Geschichte ohne Titel

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apokabraxas

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Sie genoß die Autofahrt sehr, es war ihr erster Ausflug in die große Welt nach vier Wochen Hausarrest in ihrer kleinen Welt, erzwungen durch den Bruch des Trochanter major, ein toller Name für so einen ollen Knochen, wie sie zu sagen pflegte.
Ihre kleine Welt reichte in diesem Monat tatsächlich nur bis zur nächsten Kirchturmspitze, keine hundert Meter weit entfernt.
Sie konnte nicht auftreten, um das Zusammenwachsen des Knochens nicht zu stören. Fortbewegen konnte sie sich nur, indem sie auf einem Drehstuhl sitzend sich mit einem Fuß abstieß, und das nur in den unteren Räumen.
Die oberen Räume mit der Aussicht auf das Lichtermeer der umgebenden Orte am Abend waren ihr nicht zugänglich, da die Treppe ein unüberwindbares Hinderniss darstellte.
Sie hatte all ihren Lebensmut zusammentrommeln müssen, um sich von dem kleinen Knochen nicht in die große Verzweiflung treiben zu lassen.

Nun saß sie endlich wieder im Auto und sah den Schneeflocken zu, die den grauen Asphalt der Straße in ein weißes Band verwandelten. Sie suchte nach markanten Punkten an der Wegstrecke, die sie mit einem Lächeln begrüßte, wie alte Freunde; was ihren Liebsten freute, da heitere Momente eher selten waren in letzter Zeit.
Sie erfreute sich an der Landschaft, die mit zunehmenden Schneefall immer schöner, märchenhafter wurde.
An einer Weggabelung kurz vor dem Ortseingang stand eine Madonna, deren unaufdringliche Schönheit sie immer wieder bewunderte, es war für sie die formvollendet in grauen Stein gebannte Sanftmut. Der Schnee, der nur auf den waagerechten Flächen der Figur liegen blieb, betonte die geschwungene Linienführung. Daß die Leute achtlos an dieser Schönheit vorüberhetzten, verwunderte sie sehr.
Je näher sie der Einkaufsstätte kamen, desto aufgeregter wurde sie. Es war ihre erste Einkaufstour im Rollstuhl, und in ihrer Unsicherheit suchte sie Lösungen für Probleme, die noch gar nicht existierten.
Und prompt trat ein, was sie befürchtet hatte: Die Wirkung der Medikamente setzte aus, Bewegungslosigkeit ergriff ihren Körper, das bedeutete warten, warten, Geduld haben.
Der Parkplatz leerte sich mit zunehmenden Schneefall. Die Beiden saßen in ihrem Auto, versicherten sich gegenseitig, daß alles bestens sei und das Warten ihnen gar nichts ausmache...was natürlich geschwindelt war, sie zumindest haderte mit dem Schicksal, sich zum wiederholten Male fragend, womit sie ihre chronische Erkrankung, wohl verdient habe; wohl wissend, daß diese Fragestellung schon unsinnig war, man konnte das Schicksal nicht verdienen.
Da der Parkplatz an einen großen Garten mit altem Baumbestand grenzte, machten sie sich auf die tief verschneiten Bäume aufmerksam, betrachteten eine dicke Amsel, die, den Schneefall ignorierend, mit dem Schnabel das Laub nach Eßbarem durchwühlte, Schneefall hin, Schneefall her.
Als die Kälte sich ausbreitete, es immer ungemütlicher im Auto wurde, die Wirkung des Medikaments auf sich warten ließ und sich kein Ende der Wartezeit andeutete, beschlossen sie, wieder nach Hause zu fahren, zumal ein natürliches Bedürfnis die Rückfahrt dringlicher machte. Sie hatte sich so darauf gefreut, wieder selber einen frischen Salat auszusuchen, die Vielfalt des Käseangebots zu bestaunen, die Gerüche einer Backstube einzuatmen und was derlei kleine Freuden des Alltags mehr sind.

Die Enttäuschung war groß, doch nachdem sie einen kleinen Imbiss zu sich genommen hatten und das Medikament sich endlich bequemte, das zu tun, was es sollte, nämlich zu wirken, beschloßen sie, die Fahrt zu wiederholen. und diesmal hatten sie Glück, die Handhabung des Rollstuhls war einfacher, als sie befürchtet hatte. Sie konnten in Ruhe einkaufen. Die Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf Rollstuhlfahrer. Manche übersehen sie , bei anderen spiegelt sich Mitleid auf den Gesichtern und ein Jugendlicher war so hilfsbereit, den Weg freizumachen und zu zeigen, wo die gesuchte Ware zu finden sei.
Als sie den Laden verließen klarte der Himmel auf und die Sonne beschien eine weiße Winterlandschaft.
"Schau, wie schön das ist" ,sagte sie und lächelte.
 



 
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