Gieriges Verderben

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"Sie"
Der Tag war lang. Unendlich lang. Ich hatte nichts anderes zu tun als an die Decke zu starren, die Blumen auf dem Vorhang durchzuzählen, oder sie zu beobachten, wie sie faul herumsass, sich mit Essen vollstopfte und anschliessend zwischen ihren Zähnen herumstocherte. Ab und zu hatte ich sie auch schon beim in der Nase bohren beobachten können. Sie liess es sich gut gehen. Den Fernseher hatte sie absichtlich von mir weggedreht, so dass ich nie etwas von dem mitbekam, was sie sich da reinzog. Doch wenigstens hörte ich was da auf dem Schirm abging. Ich machte mir dazu meine eigenen Bilder. Am Anfang war mir das schwer gefallen, aber ich war immer schon mit reichlich Phantasie gesegnet gewesen. Das kam mir nun zu Gute. Es war schon verrückt. Dieser Körper war starr und unbeweglich geworden, doch mein Geist war hellwach, auch wenn das keiner bemerkte. Ich ging die Blumenmuster durch, zählte die Blütenblätter, mass die Abstände mit den Augen. Manchmal vergass ich das Zimmer um mich herum und fand mich unversehens auf einer wundervoll duftenden, blühenden Wiese wieder. Ich roch an den Blumen, schmeckte ihren betörenden Duft. Ich legte mich in sie hinein, blickte in den wolkenlosen, tiefblauen Himmel und spürte die Sonne warm auf meiner Haut.

"Ich"
Ich hatte die Köchin gebeten ihr noch einen Löffel extra obendrauf zu geben. Meine Patientin habe heute besonders viel Appetit, hatte ich zu ihr gesagt. Und sie war ganz stolz, dass ihr Essen bei den Alten so gut ankam. Ich setzte mich breitbeinig an den Tisch, stellte den Fernseher an und machte mich mit viel Appetit über ihr Essen her. Na, sagte ich zu ihr, schade, dass sie so gar keinen Appetit haben. Sie reagierte nicht darauf. Schade, dachte ich. Am Anfang war es wirklich lustiger. Hoffentlich liess sich die Brut bald wieder blicken. Diese Pralinen machten süchtig. Je mehr man davon ass, umso mehr gierte man nach weiteren. Ich rülpste und wischte mir den Mund ab. Bald kam meine Lieblingssendung. Danach würde ich die Beine etwas hochlegen und ein Nickerchen machen. Ich spürte ein leichtes Stechen im Magen. Was war denn da nur los, fragte ich mich. Ich wurde doch wohl nicht krank? Ich musste mich beeilen, wollte ich den Anfang der Sendung nicht verpassen. Ich packte das Tablett mit dem schmutzigem Geschirr und steuerte auf die Türe zu.

"Sie"
Sie ass nicht, sie schlang. Passte zu ihr. Sie war ja auch eine Schlange. Eine hinterlistige, giftige Schlange. Ich hatte schon ganz zu Anfang kein gutes Gefühl bei ihr gehabt. Sie war neu dazugekommen und sie war so übermässig freundlich, dass es mir unangenehm war. Ich traute ihr nicht. Und natürlich hatte ich bemerkt, dass sie dann, wenn sie dachte, ich würde es nicht mitkriegen, von meinen Pralinen naschte. Es erschien mir ewig her, seit ich eine davon hatte essen können. Erst hatte ich nicht verstanden, was da mit mir passiert war, aber wenn einem nur noch der Geist bleibt, kann man Dinge wahrnehmen, die einem bislang verborgen blieben. Es war schleichend gekommen. So allmählich, dass ich es erst bemerkt hatte, als es zu spät war, die Dinge unwiderruflich ihren Weg genommen hatte. Ab und zu hatte ich ein leichtes Stechen im Magen verspürt und immer mehr fühlte ich mich matt und kraftlos. Sie war in dieser Zeit noch nicht häufig bei mir gewesen. Ich wusste, dass sie sich ausschliesslich um bettlägerige Patienten kümmerte. Ab und zu wurde sie mir als Vertretung zugeteilt. Einmal hatte ich gerade mein Fotoalbum angeschaut und Pralinen gegessen, als sie nach mir schaute. Sie heuchelte Interesse, doch es ging ihr nur darum von den Pralinen zu kriegen. Mein Zusammenbruch war von einem Moment auf den nächsten gekommen. Ich wollte wie gewohnt aufstehen, doch ich schaffte es noch nicht mal mehr, meine Beine über den Bettrand zu bewegen. Mein Körper war erstarrt. Von einem Moment auf den anderen. Mein Körper erstarrt, meine Stimme verstummt. Die Ärzte waren ratlos. Meine Kinder weinten und klagten in ihrem Beisein, doch als sie mit mir alleine waren und mich nicht nur stumm sondern auch taub glaubten, zeigten sie ihr wahres Gesicht. Sie fielen einander um den Hals, sprachen über das Erbe, das auf sie wartete. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

"Ich"
Die Alte dämmerte weiter vor sich hin. Ich musste ihr nun bald mal etwas zu trinken geben. Ich wollte ja schliesslich, dass sie es gut bei mir hatte. Aber erst wollte ich mir meine Sendung anschauen, trinken konnte sie danach immer noch. Ich griff nach der Schachtel, liess mich in ihren Sessel fallen und schaute gebannt in den Bildschirm. Die schwarzen waren die besten. Eindeutig. Gut, dass es davon noch so viele gab.

"Ich"
Ich musste eingeschlafen sein. Draussen dämmerte es bereits. Ich musste schleunigst die Alte waschen und ihr die Zähne im Mund parken. Ich wollte aufspringen, doch da tat sich nichts. Ich öffnete den Mund, doch kein Ton kam über meine Lippen. Ich schaute zu der Alten. Sie lag in ihrem Bett, sah mich an. Sie bewegte langsam ihre Hand, zeigte mit dem Zeigefinger auf die Schachtel, die mir entglitten war. "Gift" hauchte sie, "Gift" und das letzte was ich wahrnahm, war ihr mitleidiges Lächeln.
 

RainerK

Mitglied
Hallo Claudia Rainbow,

eine schöne (naja, im literarischen Sinne :)) Geschichte erzählst du uns da; gefällt mir.
Mir sind aber ein paar Dinge "zu fett" und diese rauben mir das Vergnügen, selbst dahinter zu kommen: ob man "Sie" und "Ich" braucht lasse ich mal dahin gestellt, aber der jeweils letzte Satz im vorletzten und letzten Abschnitt sind für meine Begriffe überflüssig.

VG
RainerK
 
Hallo Claudia,
eine schöne Geschichte, die du uns da erzählst. Ein Einblick in die Abgründe der menschlichen Seele, spannnend und gelungen formuliert.
Das mit dem "Sie" und "Ich" hat mich allerdings verwirrt und vom Plot der Geschichte abgelenkt. Als mir klar wurde, wer damit gemeint ist, war es fast schon zu spät.

Liebe Grüße
Anita A-K
 
Der Tag war lang. Unendlich lang. Ich hatte nichts anderes zu tun als an die Decke zu starren, die Blumen auf dem Vorhang durchzuzählen, oder sie zu beobachten, wie sie faul herumsass, sich mit Essen vollstopfte und anschliessend zwischen ihren Zähnen herumstocherte. Ab und zu hatte ich sie auch schon beim in der Nase bohren beobachten können. Sie liess es sich gut gehen. Den Fernseher hatte sie absichtlich von mir weggedreht, so dass ich nie etwas von dem mitbekam, was sie sich da reinzog. Doch wenigstens hörte ich was da auf dem Schirm abging. Ich machte mir dazu meine eigenen Bilder. Am Anfang war mir das schwer gefallen, aber ich war immer schon mit reichlich Phantasie gesegnet gewesen. Das kam mir nun zu Gute. Es war schon verrückt. Dieser Körper war starr und unbeweglich geworden, doch mein Geist war hellwach, auch wenn das keiner bemerkte. Ich ging die Blumenmuster durch, zählte die Blütenblätter, mass die Abstände mit den Augen. Manchmal vergass ich das Zimmer um mich herum und fand mich unversehens auf einer wundervoll duftenden, blühenden Wiese wieder. Ich roch an den Blumen, schmeckte ihren betörenden Duft. Ich legte mich in sie hinein, blickte in den wolkenlosen, tiefblauen Himmel und spürte die Sonne warm auf meiner Haut.


Ich hatte die Köchin gebeten ihr noch einen Löffel extra obendrauf zu geben. Meine Patientin habe heute besonders viel Appetit, hatte ich zu ihr gesagt. Und sie war ganz stolz, dass ihr Essen bei den Alten so gut ankam. Ich setzte mich breitbeinig an den Tisch, stellte den Fernseher an und machte mich mit viel Appetit über ihr Essen her. Na, sagte ich zu ihr, schade, dass sie so gar keinen Appetit haben. Sie reagierte nicht darauf. Schade, dachte ich. Am Anfang war es wirklich lustiger. Hoffentlich liess sich die Brut bald wieder blicken. Diese Pralinen machten süchtig. Je mehr man davon ass, umso mehr gierte man nach weiteren. Ich rülpste und wischte mir den Mund ab. Bald kam meine Lieblingssendung. Danach würde ich die Beine etwas hochlegen und ein Nickerchen machen. Ich spürte ein leichtes Stechen im Magen. Was war denn da nur los, fragte ich mich. Ich wurde doch wohl nicht krank? Ich musste mich beeilen, wollte ich den Anfang der Sendung nicht verpassen. Ich packte das Tablett mit dem schmutzigem Geschirr und steuerte auf die Türe zu.


Sie ass nicht, sie schlang. Passte zu ihr. Sie war ja auch eine Schlange. Eine hinterlistige, giftige Schlange. Ich hatte schon ganz zu Anfang kein gutes Gefühl bei ihr gehabt. Sie war neu dazugekommen und sie war so übermässig freundlich, dass es mir unangenehm war. Ich traute ihr nicht. Und natürlich hatte ich bemerkt, dass sie dann, wenn sie dachte, ich würde es nicht mitkriegen, von meinen Pralinen naschte. Es erschien mir ewig her, seit ich eine davon hatte essen können. Erst hatte ich nicht verstanden, was da mit mir passiert war, aber wenn einem nur noch der Geist bleibt, kann man Dinge wahrnehmen, die einem bislang verborgen blieben. Es war schleichend gekommen. So allmählich, dass ich es erst bemerkt hatte, als es zu spät war, die Dinge unwiderruflich ihren Weg genommen hatte. Ab und zu hatte ich ein leichtes Stechen im Magen verspürt und immer mehr fühlte ich mich matt und kraftlos. Sie war in dieser Zeit noch nicht häufig bei mir gewesen. Ich wusste, dass sie sich ausschliesslich um bettlägerige Patienten kümmerte. Ab und zu wurde sie mir als Vertretung zugeteilt. Einmal hatte ich gerade mein Fotoalbum angeschaut und Pralinen gegessen, als sie nach mir schaute. Sie heuchelte Interesse, doch es ging ihr nur darum von den Pralinen zu kriegen. Mein Zusammenbruch war von einem Moment auf den nächsten gekommen. Ich wollte wie gewohnt aufstehen, doch ich schaffte es noch nicht mal mehr, meine Beine über den Bettrand zu bewegen. Mein Körper war erstarrt. Von einem Moment auf den anderen. Mein Körper erstarrt, meine Stimme verstummt. Die Ärzte waren ratlos. Meine Kinder weinten und klagten in ihrem Beisein, doch als sie mit mir alleine waren und mich nicht nur stumm sondern auch taub glaubten, zeigten sie ihr wahres Gesicht. Sie fielen einander um den Hals, sprachen über das Erbe, das auf sie wartete. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.


Die Alte dämmerte weiter vor sich hin. Ich musste ihr nun bald mal etwas zu trinken geben. Ich wollte ja schliesslich, dass sie es gut bei mir hatte. Aber erst wollte ich mir meine Sendung anschauen, trinken konnte sie danach immer noch. Ich griff nach der Schachtel, liess mich in ihren Sessel fallen und schaute gebannt in den Bildschirm. Die schwarzen waren die besten. Eindeutig. Gut, dass es davon noch so viele gab.

Ich musste eingeschlafen sein. Draussen dämmerte es bereits. Ich musste schleunigst die Alte waschen und ihr die Zähne im Mund parken. Ich wollte aufspringen, doch da tat sich nichts. Ich öffnete den Mund, doch kein Ton kam über meine Lippen. Ich schaute zu der Alten. Sie lag in ihrem Bett, sah mich an. Sie bewegte langsam ihre Hand, zeigte mit dem Zeigefinger auf die Schachtel, die mir entglitten war. "Gift" hauchte sie, "Gift" und das letzte was ich wahrnahm, war ihr mitleidiges Lächeln.
 
Hallo RainerK

Ich dachte, dass "Ich" und "Sie" nötig ist um zu verstehen, dass es zwei verschiedene Personen sind, die jeweils in der Ich-Form erzählen und war mir unsicher wieviele Details es braucht, um die Geschichte verstehen zu können :) Vielen Dank für Deine Rückmeldung!

Schöne Grüsse

Claudia
 
Hallo Anita

Vielen Dank für Deine Rückmeldung! Ich habe mich entschieden das "Ich" und "Sie" wegzulassen. "Einblick in die Abgründe der menschlichen Seele", das gefällt mir :)

Liebe Grüsse

Claudia
 



 
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