Gewitterzwieback

5,00 Stern(e) 1 Stimme

joyce

Mitglied
Gewitterzwieback


Eigentlich sollte ich schon lange im Bett sein, denn morgen begann mein fünftes Schuljahr.
Doch dies war wieder einmal eine der Nächte, in denen ich kein Kind mehr war.
Als ich in dieser Nacht mit meiner Mutter immer noch zum Fenster raus schaute, schlief Tim, mein kleiner Bruder, schon lange nebenan. Das war aber nicht der Grund für unser Flüstern.
Es war dieses Leisesein, das sich fast automatisch einstellt, wenn man im Dunkeln ist. Wir hatten das Licht im Wohnzimmer nicht angemacht. Gleich unter dem Fenster stand das Sofa, auf dem wir, mit dem Blick zum Fenster hinaus, knieten. Beide hatten wir die Ellbogen auf der Rückenlehne und die Köpfe in die Hände gestützt.
Meine Mutter aß Zwieback. Das tat sie immer wenn sie nervös war. Bei Gewitter zum Beispiel.
Oft bin ich so mit ihr am Fenster gekniet, wenn es draußen so richtig gewitterte. Dann knusperte sie unaufhörlich und lautstark ihren, Gewitterzwieback, wie sie ihn nannte. Damals glaubte ich sie tue das, damit sie in dieser Stille nicht unverhofft vom Donner und vom Blitz überrascht wurde. Doch genau so wie ich, zuckte sie jedes Mal zusammen wenn ein Grollen niederging.
Heute Nacht sah es allerdings nicht nach Gewitter aus.
Zumindest nicht am Himmel.
Doch die Stimmung war ähnlich, wie vor einem schlimmen Sturm, einem wüsten Orkan oder einem alles vernichtenden Tornado.
Mein Vater.
Wir hatten die Gardinen zur Seite gezogen, und die Jalousien nur soweit herunter gelassen, dass wir gute Sicht auf die Einfahrt hatten. Unser Haus stand quer, und bildete den Abschluss der schmalen Zufahrt zwischen den zwei Häuserreihen, in denen alle Fenster schon lange dunkel waren. Wir stellten beide Fensterflügel schräg. So konnten wir auch das kleinste Geräusch von der Straße hören. Es wirkte irgendwie friedlich da draußen.
Wir wussten beide, dass diese friedliche Nacht, wohl nur für unsere Nachbarn gedacht war.
Sonst machte mich das ständige Kauen und Knuspern meiner Mutter aggressiv, doch heute klang es irgendwie beruhigend. Sie redete unentwegt mit vollem Mund. Erzählte mir ganz nebensächliche Sachen. Ihre Stimme sollte beruhigend auf mich wirken. Aber jedes Wort, und wenn es noch so ruhig war, verriet mir, dass auch sie Angst hatte und verzweifelt war. Manchmal glaubte ich sogar ihre Scham zu hören, wenn ihr bewusst wurde, dass sie hier, mit ihrer knapp zehnjährigen Tochter, auf ihren Mann wartete.
Die Belanglosigkeiten ihres Erzählens täuschten mich schon lange nicht mehr.

Ständig hatte ich jetzt das Gefühl auf die Toilette zu müssen. Wie beim Versteckspiel mit Freundinnen, von denen ich nur wenige hatte, weil ich immer hier zu hause war, bei ihr.
In den kurzen Pausen, die sie beim Reden machte, konnte ich mein Herz schlagen hören. Es klopfte hoch bis zur Kehle. Schnell hustete ich, weil ich dachte sie könnte meine Angst hören. Ich redete nicht viel. So konnte mich auch meine zitternde Stimme nicht verraten. Meine Mutter hätte mich ins Bett geschickt, wenn sie von meiner Angst gewusst hätte. Doch ich musste hier bleiben, es war wichtig für sie. Es beruhigte sie, wenn ich hier mit ihr wartete und ihr zuhörte.

Diese Nächte machten mich trotz Allem stolz. Ich, hier an der Seite meiner Mutter, wo ich ihr eine Hilfe war, sie unterstützte und manchmal sogar Rat für sie hatte. Das waren Momente in denen ich ihr ebenbürtig war, erwachsen und mutig.
Jetzt war in mir kein Platz für Weinen oder Weglaufen, ich konnte es, ich wollte es, stark sein, für sie.

Von weitem hörten wir ein Motorengeräusch. Scheinwerferlicht tauchte vorne an der Straße auf.
Sie unterbrach ihren Satz mitten im Wort.
Ich hielt den Atem an, um die Geräusche von draußen besser zu hören.
Das Licht der Scheinwerfer zog vorbei.
Meine Mutter redete genau mit derselben Silbe weiter, an der sie eben unterbrochen hatte. Wir holten gleichzeitig tief Luft, und unsere Blicke blieben wachsam auf die Straße gerichtet.
Sein letzter Anruf kam vor zwei Stunden. Aus einer Kneipe, das konnte man deutlich hören. Es ist eine Art Spielregel, die er aufgestellt hat. Jede volle Stunde ein Anruf. Jede volle Stunde ein Hinweis darauf, wie ihn der Alkohol veränderte. Das hatte den Vorteil, dass wir fast genau einschätzen konnten wann es los ging. Der Grad seiner Trunkenheit war ein zuverlässiger Barometer für seine Heimkehr. Das Schlimmste daran war dieses schrille Klingeln des Telefons.
Schmerzhaft fuhr mir dieses Geräusch durch die Glieder, und ich war froh wenn meine Mutter schnell den Hörer griff.
Der letzte Anruf vor einer Stunde fiel aus.
Es konnte jetzt also nicht mehr lange dauern.
Ich musste so dringend zur Toilette. Aber was, wenn genau in diesem Moment sein Wagen in die Einfahrt ..?
Egal, ich musste, und lieber jetzt gleich als in zehn Minuten, dachte ich.
Ich fand mich gut zurecht in der dunklen Wohnung, kannte jedes Möbelstück genau, das zum Hindernis hätte werden können. Schnell huschte ich den Flur entlang. Die Schlafzimmertür war nur angelehnt. Flüchtig schaute ich hinein, um zu sehen ob Tim noch schläft.
Er lag unten, in unserem Etagenbett, und er ärgerte sich mindestens einmal die Woche schrecklich darüber, dass ich oben schlafen durfte.
Da lag er jetzt, tief schlafend und bekam zum Glück nichts mit.
Leise öffnete ich die Toilettentür und schob mein Nachthemd hoch. Hastig setzte ich mich hin. Mir war plötzlich schrecklich kalt und ich zitterte. Ich versuchte schnell zu pinkeln.
Nichts.
Es ging einfach nicht. Kein Tropfen wollte kommen, obwohl ich so dringend musste. In Gedanken sagte ich mir: „los komm schon, versuch es, konzentrier dich, es wird gehen.“
Doch nichts geschah. Wie ein fester Knoten hatte sich mein Unterleib zusammengezogen und es tat weh.
Schnell tapste ich zurück ins Wohnzimmer und nahm meine Position auf dem Sofa wieder ein.
„Und ? Warst du auf der Toilette?“
„Ja, alles o.k. hab nur nicht runtergespült, damit der Kleine nicht aufwacht.“
„Gut, Mädchen.“
Durch unser Reden hörten wir den herannahenden Wagen nicht.
Die Einfahrt erhellte sich plötzlich. Blitzschnell zogen wir die Gardinen zu. Bloß schnell weg vom Fenster. Das war wichtig, er durfte nicht sehen, dass wir hier warteten. Mit hastigen Bewegungen richtete ich die Sofakissen wieder zurecht. Meine Mutter schob den Couchtisch an die richtige Stelle zurück und schlüpft in ihre Hausschuhe.
Jeder unserer Handgriffe passte wie bei einer Feuerwehrübung.
„Los, schnell ins Bett mit dir.“ Meine Mutter machte mich auch heute wieder darauf aufmerksam, wie wichtig es jetzt war, mich absolut ruhig zu verhalten. Mein Körper war taub vor Angst, und ich wusste nicht, wie ich die paar Meter ins Schlafzimmer schaffte. Mein Herz raste und mein Atem wurde fast panisch.
Jetzt lag ich oben in meinem Bett. Tim schlief immer noch tief. Ich hoffte so sehr, dass er jetzt nicht aufwachte. Zitternd zog ich die Bettdecke hoch bis ans Kinn. Umdrehen, ich musste mich umdrehen, das Gesicht zur Wand. Wenn ich so lag, konnte mein Vater nicht sehen, wenn meine Augenlider flackerten. Er würde auch heute Nacht noch ins Zimmer kommen, das wusste ich. Er kam immer kurz rein um nach uns zu sehen.
Jetzt kam mein schwierigster Teil der Nacht. Ab jetzt spielte sich die ganze Szenerie für mich nur noch wie ein Hörspiel ab. Nahezu jedes Geräusch, das jetzt zu hören war, kannte ich.
Ich musste mich schlafend stellen. Tief und ruhig Atmen. Die Augen ganz entspannt zulassen. Fest kniff ich meine Augen immer wieder zu, um sie dann geschlossen halten zu können.
Die Wagentür schlug zu. Meine Mutter nahm den Schlüsselbund vom Haken und ging schnell zur Wohnungstür.
Er schloss nie selbst auf, wenn er so nach hause kam. Er läutete immer. Sturm läutete er, jedes Mal.
Dieses Läuten.
Es ging mir wie Strom durch die Glieder, als wäre mein kleiner Körper direkt mit dem Klingeldraht verbunden. Ich zuckte. Einmal, zweimal, das dritte Mal lang.
Jedes Läuten war lang, viel zu lang.
Endlich, meine Mutter hatte die Tür aufgesperrt und ihn reingeholt. Es polterte und krachte. Sicher konnte er kaum noch stehen.
Immer wieder hielt ich den Atem an, um besser zu hören.
Ein lautes Rumpeln. Das war die Stehlampe im Wohnzimmer.
Nicht nur dieses Geräusch konnte ich Möbelstücken zuordnen, die jetzt umfielen, oder die er jetzt aus dem Weg schaffte. Er brüllte plötzlich. Dann kam wieder leises Reden.
Meine Mutter blieb immer ruhig und besonnen. Sie durfte ihn jetzt ja nicht provozieren, das wäre das Schlimmste gewesen. Mit ihre Stimme konnte sie ihn besänftigen, ihre ruhige Art nahm ihm den Wind aus den Segeln.
Beschwichtigend redete sie auf ihn ein, leise, fast zärtlich. Wenn sie ihn jetzt mit ihren Worten im Herzen traf, hatten wir eine Chance, dass es heute schnell vorbei war.
Ich hörte einen dumpfen Schlag. War er gefallen? Oder sie?
Am Klang ihrer Stimme konnte ich erkennen, wie sie versuchte etwas schweres zu heben. Vielleicht lag er auf ihr? Tat er ihr wieder weh?
Die Schmerzen in meinen Armen und Beinen wurden immer schlimmer. Meine Gedanken rasten. Verzweifelt versuchte ich eine Idee zu haben, was ich jetzt tun könnte. Doch ich wusste, wenn ich jetzt raus gehen würde, dann wäre er erst recht wütend. Doch wie konnte ich ihr jetzt helfen?
Die einzige Hilfe die ich ihr jetzt geben konnte war es, ruhig zu sein.
Sie balgten sich am Boden, mal lauter, mal leiser konnte ich es hören. Dann, wieder ein Rumpeln im Flur. Die Schlafzimmertür ging auf. Mit zu vielen Schritten torkelt er herein und machte Licht.
Jetzt galt es völlig ruhig zu atmen, die Augen still zu halten.
Der Geruch von Bier, Schnaps und seinen Arbeitsklamotten, verbreitete sich schnell im Raum. Seltsamerweise mochte ich den Geruch auf eine Art.
Vielleicht weil diese Phase das baldige Ende der Qual bedeutete. Wenn er seine Kinder noch geküsst hatte, war er irgendwie besänftigt und schlief bald darauf ein.
Das Etagenbett wackelte und ich konnte ihn jetzt deutlich riechen. Spürte wie er sich zu mir ins Bett lehnte. Dann fühlte ich seine Bartstoppeln auf der Wange und einen feuchten Kuss. Er beugte sich wankend zu Tim hinunter.
Starr vor Angst war ich, wie erfroren.
Beim Verlassen des Zimmers rempelte er noch einmal an das Bett. Tim schlief so tief, dass er von allem nichts mitbekam. Im Flur krachte es wieder. Das war die Kommode. Die Stimme meines Vaters wurde wieder lauter. Beschwichtigend redete meine Mutter auf ihn ein, und konnte irgendwann seinen Ärger des Mittags zähmen.

An jenem Mittag hatte sie ihm den Stift aus der Hand, als sie sich uneinig waren über die Korrektheit der Heizkostenabrechnung. Sie wiedersprach ihm zweimal. Er schaute sie nur an, mit diesem Blick den wir fürchteten. Da wussten wir, was uns in dieser Nacht erwarten würde.
Ich ging in die Küche, stellte mich auf die Zehenspitzen, und reckte mich hoch bis zum obersten Brett des Küchenschranks.
Dort stand sie immer. Die Packung mit dem Gesicht eines pausbackigen, glücklichen Kindes vorne drauf. Sie fühlte sich noch halb voll an. Ich nahm sie und stellte sie auf den Tisch, die Tüte mit Zwieback.




© by Joyce 08 -04
 



 
Oben Unten