Geträumte Randbemerkungen oder ...

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Anonym

Gast
Himbeerkonfitüre in der Nacht


Ich lag im Bett und las ‚Der menschliche Makel’ von Philip Roth. Plötzlich fiel mir ein, dass ich die neueste Version dieses Dada-Romans lesen wollte; ich holte ihn mir, machte es mir wieder bequem und fing an zu lesen: ‚Gestern, ich sehe es noch vor mir als ob es heute gewesen wäre, ...’ Was war gestern? Nichts, wie immer nichts, war gestern.

Wo hatte ich denn dieses ‚ich sehe es noch vor mir als ob es heute gewesen wäre’ gelesen? Ich ließ die Blätter sinken, schloss die Augen und überlegte. Nichts. Mir wollte nicht einfallen wo ich ‚als ob es heute gewesen wäre’ gelesen hatte. Macht nichts. Ich öffnete die Augen und las weiter.
‚Wieder treibt mich die Wortflut in meinem Kopf ab, spült mich regelrecht fort von meinem Vorhaben, ins offene Meer’ meiner Bilder.

„Wer hat’s geschrieben?“, schnauzte mich plötzlich eine schrille Stimme an. Vor meinem Bett stand ein Männchen mit einem lächerlichen, blinkenden Hut und sah mich mit ernster Miene an. Ach, ein Traum, dachte ich und sah wieder auf die schwarzen Buchstaben vor mir.

„Wer hat’s geschrieben?“ Ich sah wieder hoch und dieser Wicht hatte mir die Bettdecke weg gezogen. Da lag ich nun in meinem Leoparden-Pyjama, sah auf meine roten Zehen und sagte: „Rukola.“
Das Männchen zupfte an meinem Hosenbein und schrie: „Weeeer hat’s geschrieben?“ Wer, wer, wer. Was weiß ich, wer nicht schon geschrieben hat, ‚ob es heute gewesen wäre’ oder gestern, oder übermorgen. Irgendwer hat irgendwas geschrieben und ich hatte mich immer bedient, wie in einem Supermarkt für Buchstaben.

„Minimal“, stieß ich lachend heraus und wackelte ausgelassen mit meinen kirschroten Zehen. Das Männchen hüpfte vor mir rum. „Nochmal: Wer hat’s geschrieben? Oder ich reiße dir den Pyjama vom Leib.“

„Soll mir das Angst machen? Tu’s doch, ich habe nichts zu verbergen“, und strich mit meinen Händen über meine Taille und Hüfte. Das Männchen starrte mich an, ging einen Schritt hin und einen her und wieder zurück.
Träume verschwinden, wenn man sie ignoriert und ich las weiter ‚Güte und Bosheit liegen übrigens oft nur eine Gedankenbreite auseinander.’

„Ein letztes Mal: Wer hat’s geschrieben?“ Er grinste hinterhältig und ich sah ein riesiges Glas in seiner einen Hand und einen Löffel mit etwas Rotem, den er genüsslich abschleckte. „Du kriegst auch was davon, wenn du mir endlich sagst, wer’s geschrieben hat?“

Der unwiderstehliche Geruch von Himbeerkonfitüre erreichte meine Nase und meine Zunge strich sehnsüchtig über die Lippen. Ja, Himbeerkonfitüre, ich wollte nur noch Himbeeren auf meiner Zunge spüren.

„Ja, du bekommst sie, die Himbeeren, die süßen“, und mit einem Ruck riss er den Pyjama weg und verteilte die Konfitüre auf meinem Körper, „aber, weil ich’s geschrieben habe, darf ich auch alle Himbeeren essen.“
 

Renee Hawk

Mitglied
oh, war die gut, die Geschichte.
Hat mir von Aufbau her sehr gefallen, und der kleine Spannungsbogen war vorzüglich gespannt.

liebe Grüße
Renee
 

Anonym

Gast
shakim und reneè, freut mich sehr, dass sie euch gefällt. es hat auch spaß gemacht sie zu schreiben. ;-)

danke und
herzlichen gruß
 



 
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