Gift für Bonzo

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E

Epiklord

Gast
Jan Mertens war zornig. Sollte er denn mit den Kakerlaken spielen, die sich hinter der Badewanne versteckt hielten? Seine Mutter konnte keine Zeit für so einen kleinen Jungen opfern, um mit ihm Sandburgen zu bauen; dafür hatte er Verständnis. Schließlich gab es für sie Wichtigeres zu tun. Und die Nachbarjungen wollten sich nicht mit ihm abgeben, weil sie älter waren als er. Auch dies akzeptierte Jan.

Aber dass seine kleine pausbäckige Nachbarin Maren Jürgens ihm keine Zeit mehr widmete, machte ihn rasend. Die beiden waren unzertrennlich gewesen, bis Maren einen Boxerrüden namens Bonzo geschenkt bekam. Seitdem drehte sich das Leben der rothaarigen, mit Sommersprossen gesegneten Maren nur noch um diesen Hund.

Vorgestern allerdings versprach sie Jan überraschend, am Montag endlich mal wieder mit ihm zu spielen. Mittlerweile war es Montag. Jan hatte sich die Stunden mit ihr herrlich ausgemalt. Doch sie sagte ab, denn sie musste für ihren Bonzo nötig Futter besorgen. „Immer dieser verflixte Köter!“ fluchte er. Sein rundes Gesicht verfärbte sich vor Wut so rot wie ein Pavianhintern. Er hatte endgültig genug. Die kurzgeschorenen blonden Borsten auf seinem Kopf sträubten sich. Das Blut kochte in seinen Adern wie das Wasser in einer Dampflok. Er flitzte ins Haus.

Seine Mutter hatte eingekauft. Allerlei Waren standen auf dem Küchentisch. Unter ihnen befand sich ein Glas, das Jan sofort auffiel. Der Deckel war mit einem Totenkopfzeichen bedruckt, dem Symbol für starkes Gift. „Genau das Richtige für Bonzo, diesen Schurken!“ grunzte er, griff sich das Glas, nahm einen Löffel von der Spüle und rannte in den Nachbargarten. Geschwind schaute er umher. Keiner war zu sehen, außer Bonzo, der vor seiner Hütte döste.

Jan füllte rasch den Inhalt des Glases in Bonzos Napf um. Seine Hände bebten vor Erregung. Der Hund stürzte sofort herbei und schleckte gierig. Schnell versenkte Jan das leere Glas im Gartenteich und eilte nach Hause zurück; schnürte ein kleines Bündel mit Unterwäsche und Brot zusammen, streifte den wetterfesten blaufarbenen Anorak über, klemmte Vaters Spazierstock unter den Arm und hastete davon, ohne dass seine Mutter etwas bemerkte.

Zunächst irrte er ziellos umher. Nach einer Weile kam er in einen Wald. Vor ihm tauchten gespenstisch die Überreste eines Lattenzaunes auf, daneben ein moosüberwuchertes Försterdenkmal. Jan hielt inne. Allmählich fasste er sich. Er legte sein Bündel auf den Boden. Deutlich spürte er die Last seiner grausamen Tat. Das schlechte Gewissen nagte an ihm, wie der Rost am Eisen. Er quälte sich mit Selbstvorwürfen.

Weinend murmelte er vor sich hin: „Sicherlich haben sie Bonzo längst tot aufgefunden, und die Polizei wird bereits nach mir fahnden.“ Er spähte unruhig umher. Da entdeckte er einen Wegweiser mit der Aufschrift: Zum alten Steinbruch. Betreten verboten. Lebensgefahr! Schon lange baute man hier kein Gestein mehr ab.

Dort wollte er sich verstecken. Keiner würde ihn jemals finden. Wie ein Besessener rannte er los. Er kroch in eine Felsspalte hinein. Dabei löste sich ein großer Steinbrocken und klemmte sein Bein ein. Jans Gesicht verzog sich vor Schmerzen. Gellende Hilferufe stieß er aus. Keiner hörte ihn. Er versuchte sich zu befreien. Aussichtslos!

Fünf Stunden verharrte er wohl so. Da sah er plötzlich ein Mädchen auf seinen Schlupfwinkel zulaufen. Er glaubte zu träumen. Sie sah aus wie Maren. Vor ihr an der Leine zerrte ein energiestrotzender Hund. Das konnte unmöglich Bonzo sein. Nein, die Schmerzen hatten ihn sicher verwirrt. Jans Erregung steigerte sich bis zum Siedepunkt. Er verlor das Bewusstsein.

Maren holte Hilfe. Man brachte Jan ins nahegelegene Krankenhaus. Sein Bein war gebrochen. Kaum war es eingegipst, da durfte er nach Hause. Irgendwann fragte ihn dann seine Mutter, wo das Glas geblieben wäre, was auf dem Küchentisch gestanden hatte. Jan schaute angstvoll drein. Keinen Ton brachte er `raus. Seine Mutter wunderte sich etwas. Sie fügte hinzu: „Ich hatte extra ein Glas Milchdrops von einer ganz neuen kleineren Sorte gekauft, die mit Schiffsflaggen-Aufklebern angeboten wurde. Und weil du so gerne einen Piraten mimst, nahm ich das Glas mit der Totenkopfflagge, dem „Jolly Roger“ darauf.

Jan war verblüfft und erleichtert zugleich. In seiner Aufregung hatte er die pillenförmigen Leckereien in dem Glas irrtümlich für Gift gehalten. Geistesgegenwärtig flunkerte er seiner Mutter vor, er müsse es im Steinbruch verloren haben. Kaum hatte er ausgeredet, da stürmten Maren und Bonzo zur Tür herein. Das Mädchen küsste und umarmte Jan. Sie freute sich, weil es ihm wieder sichtlich besser ging. Jan drückte Bonzo, seinen Retter, fest an sich und schwor in seinem Innern, nie wieder ein Leben zu gefährden.

Der Hund schaute Jan auf rührende Art bittend an. Offenbar hatte er Geschmack an den Milchdrops gefunden. Deshalb war er wohl den Spuren seines Gönners bis in den Steinbruch gefolgt.

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