Gewissen-Haft

Markus Veith

Mitglied
Gewissen-Haft

Die Schuhe des Bahnfahrers tappen träge über den Boden. Er ist müde. Seine Augen tun ihm weh. Aber seine Umgebung gönnt ihm keine Abwechslung, um die Trägheit von ihm zu schütteln.
Sein Weg ist ein Tunnel. Doch ist dies keiner der dunklen, unterirdischen Bahntunnel, wie jene, die er früher einmal befahren haben muß. So haben sie bestimmt nicht ausgesehen, dem ist sich der Bahnfahrer sicher. Trotzdem kommt er nicht umhin, diesen Gang ständig mit jenen U-Bahn-Tunneln zu vergleichen, die er einmal gekannt haben muß. Das sind sicherlich nicht solch krumme Tunnel gewesen. Dieser Stollen verläuft nie gerade. Er beschreibt eine stetige Linikskurve, die der Bahnfahrer nur zehn, vielleicht auch zwölf Meter weit einsehen kann. Dahinter verschluckt die Biegung seine weitere Sicht.
Und alles ist erleuchtet. Obwohl keine Lampen zu sehen sind, ist es hier so hell, daß ihm die Augen schmerzen von dem weißen Licht. Es wird von den Wänden mit den vielen Buchstaben reflektiert. Ja, es scheint sogar aus den Wänden mit den vielen Buchstabenreihen zu leuchten, denn woher soll das Licht wohl sonst kommen, wenn es keine Lampen gibt?
Dieser Tunnel ist wie das Innere eines Schlauches. Es gibt keinen ebenen Fußboden, auf dem man angenehm laufen kann. Es gibt auch keine Winkel oder Ecken, die über dem Kopf eine konkrete Decke wahrnehmen lassen könnten. Es gibt keine Schienen und keine Signalampeln, keine Nischen in denen sich Telefone oder Feuerlöscher befinden, und erst recht keine Notausgänge. Obwohl die doch überall sein sollten, falls mal was passiert. Stattdessen gibt es nur Wand. Eine Wand, die durchgängig und rund um ihn herum verläuft, als laufe er wie ein kleines Insekt durch einen überdimensionalen Schlauch. Nur ist diese Wand nicht weich, sondern unnachgiebig und hart wie Beton.
Und sie ist beschrieben. Mit Milliarden von Buchstaben. Alle sind verschiedenen Schrifttyps und daher auch unterschiedlich groß. Sie stehen in Zeilen, sind aber ohne offensichtliches System vollkommen wirr aneinandergereiht, wie nach einem für den Bahnfahrer unverständlichen Geheimcode. Sonst gibt es nichts. Nur Buchstaben. Die ganze unendliche Wand entlang. Stetiger, unzusammenhängender, sinnloser Kauderwelsch. Nur hin und wieder entdeckt den Bahnfahrer inmitten dieser Zeilen komplette Wörter. Oder besser: Buchstabenkonstellationen, die Wörter sein könnten, die aber wohl durch das Prinzip des Zufalls entstanden sind. Es sind Worte, wie "ForRan" oder "VaiTer" oder "NahsenaAcH" oder "DalLank".
Der Bahnfahrer fragt sich schon lange, wann diese Kurve denn endlich enden möge. Es gibt nie eine Steigerung oder ein Gefälle. Es gibt auch keine Abbiegungen nach links oder rechts. Es gibt überhaupt kein Rechts, sondern nur ein sanft gebogenes Links, das nie enger oder weiter wird und das der Krümmung nach zu urteilen, gar nicht so langwegig sein kann. Seine maternden Zweifel, der Tunnel habe überhaupt kein Ende, hat der Bahnfahrer bereits des öfteren zu verdrängen versucht. Auch den Verdacht, dieser Gang sei eigentlich ein Ring, der sich irgendwie um ihn geschlossen habe und die Befürchtung, er habe in dieser stupiden, nie andersartigen und doch ständig wechselnden Umgebung den Überblick verloren, an einer Stelle schon einmal vorbeigekommen zu sein - all das hat er in seinem Kopf schon oft wirsch beiseitegeschoben und sich eingeredet, daß dies doch nicht sein könne.
Aber diese Bedenken dringen immer wieder in das Schneckenhaus seiner Gedanken. Wie Ungeziefer schleichen sie sich stets aufs neue an ihn heran, umschwirren ihn und plagen ihn mit stechenden Kopfschmerzen.
Obwohl der Bahnfahrer schon lange unterwegs ist, verspürt er weder Hunger noch Durst. Er spürt nur noch Müdigkeit. Und den penetranten Drang, weiterkommen zu müssen, immer nur weiter zu laufen, um endlich das Ziel, das Ende dieses verfluchten Tunnels, zu erreichen, um endlich - endlich - eine Pause zu machen, um endlich mal etwas anderes zu sehen, wie auch immer es aussehen möge. Der Bahnfahrer versucht sich zu erinnern, wie lange er schon diesen Gang entlangirrt. Es muß Ewigkeiten her sein, daß er losgegangen ist.
Aber was hat er, ein Bahnfahrer, überhaupt in diesem Tunnel verloren?
"Ich bin ein Bahnfahrer", sagt er laut zu sich selbst, als dürfe er es nicht vergessen. "Ich trage eine Bahnfahrer-Uniform und eine Bahnfahrer-Mütze. Über meine Schulter hängt eine Tasche, in der sich ein Fahrplanbuch, eine Palette Fahrkarten und etwas Wechselgeld befindet. Also bin ich offensichtlich ein Bahnfahrer. Ich bin es gewohnt, in langen Tunneln zu sein."
Gewiß. Offensichtlich ist der Bahnfahrer ein Bahnfahrer. An diese Offensichtlichkeit klammert er sich wie ein Ertrinkender an eine Rettungsboje. Und wenn er ein Bahnfahrer ist, so muß er demnach zweifelsohne eine Bahn gefahren haben. Eine U-Bahn, in der er sicherlich viele Stunden verbracht hat. Mit der er bestimmt mal viele dunkle Stollen befahren, wahrscheinlich an zahllosen Stationen gehalten und möglicherweise Hunderte und Tausende Menschen befördert hat. Wenn er sich zwingt, sich daran zu erinnern, ist sein offenbarer Beruf das Einzige, an das er noch eine Erinnerung hat. Alles Übrige ist mit der Zeit zusammengeschrumpft zu einem ewigen Laufen durch einen hellen, linksgebogenen Tunnel, deren Wände mit unendlich vielen Buchstaben verschiedener Schrifttypen beschrieben sind. Seine ganze Vergangenheit, all seine Vorlieben, Neigungen, Freuden und Leiden, all diesen Rest muß er scheinbar irgendwann beim Laufen verloren haben. Es ist so schleierhaft und fadenscheinig geworden, als liege es hinter einem milchig-weißen Vorhang, bedruckt mit Alltagsgeschwafel, mit Buchstabenreihen, die keinen Sinn mehr ergeben. Aber das Nicht-Erinnern fällt ihm sehr leicht. Scheinbar ist dieser Rest, den er nicht mehr versteht, auch nicht wirklich wichtig gewesen.
Obgleich es ihm so vorkommt, als habe seine Arbeit als U-Bahnfahrer ihn oft sehr gelangweilt. Er muß mit seiner Bahn doch ständig durch dunkle, monotone und vermeintlich endlose Schienenschächte gefahren sein, den Blick ständig auf kreischende Lichtkegel gerichtet, die sich vor seiner Bahn durch die Schwärze geschoben haben. Wie oft hat er wohl das helle Ende vermißt? Doch hat er sicherlich auch stets das Wissen gehabt, das dieses Ende irgendwann kommen mußte.
Und dann das Geschwafel seiner Fahrgäste, jener Alltagsmenschenhorden, die hinter seinem Rücken dumpfe, ausdruckslose und desinteressierte Zwangskonversation betrieben haben mußten. All das muß er als Bahnfahrer doch damals gehaßt haben und muß doch froh darüber gewesen sein, in seiner Fahrerkabine von dem stumpfsinnigen Gebrabbel weitgehend verschont zu bleiben.
Jetzt würde er es gerne wieder hinter sich hören. Ach, wie sehr glaubt er nun, seine Bahn zu vermissen. Und das unterirdische Dunkel. Das Kreischen der Lichtkegel, die vor ihm über die Schienen schaben. Wie sehr verlangt es ihm nun nach einer Station. Er wäre schon glücklich, ein Zeichen zu sehen, ein Signal, das ihm anzeigt, wie weit es noch bis zur nächsten Haltestelle ist. Aber all das gibt es hier nicht. Hier gibt es nicht einmal Schienen.
Ohne seine Bahn glaubt sich der Bahnfahrer schrecklich nackt zu fühlen. Er kann die Stille des Buchstabentunnels nicht mehr hören. Dieses Schweigen, das ja gar kein Schweigen ist, denn es sind ja überall Wörter. Aber er ist Wörter nunmal nicht gewohnt. Sicherlich könnte er Symbole lesen, oder Schilder, oder auch ein Pfeifen. Wenn es erklingt, würde er sich bestimmt auch wieder erinnern, was seine Bedeutung ist. Aber mit Wörtern, nein, damit kennt er sich nicht aus.
Der Bahnfahrer reibt sich die brennenden Augen. Hinter seiner Stirn rumort der Kopfschmerz. Es fällt ihm schwer, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie er hier überhaupt hineingelangt ist. Das muß wohl alles schon sehr lange her sein. Aber irgendwann muß er doch in diesen Tunnel gegangen sein, sonst wäre er schließlich nicht hier. Aber was ist der Grund gewesen? Ein Auftrag? Soll er vielleicht etwas in diesem Tunnel überprüfen oder in Ordnung bringen? Oder hat man ihn losgeschickt, weil dieser Weg zu seiner Bahn führt, mit der er dann eine zugeteilte Strecke fahren soll? Aber seit wann ist ein Tunnel so lang? Und warum gibt es hier keine Schienen?
‚Hier ist mehr nicht in Ordnung, als ich allein wieder in Ordnung zu bringen fähig wäre', denkt sich der Bahnfahrer. Da überfällt ihn plötzlich ein ganz anderer Gedanke: ‚Vielleicht will man mich testen. Ja ... Möglicherweise will man meine psychische Belastbarkeit prüfen und hat mich deshalb in diesen Stollen geschickt.' Aber weshalb? Mißtraut man etwa seinen Fähigkeiten? Glaubt man etwa, er sei unfähig, seinen Beruf gewissenhaft auszuführen?
"Ich werde ihnen schon zeigen, wie belastbar ich bin", raunt der Bahnfahrer grimmig. "Und wenn dieser verdammte Tunnel noch so lang ist, ich werde schon an das Ende kommen. Ich werde ihnen beweisen, daß ich ein guter, gewissenhafter Bahnfahrer bin. Ich tu das, was man von mir verlangt und bringe meine Aufträge ordentlich zuende. Zeit ist schließlich Geld. Ich muß pünktlich sein. Wo und wann auch immer. Sonst gerät am Ende alles durcheinander. Menschen kommen zu spät, wenn ich zu spät komme."
Also läuft er weiter voran. Immer weiter durch den Tunnel, den er wegen seiner sanften Linkskrümmung nicht einsehen kann, entlang an unendlich langen Zeilen aus unendlich vielen Buchstaben unterschiedlichen Schrifttyps.
Aber seine Bedenken schweigen nicht. Sie rüpeln weiterhin und immer heftiger durch die Schneckenhausgänge seiner Gedanken, bis sich sein Kopf wie ausgeschabt anfühlt. Was ist, wenn es gar kein Ende gibt? Was ist, wenn all seine Überlegungen stimmen und er sich die ganzen Zeit im Kreis bewegt. Natürlich ist er irgendwann in diesen Tunnel hineingegangen, also muß es doch logischerweise auch irgendwo einen Eingang geben. Aber nun läuft er schon so lange ... und alles sieht gleich aus ... und doch wieder nicht ... und ein Ende ist nicht abzusehen ...
Der Bahnfahrer will seine Befürchtungen endlich zum Schweigen zu bringen und entschließt sich, einen Test zu machen: Er sucht beim Gehen die Buchstabenzeilen an der Wand nach einer günstigen Buchstabenreihenfolge ab. Nach einem Ausschnitt, den er sich leicht merken und wiederfinden kann. - Nach einem Ausgangspunkt.
Bald findet er einen Zeilenausschnitt in Augenhöhe. c lautet er. Auch wenn der Bahnfahrer keine Bedeutung in dieser Buchstabenreihe sieht, so meint er doch, daß sie sich sehr schön lesen und einprägen läßt. Nun will er weitergehen und die Reihe im Auge behalten und genau darauf achten, ob der Ausschnitt wieder auftaucht. Wenn dies geschehe, würde das bedeuten, daß er sich tatsächlich in einem Kringel bewegt. Eine Weile denkt er über seinen Plan naczh. ‚Um wirklich sicher zu gehen und nichts zu übersehen,' überlegt er, ‚müßte ich zusätzlich mit dem Finger die Zeile verfolgen. So kann es mir nach einer Umrundung - sofern es eine Umrundung wird - nicht passieren, daß ich an der Zeile vorbeilaufe ohne sie zu entdecken.'
Die Schlauchform des Ganges hindert ihn jedoch, nah an die Zeile heranzugehen. So ist seine Fortbewegungsweise höchst unbequem, da er sich weit überbeugen muß, um mit seinem weit ausgestreckten Arm und Zeigefinger an die entsprechende Zeile zu kommen. Gleichzeitig muß er sich auf seine Schritte konzentrieren, damit er nicht über seinen eigenen Füße stolpert.
Schritt um Schritt geht er weiter den Tunnel entlang. Fuß um Fuß zieht er nach, den Arm ausgestreckt haltend, immer mal wechselnd, da er in dieser Haltung schnell lahm wird. Konzentriert wie ein Schulanfänger, der sich beim Lesen noch nicht sicher ist, verfolgt er mit angestrengtem Blick seinem Zeigefinger auf der einen Zeile entlang, um sie auch ja nicht zu verlieren, um auch bloß nicht den einen wiederholten Ausschnitt zu verpassen, wenn er den Kreis - sofern es ein Kreis ist, in dem er sich befindet - einmal umrundet hatte.
Der Bahnfahrer beginnt, das kurze "Nuzediceid", das er sich ausgesucht hatte, zu vermissen. Er kann sich nichts Sehnlicheres mehr vorstellen, als es endlich wiederzusehen. Je weiter er geht, um so mehr bedeutet ihm dieser Ausschnitt. Er wird für ihn wie ein Stück Heimat, auf das er sich in der Fremde freut. Wie eine Oase in der Wüste wird dieses "Nuzediceid" für ihn sein, wenn er es denn dann wiederfindet.
So bewegt er sich verkrampft Stunde um Stunde weiter fort. Viel länger und weiter, als die Krümmung des Tunnels einen Kreis zulassen würde. Beständig brabbelt er das unendliche Zeilenwort vor seinen Augen nach, voller Konzentration, jederzeit eine Bedeutung herauszuhören. Ab und an unterbricht er seinen stetigen Monolog, um sich seinen geliebten Zeilenausschnitt in Erinnerung zu rufen, damit er ihn nicht vergißt oder in der langen Buchstabenreihe4 übersieht. Aber die Arme werden ihm lahm. Immer öfter wechselt er sie, weil sie in der ausgestreckten Haltung immer eher müde werden. Seine Füße schmerzen ihm, da sie dieses verkrampfte Gehen nicht gewohnt sind. Aber der Bahnfahrer beißt die Zähne aufeinander und hält durch; läuft weiter durch den scheinbar endlosen gebogenen Stollen, mit den nie enden wollenden Zeilen aus Buchstaben unterschiedlichen Schrifttyps an den Wänden.
Doch das "Nuzediceid", bei dem er gestartet ist, taucht einfach nicht auf.
Die ganze Zeit hielt er den Blick starr auf die Reihe aus Buchstaben gerichtet. Das weiße Licht, das ihm aus der Wand entgegenleuchtet, schmerzt ihm in den Augen. Oft muß er blinzeln und Tränen laufen ihm das Gesicht herab. Vielleicht hat er einen seiner müden, schweren Arme irgendwann ein Stück gesenkt und vielleicht genau zu einem Zeitpunkt, als er gerade wegen dem Licht hatte blinzeln müssen. Vielleicht hat er so nicht bemerkt, daß er sich versehentlich versehen und in der Zeile vertan hat. Er hat auch öfter mehrere andere Wortkonstellationen entdeckt, die wie zufällig angeordnet mitten in der Zeile standen. "CEitisgält" hatte er gelesen und zuerst gehofft, das sei der Schluß seines geliebten, sehnsuchtsvoll erwarteten "Nuzediceid" gewesen.
Einmal hat er geglaubt, ein "Wekisasciel" gelesen und darin eine vage Bedeutung erahnt zu haben. Aber als er den Blick wieder zurückverfolgte, war der Ausschnitt nicht mehr zu finden. Dabei hätte er schwören können, es gelesen zu haben. Aber es war fort. Wo er es erahnt hatte, befand sich wieder nur Kauderwelsch, zufällig aneinandergereihte Buchstaben, deren Kombination nur Geschwafel darstellen, das keinerlei Bedeutung besitzt.
Der Bahnfahrer bekommt es mit der Angst. Wenn es nun so ist, daß sich die Buchstaben von alleine verschieben? Dann kann es auch sein, daß seine geliebte "Nuzediceid"-Zeile einfach verschwunden ist. Und dann kann er noch so lange in diesem Rund - wenn es ein Rund ist - herumlaufen und nicht merken, daß er um etwas drumherumlief. Und selbst dann, wenn er doch die gesuchte Zeile wiederfinden würde, so fällt ihm nun ein, so wäre das ja noch längst keine Lösung. Denn dann wüßte er zwar, daß er sich in einem Kreis befindet, doch wie sollte er dann aus seinem runden Gefängnis ausbrechen?
Verzweifelt kommt der Bahnfahrer zu dem Schluß, daß er die ganze Zeit, in der er nach einer Lösung für seine Zweifel gesucht hat, diese Zeit nur vertrödelt hat. Er hat sie schlecht genutzt. Nun kommt er nicht mehr pünktlich, wohin auch immer er pünktlich kommen soll. Alles ist nun verloren. Sein Zug oder seine Bahn ist jetzt sicher ohne ihn abgefahren.
Aus lauter Verzweiflung und ohne es wirklich zu merken, verfällt der Bahnfahrer wieder in eine schnellere Gangart, einzig wegen der vagen Hoffnung, dieser Tunnel könnte doch ein Tunnel sein und irgendwo ein Ende haben. Vielleicht ist ja doch noch nicht alles verloren. Vielleicht kann er die mit dem dummen Test vertrödelte Zeit wieder aufholen.
"Ich werde es ihnen zeigen. Ich bin ein guter, gewissenhafter Bahnfahrer", brummt er verärgert immer wieder vor sich hin, während er mit hängendem Kopf seine laufenden Füße voranhetzt. "Ich werde an das Ende kommen. Ich tue, was man von mir verlangt. Ich bringe meine Aufträge ordentlich zuende. Zeit ist Geld. Ich muß pünktlich sein. Sonst gerät alles durcheinander. Ich bin ein guter, gewissenhafter Bahnfahrer."
Da hält er mit einem Male so abrupt inne, daß er beinahe gestrauchelt wäre. Entgeistert starrt er an, was urplötzlich die stete Eintönigkeit des Buchstabentunnels unterbrochen hat: Direkt vor seinen Schuhen sprießt ein zierliches Gänseblümchen und reckt sein weißes Köpfchen dem verdutzten Bahnfahrer entgegen. Der kleine Trieb hat mit seiner sanften Gewalt den harten Boden des Stollens einfach aufgebrochen und sich seinen Weg ins Innere des Stollens durchwachsen.
Der Bahnfahrer ist von diesem feingliedrigen Anblick so verblüfft, daß er zunächst glaubt, er träume. Verwundert reibt er sich die geröteten Augen, schüttelt den Kopf, reibt sich noch einmal die Augen, geht dann zögernd in die Hocke und stubst das Gänseblümchen vorsichtig mit seinem zitternden Zeigefinger an. Doch das Pflänzchen verschwindet nicht einfach, wie der Bahnfahrer vermutet hatte. Es denkt gar nicht daran, sich als Sinnestäuschung zu entpuppen, sondern bleibt dort, wo es aus dem Boden sprießt und schwingt, von der Fingerkuppe des Bahnfahrers angestoßen, leicht und fröhlich hin und her. Fast, als freue es sich darüber, hier bei ihm in diesem Buchstabentunnel zu sein.
Der Bahnfahrer kann es einfach nicht fassen, solch ein Pflänzchen hier zu sehen. ‚Ob dies das Ende ist?' fragt er sich. ‚Ob hier die normale Welt wieder beginnt und dieses Gänseblümchen nur ein Vorbote von ganzen Wiesen und Auen voller Gänseblümchen ist, die irgendwo da vorne auf mich warten?'
Unsicher schaut er sich um. Aber natürlich ist niemand zu sehen, der ihn und seine Reaktion beobachten könnte. Trotzdem fühlt er sich verunsichert. Er glaubt, sich sehr wohl an diese Pflanze zu erinnern. Sie ist ein Unkraut, das weiß er. Und Unkräuter, auch das glaubt er noch zu wissen, sind schlecht für Schienenstränge. Sie sprengen mit ihren Wurzeln, ihren frechen Gänsefüßchen Asphalt und sogar Beton. Außerdem überwuchern sie sicherlich völlig rücksichtslos die oberirdischen Gleise. In seinem U-Bahntunnel hat er bestimmt nicht viel mit Unkräutern zu tun gehabt, aber in regelmäßigen Abständen, so schließt der Bahnfahrer aus seinen Resterinnerungen, muß man sicherlich alle Gleise vom schädlichen Unkraut befreien, da die Sicherheit der Schienenstrecken sonst gefährdet ist.
Der Bahnfahrer fühlt sich hin und hergerissen. Was soll er nun tun? ‚Vielleicht', so überlegt er weiter, ‚werde ich ja doch beobachtet und sehe meine Beobachter nur nicht. Vielleicht ist dies auch ein Test. Schließlich bin ich im Dienst. Ich trage meine Bahnfahrer-Uniform, demnach bin ich also im Dienst. - Ich muß es tun.' Und mit einer ruckartigen, kurz entschlossenen Bewegung bückt er sich und rupft das Gänseblümchen samt Wurzel aus dem Boden. Das kleine Loch, in dem das Pflänzchen sproß, schließt sich innerhalb eines weiteren Augenblickes. Kurz darauf ist nichts mehr zu sehen, außer eine winzige, kaum zu erkennende Narbe zwischen zwei Buchstabenreihen.
Fassungslos starrt der Bahnfahrer auf die Stelle. Dann schaut er auf das entwurzelte Blümchen, das schlaff zwischen den Fingern seiner Hand liegt. Es läßt das weiße Blütenköpfchen hängen, welkt in Sekunden dahin, trocknet aus, zerfällt zu feinem Staub, der zu Boden rieselt, wo er gänzlich verschwindet.
Immer noch gafft der Bahnfahrer mit offenem Mund abwechselnd auf die verschlossene Stelle am Boden und auf seine leeren Hände. Ein wirrer, und trotzdem unermesslich langsamer Gedanke schleicht sich durch das Schneckenhaus in seinem Kopf. Dieser Gedanke erzählt ihm von Gänseblümchen. Von vielen Gänseblümchen auf einer riesigen Wiese, auf der kleine, bloße Gänsefüßchen herumlaufen. Gänsefüßchen. Mit denen jeder Satz beginnt. Oder aber endet. Solange er nur ausgesprochen wird.
Eine unendlich lange Zeit steht der Bahnfahrer regungslos da, starrt nur herab auf Hände und Tunnelboden. In diesen wenigen Minuten altert er scheinbar um Jahrzehnte.
Dann beginnt er wieder zu gehen. Doch sind seine Schritte nur noch ein Schlurfen, schwer und müde, als rolle er seit Urzeiten einen großen Stein einen Berg hinauf. Träge schleift er die Füße hinter sich her. Nur nebenbei bemerkt er, daß er dabei die Tinte der Buchstaben verschmiert. Doch das ist dem Bahnfahrer egal. Er fühlt sich nur noch müde. Er versucht, nur auf seine Schuhe zu schauen, um die Buchstabenzeilen nicht mehr sehen zu müssen und um sich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren, nur noch auf den nächsten Schritt. Und stets kommt ihm dieser schwerer vor als der letzte. Alles ist ihm egal geworden. Und selbst wenn die schienenartigen Streifen, die er hinter sich herzieht, irgendwann vor ihm auftauchen werden, so wird ihm auch das egal sein. Der einzige Vorteil, den er darin sehen wird, wird sein, daß es zumindest wie Schienen aussieht, was ihm den Weg in eine Unendlichkeit weist. In Gewissen-Haft. In eine schlauchartige Unendlichkeit einer einzigen runden Wand, bedruckt mit Buchstaben verschiedensten Schrifttyps, in langen Reihen aneinandergefügt, ohne Sinn und Bedeutung, wie das stumpfsinnige Geschwafel von Leuten, die hinter einer Bahnfahrerkabine stehen und sich mit nichtswertigen Informationen einlullen.
Und so schiebt er sich auf verschmierten Tintengleisen weiter voran, ohne etwas anderes zu wollen, als endlich ein wohltuendes Dunkel am Ende dieses Tunnels zu sehen.
 



 
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