Geschichte einer Mutter

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Lisbeth war die, die allein übrig geblieben war. Als sie heranwuchs, spürte sie den unausgesprochenen Vorwurf von Seiten ihrer Mutter: Warum gerade du? Warum nicht der ältere Bruder? Er war mit zwei Jahren plötzlich gestorben. Nach ihr kam noch eine Fehlgeburt, an der ihre Mutter ums Haar selbst gestorben wäre. Als Lisbeth viel später von den drei oder vier Abtreibungen ihrer Mutter erfuhr, fragte sie sich: Muss ich auch dafür büßen? Schafft mir die Kinder vom Hals, schrie die Alte in ihrem Todeskampf, und Lisbeth sah jetzt ihre ungeborenen Geschwister im Sterbezimmer.

Von der Mutter nicht geliebt, vom Vater voller Nachsicht mehr übersehen als zur Kenntnis genommen, so wuchs Lisbeth in schwieriger Zeit auf. Die Nazis hatten ihren Vater, den roten Setzer, aus der Zeitungsdruckerei hinausgeworfen. Für ihn gab es keine Arbeitslosenunterstützung. Sie lebten von kümmerlichen Mieteinnahmen und dem, was sie im Garten anbauten, und hielten Kaninchen und eine Ziege. Lisbeths Volksschullehrer, Jahrgang 1900, kannte nur Führer, Volk und Partei. Und sie war auch in der Klasse die Tochter des Kommunisten. Als sie nach der Schule in eine Lehre gehen wollte, hieß es zu Hause: Du heiratest ja doch ... Das schaffst du nie ... Wir können dich nicht unterstützen ... Bald kam der Krieg. Lisbeth wurde ins Stahlwerk dienstverpflichtet, wo sie die Produktion mitaufrechterhielt, während neben den Hochöfen und Walzwerken die Stadt großenteils zu Asche verbrannte.

Am Anfang des Krieges lernte sie ihren späteren Mann kennen, Sohn eines Kleinbauern aus der Umgebung. Lisbeths Eltern waren gegen die Verbindung. Sie verlobten sich trotzdem, trafen sich nur in den seltenen Heimaturlauben des Soldaten. Sie heirateten Ende vierundvierzig, dann sah sie den Mann erst nach vier Jahren wieder, von sibirischer Gefangenschaft fürs restliche Leben gezeichnet. Sie bewirtschafteten das Gütchen, schufteten siebzig Stunden in der Woche, fingen immer Neues an und kamen nicht viel weiter. Lisbeth sagte: Such dir eine Stelle bei der Post, da ist was frei. Aber es war nicht nach seinem Geschmack.

Lisbeths erste Schwangerschaft endete mit einer Totgeburt. Dann brachte sie Ben sehr mühsam auf die Welt. Wie früher für ihre eigene Mutter kamen weitere Kinder von da an für sie nicht mehr in Frage. Sie zwang sich dazu, Ben nicht als Ersatzkind zu betrachten. Sie wollte ihrer Mutterrolle vollkommen gerecht werden. Sie wurde ihrer Rolle gerecht, doch Ben fühlte hinter der Rolle nur Leere. Er war der, der den Erstgeborenen nicht ersetzen konnte, ein störender Fremdling, ein unheimlicher Gast in der Familie. Aus einem nichtigen Anlass bekam er vom Vater zu hören: Du bist hier nur geduldet. Da sie kaum Zeit für ihn hatten, war er viel bei den Großeltern. Er pendelte zwischen den Generationen, zwischen den Häusern, zwischen Stadt und Land. Es war ihm überlassen, zu kommen und zu gehen, wie es ihm gefiel. Er wurde bereits Nomade, bevor er die Gegend endgültig verließ.

Lisbeth wollte schon vor ihm gehen und die Familie sich selbst überlassen. Aber wie sollte sie sich durchbringen? Ohne Beruf, ohne Beziehungen? Und dann gehörte es sich auch nicht! Sie blieb und dieses Festhalten an ihrer Rolle wurde der einzige Halt, an dem sie selbst ihre Stütze fand. Weiß Gott, sie hätte ein eigenständiges Leben ganz anders geführt, ein sehr normales, kleinbürgerliches Leben mit vielen Gesprächen und all dem anderen, das es in dieser Familie nicht gab.

Ben verschwand mit achtzehn und kam noch jahrzehntelang Jahr für Jahr für einige wenige Tage. Dann spielten sie Familie mit immer denselben Worten, immer denselben Gesichtern. Ben trieb durch die Welt, während Lisbeth erst ihre verwirrte Mutter pflegte, dann ihren depressiven Mann versorgte. Das wirkliche Leben ihres Sohnes vollzog sich für sie wie hinter einem dichten Vorhang. Erst spät wurde er etwas durchscheinend, und sie begann jetzt zu begreifen, dass Ben homosexuell war. Sie zeigte ihre Ablehnung nicht und füllte die Rollen der aus der Ferne teilnehmenden Mutter und der perfekten Gastgeberin für drei Tage im Jahr weiter aus.

Sie wurde Witwe und saß allein auf dem Gütchen. Das Land war schon verpachtet. Als Ben nach dem Tod seines Vaters bald zu ihr kam, fühlte sie sich zum ersten Mal frei in ihren Entscheidungen, nur sich selbst verantwortlich. Sie war Alleinerbin und erklärte ihm, sie wolle alles verkaufen und sich in der Nähe neu ansiedeln. Er billigte es erleichtert und gab ihr Ratschläge, wie sie es anstellen solle. Kaum war er abgereist, sah sie es so: Da war also wieder einer, der ihr Vorschriften machen wollte. Erst der Mann, nun der Sohn. Sie verwarf nach und nach ihre eigenen Pläne, schon um nicht mit ihm übereinstimmen zu müssen. Gleichzeitig sah sie sich als müde, alte Frau, überfordert mit der Aufgabe, die eigene Zukunft noch zu gestalten. Das war die Stunde des Pächters, der das Land nicht verlieren wollte. Er unterstützte und umsorgte sie in einer Weise und mit einer Intensität, wie sie es nie erlebt hatte. Sie konnte bleiben. Sie war ihre eigene Herrin und fand im Pächter jede Hilfe. Es entging ihr, dass er sie gleichzeitig überwachte. Sie konnte endlich das einfache Leben führen, das sie immer vermisst hatte. Sie war jetzt ganz frei und ganz abhängig.
 
L

Lupine

Gast
Lieber @Arno Abendschön, deine Geschichte einer Mutter hat mich angerührt, weil auch eine Geschichte einer Frauengeneration ist, die stets angepasst lebte, um zu überleben und erst durch Witwenschaft Freiheiten genießen konnten, die ihnen in ihren Versorgungsehen versagt waren.
Verständlich die Weigerung, sich von niemandem mehr "reinreden" zu lassen - auch wenn`s das eigene Kind ist.
Tragisch am Ende, der Abhängigkeit nicht entronnen zu sein.
Du hast es so ausgedrückt:

Sie war jetzt ganz frei und ganz abhängig.
Mein Vorschlag:
Sie war nun frei und abhängig zugleich.

Ich glaube, dass es in der Liebe nur dies gibt: Freiheit UND Abhängigkeit zugleich.
 
Danke, Lupine, für deine freundlich-kritische Reaktion. Ja, das ist natürlich ein historischer Stoff. Fremdbestimmung gibt es für Frauen vielleicht immer noch, aber sie hat jetzt zumeist andere Formen.

Dass du über den Schlusssatz gestolpert bist, verstehe ich gut. Deine Version ist sicher begrifflich (sprachlogisch) korrekter. Allerdings ist sie mir für einen Schluss im Ausdruck etwas zu prosaisch, im Sinne von zu matt. Ich wollte ausdrücken: "ganz frei" ist die Witwe nach dem Gesetz und vielleicht auch in ihrer Selbsteinschätzung, für "ganz abhängig" kann sie ein anderer aufgrund ihrer tatsächlichen Situation halten. Das ist eine Frage der Perspektive.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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