Gerechtigkeit

frasdorf

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Die Tür im Flur stand halboffen. Das erste, was Paul Landing auffiel, war der Geruch von totem Fleisch. Er kannte den Geruch aus dem Leichenhaus und von Sezierungen. Kein Problem, aber für seinen Kollegen, Officer Jack Bender, schon. Sofort stieß die Wolke aus Verwesung den Frischling zurück, als der die Tür auftrat. Er schickte den Polizisten nach unten und sagte ihm, er würde hier schon klar kommen. Aber er schickte ihn auch weg, weil er einen Verdacht hatte. Eine Vermutung oder ein Gefühl, das ihm wie schwere Steine im Magen lag.
Als er sich alleine wähnte, zog er die 38er und näherte sich, benebelt von süßlichem Todeshauch, der Tür. Er kannte die Wohnung hier im 15. Stock. Ein Zimmer, ein Bad, eine Kochnische. Ein Raum, der Endstation für Gescheiterte war. Nicht groß genug für Einen, aber hier lebten drei. „Lebten“, dachte sich Landing, „der ist gut“. Es ist die Bleibe von Susan Moore, ihrem Mann Gary und seinem Bruder Valdo. Es ist die Bleibe von einer Einfältigem, einem brutalen Schläger und einem Vergewaltiger. Es ist die Bleibe von Trauer, Gewalt und Demütigung und jetzt, als Paul die Wohnung betritt, ist es das letzte, traurige Kapitel eines einst so hübschen Mädchens, das in Vorstellung eines besseren Lebens nach New York kam und die Wirklichkeit mit Gary und seinem Bruder erfuhr.
Paul erwartete, als er Zimmer 1532 betrat, ein Blutbad. Normalerweise waren es die Nachbarn, die Woche für Woche Streit und Lärm und verzweifelte Schreie meldeten. Als aber nun seit mehreren Tagen nichts mehr aus der Wohnung zu hören war, ging die Angst vor einem Verbrechen um und war ebenfalls Grund genug, wieder einmal die Polizei zu verständigen. Paul kannte Susan gut. Er besuchte sie im Krankenhaus, wenn sie mal wieder übel zugerichtet wurde. Er traf sie „zufällig“ bei ihren wenigen Einkäufen im Store unten an der Straße. Er versuchte mit allen Mitteln, sie zum Reden zu bringen. Aber sie wollte oder konnte nicht. Ohne ihre Aussage gab es nie einen triftigen Grund, den Moore-Brüdern mal ordentlich in den Arsch zu treten. Es gab viele Momente, in denen sich Paul fragte, was eine Frau dazu veranlassen könnte, Gewalt und Nötigung hinzunehmen, nur um nicht alleine zu sein. Sie war bestimmt keine Ausnahme, aber die Dimension, mit der sie fertig werden musste, schrie geradezu nach einem traurigen Höhepunkt. Und dieses Finale lag nun vor Paul, als er den Vorhang direkt hinter der Tür zum Wohnraum wegzog. Er steckte paralysiert die 38er wieder in den Brustgurt. Die brauchte er hier nicht mehr.
Das Deckenlicht flackerte, die Tür zum kleinen Balkon stand offen. Leise drang der Verkehrslärm, vermischt mit Sirenengeheul und dem Rauschen nasser Windböen nach oben. Im Raum inmitten von Unrat, Bierflaschen, Kakerlaken und von einem Kampf gezeichneten Möbeln lagen die Brüder. Die Leichen zeigten auf den ersten Blick Verwesung im fortgeschrittenem Stadium. Deutlich zu erkennen war bei Valdo, der auf dem Rücken in einem Haufen Pornofilme lag (passender Platz zum Sterben für ihn, dachte sich Paul) die Einstiche in seinen Augen, wobei er das zweite Auge offenbar schützen wollte, den auch seine linke Hand war durchbohrt. Sein Bruder lag auf dem Bauch zwischen Valdo und der Balkontür. Auch hier war ein Schnitt zu erkennen, der sich in der Halsgegend befand. Zumindest die Blutlache, die sich wie eine Korona um Gary ausgebreitet hatte, deutete darauf hin. Er hielt ein altes Messer in der rechten Hand.
Paul interessierte sich nicht sonderlich für die Leichen, abgesehen von seinem geringen Mitgefühl für deren Ableben. Er ging auf den Balkon hinaus und sah Susan. Der Regen, der seit zwei Tagen auf die Stadt niederging, hatte ihre langen, braunen Haare in eine Art Gestrüpp verwandelt. Sie trug ob der niedrigen Temperaturen nur ein Nachthemd, aber deutlich waren restliche Spuren von Blut und Risse im Stoff zu erkennen. Er sah den einfachen Slip und die gelb-braunen Flecken, die sich durch den Stoff abzeichneten.
Paul zog seine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Kurz zuckte sie und er konnte erkennen, das auch sie mit einem Messer bewaffnet war. Dieses allerdings hatte eine Menge getrocknetes Blut auf der breiten Klinge. Sie sah ihm in die Augen und er erkannte die Trauer und Befreiung darin. Sie musste tagelang hier ausgeharrt und geweint haben. Die Haut unter den Augen war dick und blutunterlaufen.
„Paul, schön sie hier zu sehen.“ Sie versuchte, ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. „Ich habe sie nicht erwartet, sonst hätte ich mich gerne etwas mehr in Schale geworfen.“
Ihm fehlten die passenden Worte. Was sollte er ihr auch sagen. Sie würde mit absoluter Sicherheit nie wieder den Regen oder die Sonne erleben, wenn ihr der Prozess für diesen Doppelmord gemacht worden ist.
„Susan,...“ Sie schaute durch ihn hindurch und ihr Blick war leer. Er hatte das Gefühl, eine lebendige Leiche vor sich zu sehen. Und war sie nicht die Jahre über immer ein Stück mehr gestorben.
„Susan, ich muss sie jetzt leider mitnehmen.“
„Ich weiß. Werde ich wieder zurück kommen?“
„Ich glaube nicht.“ Er seufzte. Sie würde nirgendwo mehr hinkommen. Sie hatte ihr Leben gelebt. Hier war Endstation und Spiegelbild der Gleichgültigkeit, in der wir alle heute leben. Er fasste sie am Arm und führte sie zurück in den Raum. Sie standen vor den Brüdern und er sah ihr noch mal ins Gesicht.
Was er sah, war der Auslöser für das, was folgen sollte. In ihrem Blick lag nicht Genugtuung, sondern Gerechtigkeit. Er wusste, was zu tun war. Paul nahm ihr das Messer ab und steckte es in die Innentasche seiner Jacke. Sie beobachtete ihn dabei und ein kurzes Lächeln umspielte ihre rissigen Lippen. Es bedarf oft keiner Worte, eine Vereinbarung zu treffen. Sie nickten sich zu und verließen den Raum und Susans bisheriges Leben.
Er würde das Messer tief vergraben und mit ihm die Wahrheit, denn die Wahrheit war nicht immer richtig. Er würde ein Geheimnis mit sich herum tragen müssen, das ihn eines Tages brechen könnte, aber jetzt in diesem Moment war nur ein Wort in seinem Kopf, das unauslöschlich mit diesem Tag verbunden wurde: „Gerechtigkeit“.
 

Arezoo

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Hallo frasdorf,

gleich im zweiten Satz bin ich etwas gestolpert.
'Sezierungen' - etwas ungeschickt gewählt. Ich glaube noch nicht einmal richtig falsch, klingt aber komisch.
Du meinst sicher 'Sektionen' (syn. Obduktion, Autopsie).
Alles in allem erinnert mich die Geschichte ein wenig an Jerry Cotton.
Nicht ganz mein Fall.
Zu gewollt amerikanisch.

Aber trotzdem liest es sich recht flüssig runter.

Liebe Grüße,
Arezoo
 

frasdorf

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Mmmmh

Hallo, Arezoo..

..erst mal vielen, vielen Dank für deinen Kommentar.

Nun zur Sache: Ich hab nachgeguckt, also:
Sektion = Leichenöffnung
Sezierung = Leiche öffnen und anatomisch zerlegen

Nun meine ich, das du dich einfach an dem Wort selber störst, weil dadurch eine gewisser Lesefluss unterbrochen wird. Das ist ok! Ich finde auch, das Sektion sich durchaus besser anhört, nur in meinem Wortschatz war das bis dato noch nicht drin :)

Ach ja: Es gab schon andere, die sich bei dem Text an "Sieben" oder "Mord im Orient-Express" erinnert fühlten. Ist wohl Ansichtssache. Ich fühle zum Beispiel gar keinen Bezug zu Cotton oder co. Aber na ja: Is doch schön, mit so berühmten Personen oder Filmen verglichen zu werden. :)

MfG
Christian Ertl
 

MDSpinoza

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Ich hab noch nie versucht, eine Waffe in einem Brustgurt zu führen, ich verwende dafür ein Schulterholster. Ist übrigens nicht immer sehr bequem.
Nach mehreren Tagen auf einem windigen Balkon ist man meist so unterkühlt, daß das Transportmittel der Wahl der Notarztwagen ist. Auch ist es recht unwahrscheinlich, daß, wenn man selbst klatschnaß oder zumindest gut durchfeuchtet ist, das Blut auf dem Messer in der Hand antrocknet...
Was den Vergleich mit der Prominenz angeht, das muß nicht um jeden Preis ein Kompliment sein ;-))
 

Arezoo

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@MDSpinoza: ;)

Lieber Frasdorf,

eine Sektion: innere Leichenschau, Öffnung aller drei Körperhöhlen und das Präparieren der inneren Organe, meist zur Feststellung der Todesursache.
(auch ganz einfach nachzulesen bei 'Wikipedia')

Anatomisch Zerlegen - lass das keinen Pathologen hören... ;)
Recherche ist eine der wichtigsten Grundlagen für Autoren.

Liebe Grüße,
Arezoo
 

frasdorf

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Spaß?

An MDSpinoza: Mich würde mal interessieren, welche Geschichten du liest und ob da welche darunter sind, die dich auch unterhalten, oder besteht dein Lebensmittelpunkt darin, akribisch nach Fehlern zu suchen. Nicht falsch verstehen, ist durchaus ok, Leute auf Fehler aufmerksam zu machen, aber deswegen kann es doch gute Unterhaltung sein (ich vergleiche das jetzt mit Filme: Die Beliebtesten (nach Besucherzahlen, wohlgemerkt) sind auch die mit den meisten Filmfehleren. Und trotzdem gute Unterhaltung. Ich schreibe das deshalb, weil du nur auf Fehler aufmerksam machst. Kein Wort, ob es dir gefallen hat oder nicht. Ob Potential darin steckt oder nicht. Ob sich eine Überarbeitung lohnt oder nicht.

An Arezoo: Erstens kenne ich Wiki, zweitens: "Anatomisch zerlegen" aus Area-Fremdwörterlexikon (ISBN: 3-89996-101-3)

Liebe Grüße,
Christian Ertl
 

MDSpinoza

Mitglied
frasdorf, warum schreibst Du? Weil es Dir doch offensichtlich Spaß macht. Es macht noch mehr Spaß, wenn man sein Handwerk beherrscht. Ob mir eine Geschichte gefällt oder nicht, das ist doch wurscht. Mich ärgert es nur, wenn Autoren ganz offensichtlich bereits bei Trivialitäten ins Schleudern kommen und darunter eine möglicherweise gute Idee leidet. Ich bin auch nicht perfekt, ganz sicher nicht. Ich suche aber nach Perfektion, auch wenn ich sie nicht immer finde. Dabei hilft es durchaus, wenn man mch auf Fehler aufmerksam macht.
So nebenbei, wenn ich meinte, Deine Stories seien keine Überarbeitung wert, würde ich auch keinen Kommentar schreiben.
 

frasdorf

Mitglied
Sorry

Entschuldige, MD

Ich wollte dich nicht verärgern. Eigentlich bin ich ganz froh darüber, das du meine Texte kommentierst. Daher weiß ich wenigstens, welche Geschichten eine Überarbeitung lohnen und welche nicht. Weißt Du, ich schreibe, weil es mir wahnsinnig Spaß macht. Wenn dann Fehler drin sind, mein Gott, die kann man korrigieren. Dafür sind solche Leute wie du da, um hier und da einen Fehler zu zertreten. Also, ich hoffe, du wirst meiner nicht überdrüssig.

Ach ja: Es war mein voller Ernst, als ich dich danach fragte, was du so liest. Vielleicht kannst du mir es ja bei Gelegenheit mitteilen.

Noch was: Bis auf einzelne Ausnahmen finde ich deine Kleingedichte nicht allzu schlecht. Zeigt doch von Gefühlen, die ich anfangs nicht bei dir vermutet hätte.

MfG
Christian Ertl
 



 
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