und Kleidern in ihre Nase steigt. Türen muss sie nie aufbrechen. Wenn sie verschlossen sind, lassen sie sich ohne weiteres öffnen. Gerda hat einen besonderen Dreh, damit die Türen fast von alleine aufspringen. Sie vermutet, dass die Räume darauf warten, bis Gerda sie besucht und in ihnen herumstöbert.
So hat sie schon viele Zimmer gesehen. Anhand von den Gegenständen kann sie heute sagen, ob hier jemand alleine wohnt. Sie spürt, ob ein Mann in den Räumen wohnt oder eine Frau. Sie kann sagen, ob ein glückliches Ehepaar hier lebt oder, ob es Kinder im Haus hat. Ganz einfach, wird der Leser dieser Geschichte behaupten. Ganz einfach. Im Badezimmer wird Gerda einen Rasierapparat finden und daraus schließen, dass hier ein Mann wohnt; ein Mann, ganz alleine oder ein verheirateter Mann, wenn noch andere typische weibliche Gebrauchsgegenstände vorhanden sind. An den Spielsachen kann sie ohne Probleme erkennen, ob Kinder im Haus wohnen.
Mag schon sein, dass Gerda solche Dinge sieht und daraus ablesen kann, wer hier wohnt. Aber Gerda sieht ganz andere Dinge. Ist doch nicht interessant, ob ein Mann oder eine Frau oder gar ein Ehepaar mit Kindern in einer Wohnung leben. Gerda interessieren ganz andere Dinge.
Sie kann zum Beispiel sehen, was der Mann in diesem Haushalt für einen Beruf ausübt. Ein Bilanzbuchhalter hinterlässt einen ganz anderen Duft als ein Metzger. Bilanzbuchhalter duften nach Papier, haben trockene Hände und hinterlassen Staub, ein Metzger hingegen hat feuchte Hände, hinterlässt einen süßen Duft von Blut in der Luft. Gerda kann auf Anhieb sagen, wie groß jemand ist, auch wenn sie den Besitzer der Wohnung noch nie zu Gesicht bekommen hat. Gerda riecht diese Dinge. Sie riecht an den Kleidern, die auf Stühlen liegen. Sie streift mit ihren zarten Händen über die Bücher in den Regalen und weiß, dass die Bücher von einer Frau gelesen wurden. Bücher, die von Männern gelesen wurden, fühlen sich ganz anders an, als diejenigen, die in zarten Frauenhänden lagen.
Manche Zimmer kann Gerda nicht ausstehen. Sie fühlen sich wie kleine Gefängnisse an. Sie haben Fenster, aus denen man nicht sehen kann. Sie fühlen sie schmuddelig an. Die Luft ist in solchen Zimmern abgestanden, schwer. Diese Räume sind nicht dazu da, dass man in ihnen lebt. Sie sind letzte Lebensstätten für Menschen. Sie erdrücken das Leben mit ihrem Raum. Gerda spürt sofort, wenn sie in ein solches Zimmer tritt, dass entweder die Menschen in diesen Räumen krank sind oder miteinander streiten und Probleme haben. Sie haben Gicht, sie haben Rückenschmerzen und grinsen kleine unschuldige Mädchen in Warenhäusern an. Sie sind Feuer spuckende Drachen, die alles in Beschlag nehmen und unter ihren Fängen ersticken. – Vor solchen Räumen hat Gerda aber keine Angst. Sie hat gelernt, mit solchen Räumen umzugehen.

In diesem hellblauen Zimmer, in welchem sie sich nun befand, lebte anscheinend kein Mensch. Es roch weder nach Frau, Mann oder Kind. Der Raum war menschenleer. Es gab viele Gegenstände, die einer Frau oder einem Mann gehören könnten. Stehlampen, Bücher, eine große Blumenvase aus Glas, ein bequemer Stuhl zum Entspannen und eine Violine. Aus Erfahrung konnte Gerda sagen, dass nur freundliche Menschen Violinen in ihren Zimmern stehen haben und Blumenvasen aus Glas. Violine spielen erfordert Fingerspitzengefühl und ein feines Ohr für liebliche Klänge. Gerda musste den Violinkasten öffnen, denn nur so konnte sie herausfinden, wer auf dem Instrument spielte. Vorsichtig legte sie den Kasten auf den blank geputzten Parkettboden und öffnete ihn. Noch nie hatte sie ein solches Instrument berührt. Ihr Herz schlug schneller und machte Purzelbäume in ihrer Brust. Da lag sie, eingebettet in feinem weinrotem Samt. Gebirgsfichtene Decke, Griffbrett, der Saitenhalter und der Wirbel aus Palisander. Sie nahm das Instrument in die Hand. Es fühlte sich so sanft an. Die Violine wurde bestimmt von einer Frau gespielt.


„Gefällt sie dir?“ fragte eine sanfte Männerstimme. Gerda erschrak und ließ das Instrument beinahe fallen.
„Pass’ auf! Die habe ich von meinem Großvater. Eine Giuseppe Desiato, Neapel 1886.“
„Tut mir Leid.“ Gerda erstarrte vor Angst. Sie konnte kein Glied mehr bewegen. Flucht kam nicht in Frage, denn der Mann stand im Türrahmen, war groß, lächelte freundlich und streckte seine Hände nach Gerda aus.
„Was tust du in meiner Wohnung? Wer hat dich hereingelassen?“
„Ich … ich wollte nur …“
„Ja, was wollest du hier? Scheinbar hast du noch nichts kaputt gemacht.“ Der Mann blickte in seinem hellblauen Zimmer umher, um zu prüfen, ob nichts fehlte. Ihm war völlig klar, dass Gerda kein Dieb war und bestimmt nichts geklaut hätte. Langsam kaum er auf Gerda zu und nahm seine Giuseppe Desiato in seine Hand, um das Schlimmste zu verhindern.
Das Mädchen starb schier vor Schreck. Sie dachte, er würde sie nun gehörig weichklopfen oder noch schlimmer, er würde sie zur Polizei bringen und die Polizei würde dann ihre Eltern benachrichtigen. Ja, sie würde ganz schön in die Mängel genommen. Umso mehr war sie überrascht, als ihr der Mann sagte, sie solle doch Platz nehmen.
„Möchten Sie etwas trinken? Eine Limo oder eine Tasse Tee?“
Gerda war nun wirklich sprachlos. Alles hätte sie erwartet aber dieses Angebot konnte sie nicht ausschlagen, denn der Mann entsprach wirklich ihrer Theorie der sanftmütigen Geigenspieler. Er hatte eine angenehme Stimme, gleich einer beruhigenden Studie von Satie und die Augen von Tom Cruise. Gerdas Angst verwandelte sich plötzlich in stille Erwartung. Eigentlich hatte sie keinen Durst, sagte aber, sie hätte gerne eine Limonade.
Eli Talltree ging in die Küche und kam nach ein paar Minuten wieder mit zwei Gläsern in der rechten und einer Flasche Limonade in der linken Hand zurück. Er setzte auf den Boden, direkt zu Gerdas Füssen, denn es gab keine andere Sitzmöglichkeit in diesem Zimmer als den einen Stuhl, auf welchen sich Gerda gerade gesetzt hatte.
„Ich bin Musiklehrer. Habe ein paar Schüler. Die sind etwa im gleichen Alter wie Sie. Wie war noch ihr Name?“
„Gerda“ sagte Gerda und dachte, hoffentlich fragt er mich nicht über meine Herkunft aus. Sie wollte keinen näheren Kontakt mit diesem Mann haben. Warum war ihr eigentlich nicht ganz klar, denn er war ihr nun wirklich sympathisch. Schließlich hätte er alle Gründe gehabt, mit ihr verärgert zu sein, denn man dringt nicht in fremde Wohnung und durchstöbert fremdes Eigentum.
„Gerda, sehr schön. Spielen Sie auch ein Instrument?“
„Ein bisschen. Ich habe eine Gitarre.“ Gerda war völlig unmusikalisch und musste schon in der ersten Klasse staunen, wenn ihre Schulfreundinnen Flöte spielten und diese hieroglyphenartigen Zeichen auf den Notenblättern verstanden. Später als sie von ihrem Patenonkel eine Gitarre geschenkt bekam, hoffte sie, sie müsste deswegen nie Musikstunden nehmen. Als sie Herrn Talltree auf die Frage, nach dem Unterricht, sagte, sie sei vor Jahren ein paar Stunden unterrichtet werden, hoffte sie schon, er möge ihr keine Musikstunden anbieten.
„Ich könnte Sie unterrichten.“
„Nein, vielen Dank. Ich bin unmusikalisch und kann mir Noten nicht merken.“
Herr Talltree lächelte und spürte, dass er Gerda nicht mit solchen Fragen belästigen sollte. Es schien ihr eher peinlich als angenehm.
„Liebe Gerda, Sie können mir gerne Eli sagen.“ Das war ihr nun wirklich peinlich, obwohl ihr der Name ‚Talltree’ ziemlich fremd vorkam.
Eli erzählte die Geschichte von seiner Frau. Sue musste, nach dem Leuchten in Talltrees Augen, wunderschön gewesen sein. „Sie war schlank, und ich hatte den Eindruck, sie hinterlasse jedes Mal, wenn sie einen Raum verließ, den Duft von Lindenblüten.“
Gerda hatte wohl bemerkt, dass Sue nicht mehr leben musste. Unmöglich hatte er sich von dieser Frau freiwillig getrennt, denn er war immer noch in sie verliebt. Vorsichtig fragte Gerda, ob Sue denn krank war.
„Nein, meine Liebe. Das hätte Vieles … – wenn du das auch jetzt vielleicht nicht verstehen kannst -, das hätte Vieles einfacher gemacht.“
Das konnte Gerda nun wirklich nicht verstehen. Zuerst war Eli traurig über den Verlust seiner Frau und nun meint er, der Verlust wäre tragbarer gewesen, wenn Sue an irgendeiner Krankheit gelitten hätte. Komischer Typ!
„Ich kann mir jetzt vorstellen, was du gerade denkst.“ Eli erhob sich vom Fußboden und trat ans Fenster. Sein Blick verfinsterte sich. Und das sympathische Lächeln, das seine Mundwinkel leicht nach oben zog und dabei Lachfalten an den Augenwinkeln entstehen ließ, hätte jedem, der Eli Talltree kannte, gezeigt, dass er wirklich traurig war.
Gerda hatte plötzlich Mitleid. Sie wollte sich schon erheben und diesen armen, traurigen Mann verlassen. Auch das hellblaue Zimmer, verlor plötzlich seinen geheimnisvollen Glanz, von vorhin, als sie unverschämt in diesen Raum trat, der ihr doch gar fremd war.
„Warum willst du gehen?“
Eli hatte Recht. Zuerst wollte Gerda mehr erfahren und hat diesen Mann fast aufgefordert von sich zu erzählen und jetzt, wo es unangenehm wurde, wollte sie sich einfach aus dem Staub machen? Nein, das ging nun wirklich nicht.
„Sue wurde ermordet. Brutal vergewaltigt und danach hat ihr der Mörder mit einem Zimmermanns-Hammer den Schädel eingeschlagen. – Ich konnte Sue fast nicht mehr erkennen. Den Killer hat man gefasst. Dieser Mann wird in den nächsten Jahren hingerichtet.“
„Hingerichtet?“
„Virginia, USA. Dort ist es noch so, dass man so brutale Morde mit der Todesstrafe ahndet.“
Gerda musste tief schlucken und blickte direkt in Elis Augen. „Findest du das gut?“
„Die Todesstrafe finde ich nicht gut, nein. Obwohl, wenn ich an Snake Benson denke, so heißt dieses Schwein – entschuldige bitte diesen Ausdruck -, dann kann ich mir vorstellen, dass ich ihn höchstpersönlich erwürgen würde. Ich könnte ihm mit großem Vergnügen die Todesspritze ansetzen.“ Elis wurde vor Wut ganz rot im Gesicht. Bei seinen letzten Worten schnaubte er wie ein wildgewordener Hengst. Doch langsam fasste er sich wieder, als er Gerdas erschrockene Blicke sah.
„Du musst verstehen. Snake Benson ist kein gewöhnlicher Mörder. Snake glaubt, er wäre ein ausgesprochener Philosoph. Er bereut seine Tat in keiner Weise.“
„Philosoph? Ein philosophierender Mörder? Das kann doch jeder sagen. Zuerst stehlen, morden oder was auch immer und dann behaupten, man sein Philosoph. Das musst du mir schon näher erklären.“
Eli war verwundert über die Neugier, die Gerda trotz des heiklen Themas an den Tag legte. Langsam spürte er auch, dass er sich beruhigen konnte. Das Blut floss nicht mehr in brennenden Strömen durch seine Adern, doch Eli hatte Kopfweh, er griff sich nach der Stirn und sagte: „Nun muss ich mich wirklich wieder setzen, bevor mir der Schädel platzt.“
„Ist dir nicht gut?“
„Geht schon wieder.“ Er nahm wieder wie vorhin vor Gerda Platz auf dem Boden, lächelte kurz und erzählte ihr von einer seltsamen Theorie, die Snake mit allen Kräften vertrete. Es sei eine alte Theorie von einem französischen Philosophen namens Georges Bataille, der 1957 von der Erotik sprach, sie sei die Zustimmung zum Leben bis in den Tod hinein. Die Verarbeitung der latenten Präsenz des Todes sei also unterschwellig oder bewusst Teil des erotischen Spiels.
„Snake hat mit Sue gespielt und wollte ihr die Todesnähe beim sexuellen Akt zeigen. Sue hat versucht sich zu wehren war aber der Kraft ihres Henkers erlegen.“ Nach diesen Worten hielt Eli inne und ein paar heiße Tränen traten in seine Augenwinkel. Er wischte sie gleich wieder ab und sagte: „Jeder Mensch lebt in seiner eigenen Haut und niemand kann ihn wirklich verstehen. Das macht ihn so auf sich alleine abgestellt. Er lebt in seiner relativen Einsamkeit und strebt trotzdem nach Gemeinsamkeit. Alle Ereignisse sind zeitlich unterbrochen, ja, sie sind nicht nur zeitlich, sondern auch noch räumlich voneinander getrennt. Gerade so, wie ich heute von Sue getrennt bin. Aber lassen wir das sein. Ich will dich nicht mit diesem Kram langweilen.“ Eli blickte auf seine Uhr. „In ein paar Minuten wird meine erste Schülerin kommen, aber du kannst gerne wieder bei mir vorbeikommen. Dann führen wir unsere Unterhaltung weiter.“
Gerda erhob sich von ihrem Stuhl und streckte Eli die Hand zum Gruß aus. „Es war sehr schön, mit dir zu reden. Ich komme gerne wieder einmal vorbei.“

Als Gerda auf dem Bürgersteig vor dem Haus stand, in dem Eli wohnte, blickte sie noch ein letztes Mal zum Fenster hoch. Da stand Eli und winkte ihr freundlich zu. Sie winkte zurück und ging bedächtig die Holbeinstrasse hinunter und blickte noch zwei-, dreimal zurück, denn sie hatte den Eindruck jemand würde ihr folgen. Aber niemand war da.
 

GabiSils

Mitglied
Hallo Jean-Claude,

eine interessante Geschichte mit spannenden Ansätzen, aber sie wirkt auf mich noch nicht recht rund.
Zunächst braucht sie sprachliche Überarbeitung; es sind viele Zeitfehler bzw. unmotivierte Tempuswechsel darin, auch der ein oder andere Helvetismus, der zum Rest nicht ganz paßt (hier z.B.: "Sie können mir gerne Eli sagen").
Vor allem aber glaube ich, du versuchst zuviel hineinzupacken. Die rätselhafte Gerda mit den besonderen Fähigkeiten, die aber offenbar nicht ganz gesund ist, wäre allein Thema genug. Der Sexualmord an Elis Frau und der philosophische Täter, dann noch das Todesstrafen-Problem - das ist mir im Rahmen einer Erzählung zuviel, oder aber zu hastig abgehandelt. Die gamze Eli-Szene sollte entweder gestrafft oder besser ausgearbeitet werden.

Insgesamt habe ich es gern gelesen. Eine Überarbeitung würde sich lohnen.

Gruß,
Gabi
 



 
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