Geschichten aus Nichtberlin (3) - Madame Bar

Billy

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Später. Draußen vor der Tür. Erst einmal tief durchatmen, um wieder einigermaßen klar zu kommen. Ich schließe für einen Moment die Augen und sehe das Nachbild einer am Tisch sitzenden Gruppe von Menschen - alles Leute aus dem Büro. Aber dann fangen Lichtreflexe auf dem Inneren meiner Augenlieder an zu tanzen und so öffne ich sie sofort wieder. Besser.

Jetzt nehme ich Mark war, stimmt wir wollen noch weiter und er fragt „Alles O.K. mit dir?“
„Alles in Ordnung, in welchen Laden sagtest du?
Mark erscheint mir noch wesentlich frischer als ich mich selbst fühle.
„Die Madame Bar, das einzig würdige Etablissement für den gelungenen Abschluss eines solchen Abends“ antwortet Marc. „Außerdem hat alles andere zu“.
Ich schaue auf die Uhr und muss die Augen zusammenkneifen, um die Zeit ablesen zu können. Es ist halb fünf und mir kommen Zweifel, ob ich wirklich noch fähig bin weiter zu ziehen. Mark hat diese Kraft. Egal ob es schon drei Uhr morgens ist, ob er literweise Bier getrunken hat oder sonst was, Mark will immer noch weiterziehen, immer weiter, was erleben. Ich vermute das liegt daran, dass Mark im Moment keine feste Freundin hat. Seit einem halben Jahr ist er ohne Beziehung. Davor war er mit einer Frau zusammen, in die er sehr verliebt war und beide haben so ganz verrückte Sachen gemacht, wie bei zehn Grad im November nachts nackt in den Kanal springen. Das hat dem Mark sehr gefallen, alles schien wunderbar zu laufen. Doch dann war Mark tagelang total daneben, ständig unkonzentriert und zerstreut und äußerst dünnhäutig. Das ist bei dem ein untrügliches Zeichen: Liebeskummer. Sonst ist er nämlich eine Selbstbewusstseinsbombe, total von sich überzeugt. Aber in diesen Tagen, damals vor einem viertel Jahr, hat er kaum zugehört, wenn man ihm etwas gesagt hat und nur wirres Zeug von sich gegeben. Da wusste ich schon, dass was nicht in Ordnung ist. Vor einigen Tagen dann wieder dieser Zustand. Ich machte mir meine Gedanken, da er doch mit keiner zusammen war, die ihn hätte verlassen können. Ich hab ihn dann gefragt und da hat er mir gerade heraus erzählt, dass seine frühere Freundin, der er immer noch nachtrauert, jetzt mit seinem, bis dahin besten Freund zusammen ist. Sie haben sich auf seiner Geburtstagsparty kennen gelernt. Deshalb muss er jetzt wieder jede Nacht los. Da sein früherer, bester Freund jetzt für solche Touren nicht mehr in Frage kommt, soll ich halt mit. Obwohl wir beide uns nie sonderlich nahe standen. Wir arbeiten zusammen.

„Ich weiß nicht, wir haben morgen im Büro um neun eine Besprechung.“
Mark schaut mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an, so als ob er nicht fassen kann, was ich da sage. „Ein Bier noch und das wars, dann ruf ich ein Taxi" sagt er bestimmt.

Als wir aus dem Taxi steigen, regnet es und wir nehmen aus Versehen den falschen Eingang, der hinunter in die 24 Stunden Pornovideothek führt. Am Tresen ein junger, gut aussehender Typ mit „Psycho" Schriftzug auf dem T-Shirt und Hornbrille. Er sieht ein wenig so aus wie der Sänger von Pulp. Er schaut von seinem Comicheft kurz zu uns herüber und liest dann, ohne uns weitere Aufmerksamkeit zu schenken weiter. Wir sind die einzigen Kunden.

Mir ist es auf einmal etwas peinlich hier unten in der 24 Stunden Pornovideothek vor diesem Typen zu stehen der ausschaut wie der Sänger von Pulp, aber da kommt Mark und zeigt mir dieses Video mit dem unglaublichen Titel „Teenager fressen Scheiße" und da gibt es kein Halten mehr und wir prusten los, und als ob das nicht ausreicht, entdecke ich, dass es sich dabei offensichtlich schon um den zweiten Teil handelt und wir bekommen sofort wieder einen Lachanfall.
Wir versuchen uns zu beruhigen und Mark lässt sich von dem Sänger von Pulp erklären, wie wir in die Madame Bar kommen.

Der Türöffner brummt und wir gehen hinein und durch einen ziemlich dunklen Flur hinauf in die erste Etage. Es riecht nach altem Holz und auf der Treppe liegt ein abgewetzter weinroter Teppich, der auf jeder Stufe mit einem goldenen Bügel befestigt ist, wie man das aus manchen Hotels kennt. An den holzgetäfelten Wänden hängen schwarz/weiß Fotografien von Jazzmusikern, worüber ich mich etwas wundere.
Ich bedaure meinen Entschluss noch mitgegangen zu sein, da bemerke ich eine ziemlich dicke Schwarze, die uns oben am Ende des Flurs erwartet. Als sie uns im Licht besser sehen kann, schaut sie plötzlich sehr unfreundlich, scheinbar sieht sie in uns keine gute Kundschaft.
Drinnen ist es kaum größer als in einem Partykeller. An der u-förmigen, quadratischen Theke sitzen nur zwei Kerle, die uns gut gelaunt mit ihren Bieren zuprosten. Die Dicke geht sofort wieder hinter die Theke und nimmt eine Zigarette aus dem Aschenbecher, die sie wohl dort ablegte, bevor sie uns abgeholt hat. Sie setzt sich auf den Barhocker, stützt sich auf den Ellenbogen und lässt die Hand mit der Zigarette lässig nach unten fallen. Mit schief gelegtem Kopf schaut sie mich fordernd an. Anstatt was zu bestellen, frage ich blöd, ob sie die Jazz Fotografien im Treppenhaus aufgehangen hat.
„Nein Süßer, die hat Satchmo hier höchstpersönlich nach einem Privatkonzert aufgehangen“ antwortet sie sichtlich gelangweilt und dann weiter: „Also, was möchtet ihr beiden trinken?“
Ich bestelle Bier und Mark sagt „für mich auch" und wir stellen uns etwas abseits, um nicht von den zwei Vertretertypen in ein Gespräch verwickelt zu werden.
Mark: „Was kann man denn bei Ihnen noch so alles für sein Geld bekommen?"
„Piccolo, Whisky, Kirschwasser - alles, was dein Portomanai so hergibt“ antwortet sie gereizt.
Eine sehr junge Blonde mit modischem Kurzhaarschnitt taucht plötzlich auf und stellt sich zu uns.
„Und sonst?“ Mark wird konkreter und setzt dabei ein süffisantes Grinsen auf.
„Du bleibt wohl besser beim Bier“ antwortet sie gelassen.
Ich verliere das Interesse an dem Gespräch, aber Mark ist irgendwie vernagelt und will tatsächlich wissen, was es mit ihr kostet?
„Und was machst du hier" frage ich ziemlich dusselig die Blonde.
Aber sie ist gnädig und antwortet sachlich: „Ich arbeite hier".
Sie trägt einen weißen Hosenanzug wie aus einem 70er Jahre Film mit einem Ausschnitt bis zum Bauchnabel. Ich schaue in ihr Gesicht: Sie sieht nett aus, mädchenhaft, mit großen grünen Augen - vielleicht ein wenig zu pummelig.
„Und was arbeitest du hier?" frage ich und denke sofort Bravo, nächste peinliche Frage.
„Als Animierdame" antwortet sie ruhig. „Ich trinke mit den Gästen ein Glas Sekt, wenn sie mir eins ausgeben." „Oh Entschuldigung" unterbreche ich. „Darf ich dir was bestellen?"
Sie lächelt mich an. „Einen Sekt bitte Pony" ruft sie in Richtung Theke und die Dicke greift, ohne zu uns herüber zu sehen, scheinbar über einen Witz von Mark schallend lachend unter den Tresen und holt eine Piccoloflasche hervor.
„Ich trinke Sekt mit den Gästen und unterhalte mich. Ich arbeite erst vier Wochen hier und die Chefin überlässt es mir selbst zu entscheiden was ich tue und was nicht.“
Wir prosten uns zu, und dann erzählt sie mir, dass sie gerade eine Lehre abgebrochen hat und hier eigentlich nur aus Langeweile jobbt und weil sie die Sache interessiert und sie sowieso gerade nicht weiß was sie machen soll und wie es weitergeht und so weiter. Dabei wirkt sie ganz entspannt und die Sätze sprudeln nur so aus ihr heraus.
„Vielleicht gehen wir mal zusammen Essen?" höre ich mich sagen und ahne, dass ich das besser nicht hätte sagen sollen, da ich das Gefühl habe, dass so was zu nichts führen wird, aber der Alkohol treibt die Gedanken ja immer in Echtzeit heraus, da kann man meist nichts machen.
„Warum?“ fragt sie zurück.
„Weil ich dich gerne näher kennen lernen würde“ erfinde ich halb und nippe an meinem Bier.
Zu meinem absoluten Erstaunen geht sie auf mein Angebot ein und antwortet: „O.K. aber lass uns was trinken gehen.“
„Du gehst nicht gern Essen?“ hake ich nach.
„Ich hoffe du hältst mich jetzt nicht für vermindert genussfähig oder so, aber ich stehe einfach nicht auf Essen gehen, tollen Wein und diesen ganzen Kissenfurzerscheiß. Ich esse entweder zu Hause oder gehe zu McDonalds.“
Ich bin erstaunt.
„Im Ernst, ich esse am liebsten bei McDonalds. Dort weiß ich immer was ich bekomme, egal wo ich bin, in welcher Stadt, in welchem Land, ob es dort schön oder hässlich ist, gleich wie ich mich fühle: Du gehst um die Ecke und da ist auf einmal ein McDonalds genauso, wie man es kennt. Die Einrichtung und die Qualität entsprechen deiner Erwartung. Wenn du hineingehst bist du kein Tourist. Die Regeln und das Angebot sind bekannt. Ein Cheeseburger ist ein Cheeseburger - in Hamburg oder in Amsterdam. Wenn du dich irgendwo auf der Welt einsam und fremd fühlst, gehe zu McDonalds, bestelle ein Menü und schon geht es dir besser.
„Was ist mit Burger King?“ frage ich.
„Keine Alternative“. Sie schüttelt ernst den Kopf. „Spätestens beim Bezahlen wünscht du dir wieder bei Mc Donalds sein.“
Ich schaue sie fragend an.
„Ist dir aufgefallen, dass bei Burger King die Schlangen an den Kassen immer deutlich länger sind als bei McDonalds? Bei McDonalds gibst du die Bestellung auf und der Typ hinter der Kasse sagt dir was du zu bezahlen hast, bevor er losmarschiert um deine Sachen klar zu machen. In dieser Zeit zählst du in Ruhe dein Geld ab und hast es dann schon passend in der Hand, wenn es ans Bezahlen geht. Bei Burger King wartet der Typ, bevor er auch nur einen Handschlag tut, bis du bezahlt hast und dabei glotzt er dich die ganze Zeit an, so als ob er sagen will, wollen wir doch erst einmal sehen, ob du dir dass hier überhaupt leisten kannst.
Nur weil Burger King ihren Kunden nicht vertraut, müssen sie länger warten. Deshalb wird sich Burger King auch nie richtig durchsetzen."
„Obwohl die Pommes dort besser sind“ wirft ein kleiner, Zigarillo rauchender Mann ein, der eben noch nicht da war, und sich während des Gesprächs unbemerkt nah zu uns heran gestellt hat.

Mark reißt plötzlich an meinem Arm. „400 und wir können beide mit ihr hoch. Bei Pony ist auch für zwei genug dran" lallt er und alle prusten los.
Die Vertreter nicken mir aufmunternd und breit grinsend zu. Ich lehne dankend ab, bestelle eine Runde Bier für alle und bekomme zur Belohnung einen Kuss von Pony zugehaucht, die zu mir rüber kommt und mich zum Tanzen auffordert. Ich versuche so gut wie möglich auf „You don't really want to hurt me" von Boy George mit ihr zu tanzen (eng), aber plötzlich wird mir klar, dass ich sofort gehen muss. Wir tanzen bis zum Ende des Liedes und ich dann möchte meine Jacke aus der Garderobe holen, kann sie aber nicht finden. Der kleine Zigarillo rauchende Mann ist auch verschwunden. Ich frage in die Runde aber eigentlich hört mir keiner zu. Mark tanzt mittlerweile eine Art Blues mit Pony und der Hosenanzug lacht mit den beiden Vertretern an der Theke und die hören mich nicht, weil einer der Vertreter sich über die Theke beugte und „Sunshine Reggae" sehr laut aufgedreht hat. Also frage ich jeden einzeln, aber niemand weiß von der Jacke. Ich versuche die Contenance zu bewahren und bezahle ohne Jacke meine Getränke. Dann schreibe ich noch meine Telefonnummer auf einen Bierdeckel (die Blonde, deren Namen ich immer noch nicht kenne, bat mich darum) und lasse mir ein Taxi rufen.

Auf der Rückfahrt entdecke ich ein McDonalds das noch geöffnet hat. Da der Tag, eigentlich die ganze Woche ziemlich beschissen war, beschließe ich, die Nacht mit einem McRip-Menü zu beenden und bitte den Taxifahrer anzuhalten. Mc Donalds Philosophie denke ich bei mir. Mal sehen ob es funktioniert.
 



 
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