Geschichte des Monats (old school): Der Schilderkrug

Steltz

Mitglied
Der Schilderkrug

für
MAY AYIM



Das Wetter war drückend, eine Belastung für all die Menschen, die in außerordentlichem Maße von ihrer Umwelt beeinflußt werden. Die ersten sonnendurchfluteten Tage des Monats Mai waren einem Mischwetter gewichen, wie es für den April typisch ist und die vergangenen Frühsommertage waren in den Augen vieler nicht mehr gewesen als ein gegebenes Versprechen, das nicht eingehalten worden war.
Die Tische und Stühle der Cafés und Gaststätten waren aufgrund des unangenehmen Wetters genauso aus dem frühsommerlichen Straßenbild verschwunden wie die jungen Frauen, die die ersten Sonnenstrahlen als Anlaß genommen hatten, ihre neue Sommermode zu präsentieren. Die Straßen waren wie leer gefegt.
Auch vor dem Schilderkrug, einer gemütlichen, alteingesessenen Gaststätte, war die Straße entlang der alten Linden unbelebt. Die Bäume wankten im willkürlichen Takt des unangenehmen Windes. Sie wirkten beinah einsam, gab es doch niemanden mehr, dem sie Schatten hätten spenden dürfen.
Nachdem der erste Gästeansturm (sommerlicher Durst sehnt sich nach kühlem Naß) nun verebbt war, war die Stimmung unter den Angestellten des Schilderkrugs befreiter. Zu zweit wurde die Mittagsschicht begangen, während drei Wochen zuvor zur selben Uhrzeit mindestens fünf Kräfte im Einsatz gewesen waren. Das entspannte Arbeitsklima genoß ich in tiefsten Zügen, denn ich war damals selbst einer der Kellner. Es war die Zeit, in der ich mein Studium im 4.Semester etwas schleifen ließ, da mir die vorangegangenen drei Semester gezeigt hatten, daß ein noch so engagiert geführtes Universitätsleben es einem nicht ermöglicht, die üblichen Rechnungen zu begleichen. Den Großteil meiner Zeit im Schilderkrug verbringend, konnte ich in dem Jahr auch nur eine einzige Veranstaltung im Germanistikbereich besuchen. Im Nachhinein betrachtet, finde ich es lustig, daß ich nicht genügend Zeit investieren konnte, um den Kurs erfolgreich abzuschließen. Das Thema des Seminars war nämlich „der Aspekt der Zeit in den Werken Thomas Manns“.
Diese Miesewetterwochen sind mir aus zwei Gründen in lebhafter Erinnerung geblieben: zum einen da ich in diesem Zeitraum erstmalig während des laufenden Semesters den Freiraum hatte, mich zumindest ein wenig mit Thomas Mann zu beschäftigen, zum anderen da ich noch öfters an ein spezielles Erlebnis in diesen Tagen gedacht habe.
Unter den wenigen Gästen, die der Regen nicht vom Schilderkrug fernhielt, war ein älterer Mann, der seit mehreren Wochen regelmäßig zur Mittagszeit zugegen gewesen war. Graue Schläfen können Männern eine gewisse Wirkung auf Frauen jedes Alters verleihen, doch erweckte dieser Stammgast mit seiner zurückhaltenden und überdurchschnittlich höflichen Art den Eindruck eines Mannes, der den sexuell uninteressanten Status eines Großvaters erlangt hatte. Ungefähr eineinhalb Stunden saß er täglich alleine in einer stillen Ecke bei einem gewählten, nicht zu edlen Wein. Wäre dieser Gast nicht in seiner gesamten Erscheinung kultiviert gewesen, hätte er bestimmt ein passendes Ziel für den Spott der Kellnerschaft abgegeben. Ein Mann der nichts besseres zu tun hatte, als tagtäglich in die Kneipe zu wandern! Dieser Gedanke wäre eigentlich naheliegend gewesen. Doch aufgrund seines sympathischen Auftretens kamen keinem von uns solche Gedanken. Auch kam es nie vor, daß er länger als gewöhnlich geblieben wäre oder daß er zuviel getrunken hätte. Seine Anzüge waren gepflegt, auch wenn sie nicht allzu erwählt anmuteten, dafür war das Trinkgeld, das er zu geben pflegte, großzügig bemessen. Auch ohne diese spendablen Trinkgelder wäre er einer der angenehmeren Gäste gewesen.
Obwohl wir gerne mal ein bißchen plauderten, wußte ich so gut wie nichts über den Mann. So sehr ich mich jetzt auch anstrenge, kann ich mich nicht mal mehr an seinen Namen erinnern. Da der Alte es allerdings sehr gut verstand, die Konversation zu lenken, wußte er doch einiges über mich. Verglichen mit dem, was ich über ihn in Erfahrung gebracht hatte, kannte er mein Leben nahezu in- und auswendig. Er kannte meinen Namen, wußte, was ich studierte und noch so manches andere.
Der Tag, der mich vornehmlich an den älteren Herrn erinnert, war mein letzter Arbeitstag vor einer Woche Urlaub. Spontan hatte ich meinen Arbeitsalltag über den Haufen geworfen, weil eine ehemalige Freundin von mir ernsthafter erkrankt war. Arm in Arm mit diesem Mädchen erlebte ich den schönsten Sommer meines Lebens. Den Sommer, in dem ich 18 und sie zu einer Frau wurde. Obwohl wir schon länger kein Paar mehr waren und mittlerweile in verschiedenen Städten wohnten, war sie immer noch einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, ihr beizustehen.
Geplagt von den Sorgen um meine Freundin konnte ich an diesem Tag keinen klaren Gedanken fassen; zu dominant waren die Ängste, die mich in der Nacht zuvor bereits vom Schlafen abgehalten hatten. Ich erinnere mich daran, daß mehr als nur ein Glas Opfer meiner Mißgeschicke wurde. Was schief gehen konnte, ging schief. So kam es auch, daß ich dem freundlichem Herrn versehentlich Wein über die Hose goß, als ich zu ihm an den Fenstertisch trat. An jedem anderen Tag hätte es mich aufs Höchste verärgert, daß ich ausgerechnet diesem Stammgast (dessen Trinkgelder einen wesentlichen Anteil an meinem Gehalt hatten) dieses Übel zugefügt hatte. Ich hoffte, den freundlichen Alten nicht allzu sehr verärgert zu haben. Er war schien auch nicht allzu aufgebracht zu sein, denn er reagierte gelassen:
„Ach, junger Mann, Sie scheinen ja auch nicht ganz auf dieser Welt zu sein.“
Verwirrt stotterte ich einige Entschuldigungen hervor, die der Alte mit einer seichten Handbewegung verstummen ließ. Mit seiner ruhigen, nüchternen Stimme fügte er hinzu:
„Ist schon gut, kein Grund zur Beunruhigung. Sehen sie, ich hab ja beinahe schon alles weggewischt, außerdem gehe ich anschließend ohnehin nach Hause. Da kommt es auf den einen Flecken auch nicht an. Wissen Sie was, Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie sich auf einen kurzen Moment zu mir setzten.“
Auf der einen Seite froh darüber, daß der Mann den Zwischenfall so gelassen auffaßte, auf der anderen Seite eingeschüchtert und in unsicherer Erwartung dessen, was nun folgen mochte, nahm ich dem Ergrauten gegenüber Platz. Mich mit seinen blaßgrauen Augen anvisierend begann er die Konversation:
„Nun, ich will die Gunst der Stunde nutzen, um ihnen das Werk einer Dichterin zu eröffnen, die nicht viel älter ist als ich Sie schätze. Sie studieren doch Germanistik, oder? Gut, dann kann das Gedicht ihnen nur Freude bereiten.“
Obwohl er mich mit einem höflichen Lächeln bedachte, fühlte ich mich unwohl. Irgendwie kam ich mir vor wie ein Schuljunge in Erwartung eines Klassenbucheintrages. Während er in der Innentasche seines Jacketts kramte, wandte er seine Augen nicht von mir ab. Wollte er mich belehren? Wollte er ein unschuldiges Gedicht benutzen, um mir ein schlechtes Gewissen zu bereiten?
Verunsichert dachte ich mir, daß mein Gegenüber vermutlich nicht allzu wohlhabend war und daß die Reinigungskosten ihn schon treffen würden. So ging ich zahllosen Gedanken nach in diesem Moment. Dann hatte er das Gesuchte gefunden und reichte mir einen Zettel herüber. Das Papier war von dickerer Beschaffenheit und stammte wahrscheinlich aus einem Buch. Ich begann zu lesen, wobei sich meine unbegründeten Zweifel an den guten Absichten des Gastes sofort verflüchtigten. Der Titel war „Sehnsucht“. Überrascht von der eben erst erschaffenen Intimität zwischen dem Alten und mir las ich weiter:

Sehnsucht

gefrorene kristalle
geliebter erinnerungen
nisten in meinen augenhöhlen
spiegeln mir dein entferntes gesicht
als einen schatten auf mein herz


Ach, das Gedicht ließ mich plötzlich in einer anderen Welt verharren. Ich vergaß, wo ich war, warum und, ach, alles Gewohnte verschwand aus meinem Bewußtsein. Bilder des Sommers, in dem ich volljährig wurde, standen plötzlich vor meinem inneren Auge. Willkürlich, herkunftslos und wundervoll, gefror die Welt um mich herum, während ich durch die Zeit reiste. Ich spürte das sanfte Streicheln der Sonne auf meinem Gesicht und mir war beinah, als könnte ich das trockene Salz auf ihrer Stirn schmecken.
„Sehen Sie, junger Mann, das mit der Hose ist nicht der Rede wert“ erklang die Stimme des Alten.
Genauso willkürlich wie sie gekommen waren verschwanden die Erinnerungen in mir wieder.
„Ernsthaften Schaden bringt uns nur eins bei: die Zeit. Verstehen Sie mich, ach, was können Sie in ihrem Alter schon über die Zeit wissen. Wahrlich, der Volksmund irrt nicht, wenn er sagt, daß sie alle Wunden heile, doch vergißt er dabei, daß die Zeit uns auch unsere Visionen raubt und unsere Erlebnisse verfärbt, von Jahr zu Jahr verblassen die Farben. Auf leisen Sohlen pirscht sie sich an, kein noch so wachsames Auge wird sie auf frischer Tat erfassen können. Behalten Sie das Gedicht, ich kann es ohne Vorlage aufsagen, es ist Zeit, daß ich mich auf den Weg mache. Mir ist plötzlich nicht mehr nach Wein, entschuldigen Sie.“
Er legte einen Schein auf den Tisch, großzügig wie gewohnt, und ließ mich alleine zurück. Erfüllt von dem Gedicht fragte ich mich zunächst gar nicht, was es dem Alten bedeuten konnte. Ich fragte mich nicht einmal, wie er dazu gekommen war, es mir zu geben. Erst nach meinem einwöchigen Krankenbesuch und nachdem der Alte mehr als eineinhalb Wochen dem Schilderkrug ferngeblieben war, faßte ich mehr und mehr solche Gedanken. Es mag Trauer gewesen sein, vielleicht war der Grund dafür, daß er täglich allein bei einem Glas Wein ausgeharrt hatte, daß er Zuhause niemanden mehr hatte, der ihn hätte erwarten können. Vielleicht, vielleicht. Ich vermag es nicht zu sagen, denn leider habe ich diesen Mann nie mehr wiedergesehen, nicht im Schilderkrug, noch sonstwo. Vielleicht wirkte das Gedicht auf den Mann aber auch so wie es heute auf mich wirkt, da ich nun selbst das Alter eines Großvaters erreicht habe.
Letzte Woche ist mir das Papier mit dem Gedicht wieder in die Hände gefallen, als ich einen Schuhkarton durchstöberte, in dem ich jede Menge Briefe und andere Erinnerungsstücke aufbewahre. Ich war auf der Suche nach alten Photographien oder Ähnlichem, das es mir erleichtern würde, Abschied zu nehmen. Letzten Freitag war Annas 60. Geburtstag, eine Feierlichkeit, die mir Anlaß genug war, mich nach einigen Jahren der Kontaktlosigkeit wieder einmal bei ihr zu melden. Unglücklicherweise sprach ich nur mit Annas Ehemann, einem gutherzigen Menschen, der Anna stets auf Händen getragen hat. Nach langem Leiden, so sagte er mir, sei Anna am vorigen Dienstag vom Krebs besiegt worden. Anna, das Mädchen, das unter meinen Augen zur Frau geworden war, das dann lange Zeit einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben gewesen war, alles was sie mir am Ende unserer Wege hinterlassen hat, sind Erinnerungen. Das ist alles, was ich jetzt habe: Erinnerungen und einen Fetzen Papier. Die Farbe der Worte hat sich in der langjährigen Dunkelheit der Andenkenkiste verloren. Zu oft zusammengefaltet, verblaßt, kaum mehr lesbar liegt das Stück Papier nun vor mir. Wissen Sie was, junger Mann, behalten Sie das Gedicht, ich kann es ohne Vorlage aufsagen. Es ist Zeit, daß ich mich auf den Weg mache.
 



 
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