Gesegnetes Alter

3,70 Stern(e) 11 Bewertungen

Castellanos

Mitglied
Gesegnetes Alter
Meine Mutter hat Geburtstag, deswegen bin ich zu Besuch. Das Telefon läutet und ich nehme ab.
„Hier bei Böhm“, sage ich.
„Bist du’s, Gerd“, höre ich eine bekannte Stimme, „ hier ist Angela! Mein Gott, wie lange haben wir eigentlich nichts voneinander gehört?“
„40 Jahre“, schlage ich vor?
„Das kommt wohl hin! Eigentlich wollte ich Erna gratulieren!“
„Die schläft gerade.“
„Wirklich? Du, da muss ich dir was sagen. Deine Mutter ist ja inzwischen sowas von tüdelig, die vergisst alles! Wie alt ist sie eigentlich?“
„92“, sage ich.
„Was? Schon? Ach ja, sie war ja immer schon ein Jahr älter als ich. Unter uns gesagt, ich glaube, sie hat Alzheimer! – Na ja, grüß man schön, dann bis nächstes Jahr!“
Während meine Mutter unbeeindruckt von allem im Sessel ihr Schläfchen hält, schaue ich in Gedanken aus dem Fenster. Während der letzten 30 oder 40 Jahre hat sich hier tatsächlich kaum etwas verändert.
Das Telefon klingelt und ich hebe ab:
„Hier bei Böhm“, sage ich.
„Mein Gott, Gerd, bist du das? Hier ist Angela. Wie lange haben wir nichts voneinander gehört!“
„30“, schlage ich vor und denke eher an Minuten.
„Wie die Zeit vergeht! Eigentlich wollte ich Erna zum Geburtstag gratulieren.“
„Die schläft gerade.“
„Du, da muss ich dir was sagen, ich glaube, deine Mutter hat Alzheimer! Die vergisst ja alles! Schrecklich! Nee, wenn man erstmal soweit ist! Na ja, ich ruf nächstes Jahr wieder an!“
Angela hat noch mehrmals angerufen. Das fünfte Mal ist Erna wach. Sie hält den Hörer ans Ohr und ruft immer: „Hallo ...Hallo... Hallo...Hallo....“ Dann legt sie auf.
„Wieder keiner dran“, sagt sie, „passiert die letzte Zeit dauernd!“
Ich denke, es ist besser, wenn ich ihr nicht sage, dass sie in dem Ohr, an das sie immer den Hörer hält, üblicherweise ihr Hörgerät tragen sollte!
Außerdem ist sie schon wieder eingeschlafen.
 

MargaLie

Mitglied
Hallo Castellanos,

jetzt habe ich doch vergessen, was ich schreiben wollte! :)

Ach ja, schöne Geschichte, habe ich vor Kurzem fast so ähnlich erlebt. Allerdings hat meine Mutter dann am Ende des Telefonats ihrer Schwester mitgeteilt, dass diese doch vergessen hat, ihr zum Geburtstag zu gratulieren.
 
H

Haki

Gast
Hallo Castellanos,

Leider ist es der Geschichte nicht gelungen mich zum Lachen zu bringen, jedoch denke ich, dass in der Idee mehr Potential liegt. Denn es werden gewisse Erwartungen geschürt, die aber am Ende nicht angemessen durch eine gewitzte Wendung in Szene gesetzt werden. Überdenke dein Ende und versuche nach einer Lösung zu finden der Geschichte ihr Potential vollends abzuverlangen. Ansonsten ist die Idee wie gesagt schön, aber machst du daraus zu wenig. Sprachlich begibst du dich zwar auf kein äußerst hohes Niveau, aber schaffst es den Leser anzusprechen und ihm die fiktive Wirklichkeit authentisch wiederzugeben.

Gruß,
Haki
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Castellanos,

ich habe noch nicht viel von Dir gelesen, daher weiß ich nicht, ob das Dein 'natürlicher' dröger Ton ist, oder an die Geschichte angepasst. (Das werde ich natürlich jetzt nachholen)

Hat mir prima gefallen und ich finde Sprache und Anlass entsprechen einander.
Allzuviel 'Verbalakrobatik' und 'Gefälligkeit' würde wie Hohn klingen. Wir werden ja alle mal älter, und in der trockenen Kürze bleibt es sachlich, und dann muss man sich seines Lachens oder Lächelns auch nicht schämen.

Liebe Grüße
Petra
 

Castellanos

Mitglied
Hallo Haki,
Die Geschichte ist eigentlich gar nicht zum Lachen, zumindestens sollte der geschilderte Inhalt eher ein verständnisvolles Nicken als einen Heiterkeitsausbruch provozieren, deswegen auch keine Verstärkung durch ein witziges Ende.
Die Geschichte stirbt einfach so! Halleluja!
Entsprechend schlicht + sachlich + emotionslos sollte die Sprache sein.
Gruß
Castellanos




Hallo Petra,
der "dröge" Ton ist norddeutschen Ursprungs, er soll dem Inhalt entsprechen, der ja auch ziemlich emotionslos sachlich wiedergegeben wird.
Gruß
Castellanos
 
H

Haki

Gast
Hallo Castellanos,

Dann möchte ich mich für die Kritik entschuldigen. Deiner Sprache ist das gelungen, was du intendiert hast. Dann habe ich nichts zu meckern. Auch wenn ich finde, dass in der Idee sehr viel Witz und Potential für Lacher steckt, dieses aber nicht erschöpft wird. Nun gut, der Autor ist Herr über siene Intention und so bleibt mir nur dies eine zu sagen:
Dir ist das gelungen, was du wolltest, auch das Nicken. Aber dir ist es nicht gelungen, mich anzusprechen.
Das Erste ist wohl das Wichtigere.

Gruß,
Haki
 

Castellanos

Mitglied
Hallo Haki,
warum entschuldigst Du Dich für die Kritik? Ich meine, sie war sachlich korrekt und in Ordnung, es gibt eben verschiedene Meinungen. GOTT-SEI-DANK! Das Leben wäre sonst ohne Würze!
Gruß
Gerd
 
H

Haki

Gast
Da hast du recht. Ich entschuldige mich, weil ich mit einem falschen Anspruch an deinen Text herangegangen bin. Das ist der Grund dafür.

Gruß,
Haki
 
O

Orangekagebo

Gast
Hallo Castellanos,

meiner Meinung nach sollte Dein Text tatsächlich mit Humor betrachtet werden. Im Alter macht man putzige Sachen. Es verdirbt den Text nicht, wenn man lacht. Es ist sowieso unabänderlich, und wer weiß, was wir für Sachen anstellen im Winter des Lebens.
Deshalb dreh´ ruhig am Bogen und pack´ Spass rein. Das Trockene zermürbt mitunter wie das Alte.

Ich fand es witzig und gelungen.

Den letzten Satz: Ich denke, es ist besser ...,

der muss unbedingt gekürzt werden. Viel zu lang, der Kollege :)

LG, orangekagebo
 
Hallo, Castellanos,

die feine Situationskomik scheint durch Deinen Text hindurch, das ist der Geschichte angemessen, und ich habe geschmunzelt. Warum muss man sich immer kaputtlachen hinterher? Lass bloß den Text so, wie er ist! Es kommt auf die Intentionen des Autors an, nicht auf die unterschiedliche Interpretation der Leser. Man sollte nicht in den Fehler verfallen, auf Grund von individuellen Meinungen jedesmal den Text zu verändern! Wo würde das hinführen? Nur zu Verschlimmbesserungen! Natürlich sollte man konstruktive Kritik ernst nehmen, auch zur Textrevidierung. Aber als Norddeutscher sage ich: Dieser Text ist gut, lass ihn so!

Very Literary
Eddy
 
Mir gefällt der Text auch.
Und ja, Humor ist verschieden. Man kann mit technischen Tricks arbeiten, oder eben mit der Komik der Situation, so wie hier.

Marius
 

gareth

Mitglied
Letzlich hat aber, lieber Castellanos,

mit und ohne Entschuldigung, Haki doch recht.
Er sagt, die Geschichte habe erheblich mehr Potential als Du aus ihr schöpfst. Das trifft zu. Inhaltlich und sprachlich.
Zu sagen, das sei so gewollt, ist kein wirklich gültiges Argument, oder was meinst Du?

Grüße
gareth
 



 
Oben Unten