Für Leserinnen und Leser ab 12 Jahre
Inhalt:
Die dreizehnjährige Ich-Erzählerin geht einen ungewöhnlichen Weg, um hinderliche Lebensumstände zu überwinden. Es funktioniert. Aber auch andere Wege sind denkbar.
Gewitterneigung
Gibt es etwas schöneres als ein kräftigen Sommerregen? Ein paar Tage braucht es bei uns immer bis die Stimmung "reif" ist. Und dann entlädt sich alles in einem heftigen und reinigenden Gewitter. Jetzt ist es anders. Wie sonst flackern immer wieder Streitereien auf zwischen mir und meinen Schwestern, oder zwischen Mama und dem Alten oder zwischen meinen Eltern und uns Kindern. Aber es bleibt merkwürdig kalt, unheimlich bedrückend. So als gärt da etwas, das nicht nach oben kommen darf.
Ich hab’s ganz schnell vergessen. Es war tatsächlich bemerkenswert. Ich renne die Treppe runter. Unten stand der Alte, die eine Hand auf dem Treppengeländer, mit der anderen fährt er mir zwischen die Oberschenkel. Begrapscht mich und grinst dabei ein widerlich dreckiges Grinsen.
‚Was soll das', denk ich und schau dem Alten verblüfft ins Gesicht. Aber da ist nur dieses dreckige Grinsen unter dem stechenden und kalten Blick.
Ich bin dreizehn und behalt’s für mich. Mama hat schon genug Sorgen. In diesen Tagen besudelt der Alte meine Schwestern beim Abendessen mit schmutzigen Wörtern: Fickersche, Hure, Nutte ... Mama schimpft. Aber der Alte ließ sich nicht beirren. Meine Schwestern schweigen. Da brodelt Hass.
Ich komm von der Schule heim. Niemand ist da außer mir, scheint's. ‚Wie langweilig', denk ich. Oben klappt die Schlafzimmertür meiner Eltern. und dann steigt der Alte die Treppe runter.
"Komm mal rauf. Ich will dir was zeigen", sagte er so unerhört freundlich, dass ich aufgeh’ wie eine Blume im Sommerregen. Diese Freundlichkeit ist magisch. Die zieht mich an. Ich folgte dem Alten nach oben ins Schlafzimmer. Er schließt die Tür hinter mir ab ...
Mechanisch wie ein Roboter wackele ich die Treppe runter. Oder stolper’ ich selbst neben mir her? Ich bin tot. Aber ich atmete.
Jetzt brauche ich Mama ganz sehr. Aber ich hab Angst, dass sie mich schlägt, weil ich so was schmutziges gemacht habe. Ich ab’s nicht gemacht. Ich hab ‚ne' gesagt. Er war's. Ich brauch jetzt Mama. Wenn ich es ihr sage, vielleicht hat sie mich dann endlich lieb, ein bischen nur.
Aber die Mama delegiert das volle Gewicht meiner schrecklichen Offenbarung an mich zurück. Rollentausch. Ich geh leicht in die Knie. Mein Hals schiebt sich wie bei einem Reiher nach vorn unten. Die Schultern hängen.
Die kommenden Wochen und Monate sind furchtbar. Den Alten haben sie noch am gleichen Abend in U-Haft gesteckt. Mama wird von ihrem Hausarzt umsorgt. Um mich und meine Schwestern kümmert sich niemand. Nicht die von der Schule, die uns fast täglich vom ‚Menschsein' erzählen. Keiner der Nachbarn,die sind hinter den Gardinen immer im Bilde. Auch nicht die Großeltern, von morgens bis abends predigen sie Gottes- und Nächstenliebe. TABU. Wo ist eigentlich der liebe Gott? Hatte er grad wichtiges zu tun?
Einige Tage warte ich auf ein Ereignis, das die Familie wieder zusammenbringt. Das stellt sich nach einer Katastrophe regelmäßig ein. Doch kein reinigendes Gewitter lässt aufatmen, schafft Raum zum weiterleben. Weder Mama, noch meine Schwestern reden über das Geschehene, zumindest nicht, wenn ich dabei bin. Ich fühl’ mich ausgeschlossen.
Ich lerne seitdem wie ein Verrückte. Bin eine dreihundertprozentige Streberin und verhaltensauffällig. Rücke unmerklich von den anderen ab. Bin isoliert. Ich merk’s und auch nicht. Zeichne immerzu, damit ich spüre, mich gibt’s.
Im Dorf heißt es einfach, wir sind Gesocks. Da passiert so was schon mal. Die kriegen Kinder wie die Karnickel. Das eine weiß ich. Nie wieder setz ich einen Fuß in eine Kirche. Und auch die Atheisten können mich mal.
Mama hat noch mal geheiratet. Wieder steht ein Mann nachts ohne Unterhosen am Bett meiner Schwestern. Sie sagen. Mama will nicht hören, nicht sehen.
Bin abgehauen von Zuhause. Es ist fast romantisch, mal unter dieser Brücke hausen, mal unter jener, im Sommer. Aber der Winter schlägt immer grausam zu.
Mit dem Bleistift fang ich Leben ein. Graphit auf Packpapier, laviert mit Tränen oder Regentropfen.
Gelegentlich gabeln mich Streetworkerinnen auf. Dann wohne ich kurze Zeit in einem Mädchenhaus. Soll wieder eingegliedert werden. Ich will nicht.
Heute treffe ich meine Freunde Gabriel und Bea. Unten, am Fluss gibt es eine herrliche Stelle zum angeln und grillen. Ein paar Tage braucht es bis die Stimmung reif ist. Und dann entlädt sich alles in einem heftigen Gewitter.
Ich werde nicht ewig dieses Leben führen. Die Gesetze der Straße sind auch immer die selben. Es muss noch mehr geben auf der Welt. Regen rauscht, Blitze zucken, Donner rollen oder grollen sie? Ich kletter' die Uferböschung hoch, den Bleistiftstummel in der geschlossenen Faust.
Inhalt:
Die dreizehnjährige Ich-Erzählerin geht einen ungewöhnlichen Weg, um hinderliche Lebensumstände zu überwinden. Es funktioniert. Aber auch andere Wege sind denkbar.
Gewitterneigung
Gibt es etwas schöneres als ein kräftigen Sommerregen? Ein paar Tage braucht es bei uns immer bis die Stimmung "reif" ist. Und dann entlädt sich alles in einem heftigen und reinigenden Gewitter. Jetzt ist es anders. Wie sonst flackern immer wieder Streitereien auf zwischen mir und meinen Schwestern, oder zwischen Mama und dem Alten oder zwischen meinen Eltern und uns Kindern. Aber es bleibt merkwürdig kalt, unheimlich bedrückend. So als gärt da etwas, das nicht nach oben kommen darf.
Ich hab’s ganz schnell vergessen. Es war tatsächlich bemerkenswert. Ich renne die Treppe runter. Unten stand der Alte, die eine Hand auf dem Treppengeländer, mit der anderen fährt er mir zwischen die Oberschenkel. Begrapscht mich und grinst dabei ein widerlich dreckiges Grinsen.
‚Was soll das', denk ich und schau dem Alten verblüfft ins Gesicht. Aber da ist nur dieses dreckige Grinsen unter dem stechenden und kalten Blick.
Ich bin dreizehn und behalt’s für mich. Mama hat schon genug Sorgen. In diesen Tagen besudelt der Alte meine Schwestern beim Abendessen mit schmutzigen Wörtern: Fickersche, Hure, Nutte ... Mama schimpft. Aber der Alte ließ sich nicht beirren. Meine Schwestern schweigen. Da brodelt Hass.
Ich komm von der Schule heim. Niemand ist da außer mir, scheint's. ‚Wie langweilig', denk ich. Oben klappt die Schlafzimmertür meiner Eltern. und dann steigt der Alte die Treppe runter.
"Komm mal rauf. Ich will dir was zeigen", sagte er so unerhört freundlich, dass ich aufgeh’ wie eine Blume im Sommerregen. Diese Freundlichkeit ist magisch. Die zieht mich an. Ich folgte dem Alten nach oben ins Schlafzimmer. Er schließt die Tür hinter mir ab ...
Mechanisch wie ein Roboter wackele ich die Treppe runter. Oder stolper’ ich selbst neben mir her? Ich bin tot. Aber ich atmete.
Jetzt brauche ich Mama ganz sehr. Aber ich hab Angst, dass sie mich schlägt, weil ich so was schmutziges gemacht habe. Ich ab’s nicht gemacht. Ich hab ‚ne' gesagt. Er war's. Ich brauch jetzt Mama. Wenn ich es ihr sage, vielleicht hat sie mich dann endlich lieb, ein bischen nur.
Aber die Mama delegiert das volle Gewicht meiner schrecklichen Offenbarung an mich zurück. Rollentausch. Ich geh leicht in die Knie. Mein Hals schiebt sich wie bei einem Reiher nach vorn unten. Die Schultern hängen.
Die kommenden Wochen und Monate sind furchtbar. Den Alten haben sie noch am gleichen Abend in U-Haft gesteckt. Mama wird von ihrem Hausarzt umsorgt. Um mich und meine Schwestern kümmert sich niemand. Nicht die von der Schule, die uns fast täglich vom ‚Menschsein' erzählen. Keiner der Nachbarn,die sind hinter den Gardinen immer im Bilde. Auch nicht die Großeltern, von morgens bis abends predigen sie Gottes- und Nächstenliebe. TABU. Wo ist eigentlich der liebe Gott? Hatte er grad wichtiges zu tun?
Einige Tage warte ich auf ein Ereignis, das die Familie wieder zusammenbringt. Das stellt sich nach einer Katastrophe regelmäßig ein. Doch kein reinigendes Gewitter lässt aufatmen, schafft Raum zum weiterleben. Weder Mama, noch meine Schwestern reden über das Geschehene, zumindest nicht, wenn ich dabei bin. Ich fühl’ mich ausgeschlossen.
Ich lerne seitdem wie ein Verrückte. Bin eine dreihundertprozentige Streberin und verhaltensauffällig. Rücke unmerklich von den anderen ab. Bin isoliert. Ich merk’s und auch nicht. Zeichne immerzu, damit ich spüre, mich gibt’s.
Im Dorf heißt es einfach, wir sind Gesocks. Da passiert so was schon mal. Die kriegen Kinder wie die Karnickel. Das eine weiß ich. Nie wieder setz ich einen Fuß in eine Kirche. Und auch die Atheisten können mich mal.
Mama hat noch mal geheiratet. Wieder steht ein Mann nachts ohne Unterhosen am Bett meiner Schwestern. Sie sagen. Mama will nicht hören, nicht sehen.
Bin abgehauen von Zuhause. Es ist fast romantisch, mal unter dieser Brücke hausen, mal unter jener, im Sommer. Aber der Winter schlägt immer grausam zu.
Mit dem Bleistift fang ich Leben ein. Graphit auf Packpapier, laviert mit Tränen oder Regentropfen.
Gelegentlich gabeln mich Streetworkerinnen auf. Dann wohne ich kurze Zeit in einem Mädchenhaus. Soll wieder eingegliedert werden. Ich will nicht.
Heute treffe ich meine Freunde Gabriel und Bea. Unten, am Fluss gibt es eine herrliche Stelle zum angeln und grillen. Ein paar Tage braucht es bis die Stimmung reif ist. Und dann entlädt sich alles in einem heftigen Gewitter.
Ich werde nicht ewig dieses Leben führen. Die Gesetze der Straße sind auch immer die selben. Es muss noch mehr geben auf der Welt. Regen rauscht, Blitze zucken, Donner rollen oder grollen sie? Ich kletter' die Uferböschung hoch, den Bleistiftstummel in der geschlossenen Faust.