Gestohlene Zeit

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philipp

Mitglied
Gestohlene Zeit


Mein Name ist Simon Winter und ich raube Zeit. Nicht beruflich, nicht sehr geschickt und noch nicht sehr professionell. Aber ich werde besser. Die meisten Leute bemerken es nicht mehr. Bis es dann zu spät ist. Dann habe ich ihre Zeit bereits gestohlen, es ist dann Sonntag Abend, das Wochenende ist wie im Flug vergangen und ich bin über alle Berge. Mit ihrer Zeit.

Hatten Sie am Sonntag Abend nie das Gefühl, dass das Wochenende viel zu schnell vorbei gegangen ist? Dass Sie nicht die Hälfte von dem, was Sie sich vorgenommen haben, auch gemacht haben? Im Zweifelsfall sind Sie Opfer meiner immer filigraner werdenden Handfertigkeiten beim Zeitstehlen geworden. Ich habe Ihnen die Zeit gestohlen.
Wie ich das mache? Ich nutze all die Momente, in denen Sie nicht aufpassen. Momente, in denen Sie dösen, auf etwas warten oder tagträumen. Die genauen Kniffe und Tricks möchte ich an dieser Stelle ungern preisgeben. Sonst würden Sie Vorsorge treffen und ich käme um meinen doch recht zufriedenstellenden Erwerb.

Aber beschimpfen Sie zum Beispiel bitte nicht mehr Ihre Kollegen oder Freunde mit den Worten: „Du hast mir meine Zeit gestohlen“, nur weil er oder sie wieder zu spät war. Wahrscheinlich können sie nichts dafür, weil ich dann zugeschlagen habe. Die Verspätung Ihrer Kollegen oder Freunde ist dann nur ein Resultat meiner Fingerfertigkeit. Und auch die Zeit, die Sie dadurch verloren haben, hebe ich später in einem unbemerkten Moment wieder vom Boden auf.
Ja, genau. Oftmals muss ich nicht stehlen. Sie verlieren Ihre Zeit ganz von selbst. Alles was ich mache, ist wachsam sein. Immer darauf zu achten, wann die Leute ihre Zeit verlieren. Um dann gleich zur Stelle zu sein, und die verlorene Zeit einzutreiben.

Jetzt fragen Sie sich natürlich, wie ich die Zeit wieder loswerde, was ich denn eigentlich mit so viel Zeit auf meinem Konto anstelle?
Nein, ich bin kein Zeitverschwender. Selten habe ich Leute auf mich warten lassen. Meine Freizeit verbringe ich normalerweise sehr effizient. Die Zeit die ich raube, nutze ich nicht selbst. Die Zeit, die ich raube, verkaufe ich. Zum Beispiel an Unternehmensberatungen oder Werbeagenturen. Denn diese haben immer einen Bedarf an zusätzlicher Zeit.
Unternehmensberatungen haben oftmals sehr hohe Stundensätze, zu denen sie ihre Zeit verkaufen, aber meistens nicht genug Zeit, um ihre Projekte umzusetzen. Den Mitarbeitern fehlt bei ihrer 40 Stunden Woche immer wieder die Zeit, ihre Arbeit zu vollenden.
Dies endet darin, dass die armen Mitarbeiter viele, viele Überstunden leisten müssen. Und das wiederum geht zu Lasten der Projekte. Daher verkaufe ich die gestohlene Zeit an diese zeitnotleidenden Unternehmensberatungen.

Manchmal kaufen mir auch Werbeagenturen Zeit ab, insbesondere vor Ausschreibungen, da dann in der Regel lange gearbeitet werden muss und die Zeit durch schlechtes Zeitmanagement in der Regel sehr knapp ist. Zeitmanagement beherrschen diese Werbeagenturen übrigens gar nicht. Viele Mitarbeiter verbringen viele ihrer Stunden in Kaffeepausen, die sie als „Brainstormings“ deklarieren. Aber mich können sie nicht täuschen. Oftmals verkaufe ich daher den Agenturen ihre eigenen in sogenannten „Brainstormings“ verlorenen Stunden sozusagen „second hand“. Es gab schon Stunden, die ich bis zu fünf mal an dieselbe Werbeagentur verkauft habe, bis sie effektiv eingesetzt wurden.

Ich verkaufe meine Zeit normalerweise Stückchenweise. Hier mal ein Tag, wenn es wieder eng wird, dort mal ein paar Stunden, wenn die Nacht nicht gereicht hat.
Dabei verdiene ich nicht nur viel Geld, sondern diene aus der Sicht der Mitarbeiter sogar einem wohltätigen Zweck. Denn die Mitarbeiter können pünktlich nach Hause gehen, obwohl sie die Arbeit von 10 bis 12 Stunden innerhalb eines 8 Stunden Tages leisten und die Familie ist glücklich.

Ein faszinierender Gedanke. Ich habe schon darüber nachgedacht, in den Großstädten eigene Vertriebsstrukturen zu schaffen. Zeitverkäufer, die von Tür zu Tür gehen, vorzugsweise zwischen 18 und 21 Uhr. Die Hausfrauen und Mütter, die zu dieser Zeit auf ihre Männer warten, werden sicherlich gerne einige Zeitstücke kaufen. Man denke nur an die Marketingmöglichkeiten: Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke, Urlaubsverlängerungen, Brückentage. All dieses können die Leute sich gegenseitig schenken.

Oftmals spende ich meine ergaunerten Stunden und Tage für einen guten Zweck. Ich spende sie zeitnotleidenden Menschen. Ein Beispiel: viele Menschen liegen im Sterben und wünschen sich noch ein paar wenige Stunden, um sich von ihren Verwandten verabschieden zu können. Ich kann den Tod zwar nicht verhindern, aber ich habe es mittlerweile geschafft, den Tod um einige Stunden hinauszuzögern. Das war zuerst nicht leicht, anfangs reichten meine Spenden gerade für ein paar Minuten. Diese letzten hinausgezögerten Minuten der Leidenden sind nämlich so viel wert, dass ich eine Menge gestohlener Stunden aufwenden muss, um nur wenige dieser Minuten zu finanzieren. Diese Minuten sind komprimierte Sehnsucht, manchmal sind sie unbezahlbar.

Aber es macht mir nichts aus, denn die Stunden, die ich spende, wären ansonsten verschwendet worden. Und Sie merken es ja auch nicht. Dennoch spenden Sie wertvolle Zeit. Durch meinen Zeitraub. Zeit, die anderen vieles Gute ermöglicht. Ich habe schon überlegt, ob ich einen Spenderausweis für Zeitspenden ins Leben rufen sollte. Diesen würden Sie offen sichtbar tragen. Immer wenn Sie dann beim Warten Zeit verlieren, könnte sich jemand, der diesen Ausweis sieht, Ihre Zeit nehmen, um zum Beispiel nach der Arbeit früher nach Haus gehen zu können.

Wäre das alles nicht fantastisch? Eine Art Zeit-Sozialismus? Aber solange dies noch nicht existiert, bin ich dazu gezwungen, Ihnen Ihre Zeit ganz niederträchtig und gemein einfach zu stehlen.
 

Zefira

Mitglied
Gefällt mir sehr. In der ersten Hälfte dachte ich "oje, wohl ein tiefschürfender Momo-Leser", aber als das Thema Zeit-Spende aufkam, wurde ich mehr und mehr gefesselt.
Zwei Einwände:
Bitte nicht "...denn die Mitarbeiter können pünktlich nach Hause gehen, obwohl sie die Arbeit von 10 bis 12 Stunden innerhalb eines 8 Stunden Tages leisten und Frau und Kinder sind glücklich."
Du glaubst nicht, wie viele Kinder glücklicher wären, wenn die Mami früher heimkäme. Also besser "... und die Familie ist glücklich."
Und den letzten Absatz würde ich weglassen. Er faßt zusammen und moralisiert herum. Ich würde vorschlagen: hinter "... Ihnen Ihre Zeit ganz niederträchtig und gemein einfach zu stehlen" ein Absatz und dann nur noch trocken und lakonisch "Vielen Dank!"
Vielen Dank, Philipp! Ich werde morgen den PC ausgeschaltet lassen (ätsch) und meine Zeit Mann, Kindern und meinem alten Vater widmen. Ganz im Ernst.
Oje, ist ja schon fast morgen...
also, sonntägliche Grüße
Zefira
 

philipp

Mitglied
Hallo Zefira,

vielen Dank für Dein Feedback! Die Änderungen habe ich eingearbeitet.
Bzgl. der Anzeige der anderen Geschichte ("Flucht in die Digitalisation") - das lag tatsächlich an der Anzeige "ein Beitrag pro User"...
gruss,
philipp.
 



 
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