Giovanni
Zirkon, das ist vielleicht das allererste Sonett, das du jemals geschrieben hast, vermute ich mal. So sieht es auch aus, sowohl technisch als auch inhaltlich. Nun, jeder fängt mal an, und da darf schon einiges schiefgehen.
Hier mal die Regeln für das Petrarca-Sonett, an dem du dich versucht hast:
Ein Sonett hat 14 Verse, eingeteilt in zwei Quartette und zwei Terzette. Diese Anforderung hast du erfüllt.
Wie du mir ganz richtig erklärt hast zu meinem Ossietzky-Sonett (es war ein Shakespeare-Sonett, das sich vom Petrarca-Sonett ihre Stropheneinteilung unterscheidet) sollen die beiden Quartette jeweils aus These und Antithese bestehen. Beim deutschen Sonett (das du geschrieben hast) hat es sich allerdings eingebürgert, diese strenge Einteilung zu verwischen und durch Wiederholung zu legitimieren. Ich bestehe also nicht unbedingt auf These und Antithese bei deinem Sonett.
Die den Quartetten folgenden beiden Terzette können auch äußerlich bereits als "Strophen" kenntlich gemacht werdem, aber auch hier haben sich Abweichungen eingebürgert, so dass beide Terzette zum Beispiel als Strophe mit 6 Versen erscheinen können. Du hast die konservative Einteilung in zwei Strophen gewählt, dazu ist nichts zu sagen. Allerdings enthalten deine beiden Terzette nach meiner Ansicht keinerlei Synthese, die aus These und Antithese erwachsen sollte. Diese Anforderung ans Sonett hast du nicht erfüllt.
Zu den Versen:
Jeder Vers sollte fünf Hebungen besitzen, und zwar möglichst im Wechsel von männlichen und weiblichen Reimen oder gänzlich nur weibliche Reimen, was das Melodische des Sonetts unterstreicht. Du hast durchgehend den männlichen Reim gewählt. Kann man machen, aber dann entfällt das Melodische des weiblichen Reims und damit dem gesamten Sonett, was es "hart" macht. Du weißt sicher, dass das Italienische eine sehr melodische Sprache ist, und wenn man ein Sonett schreibt, sollte man versuchen, sich dem Sprachgestus des Italienischen ein wenig anzunähern. Die vorgeschriebenen 5 Hebungen hast du nicht in allen Versen eingehalten, und zwar im Quartett 1, Vers 4, im Quartett 2, Vers 3 und 4, und Terzett 2, Vers 1, wo du jeweils 6 Hebungen eingesetzt hast. Ein Grund dafür ist mir nicht ersichtlich und wird auch vom Sonett selbst nicht akzeptiert.
Wichtig auch, und darauf wird zur Zeit im deutschen Sonett noch Wert gelegt: Die Reimendungen der beiden Quartette müssen gegenseitiges Spiegelbild sein. Wenn du also im ersten Quartett eine Reimendung auf -art und -ein benutzt, muss sich diese Reimendung im zweiten Quartett wiederholen. Diese Regel hast du ebenfalls nicht beachtet.
Und nun zum Inhalt:
Grundsätzlich ist es jedem Autor überlassen, welches Thema und welche Aussage er seinem Gedicht gibt, wobei er die ungeschriebene Regel der Beachtung humanistischer Gedanken einhalten sollte, denn die Lyrik wird sonst für inhumane Äußerungen unter der Hand missbraucht. Und diese Regel gilt für die gesamte Literatur.
Dein Gedicht kritisiert vordergründig die gegenwärtigen Zustände in den Kindergärten, wo oftmals sogenannte Aushilfskräfte die diplomierte Kindergärtnerin ersetzen müssen. Einer der Gründe dafür dürfte die unverhältnismäßig schlechte Bezahlung dieses "unproduktiven", d. h. keine Rendite bringenden Berufs sein. Aber nicht nur. Selbst an Aushilfskräften mangelt es in den westdeutschen Kindergärten "fürs Volk". Die "Eliten" wissen, was von der vorschulischen Erziehung ihrer Kinder abhängt, und sorgen für gutbezahlte und ausgebildete Kindergärtnerinnen. Du beschreibst also einen Kindergarten "fürs Volk". Es ist verständlich, wie du es auch beschreibst, dass dieser Kindergarten dem kleinen Giovanni nicht gefallen kann. Seine Abneigung beschreibst du durchgehend durch das ganze Sonett, ohne Differenzierung oder gar Begründung für diese Zustände.
Ich habe aber mit der Aussage des Sonetts noch ein anderes Problem: Das Gedicht kann benutzt werden, und zwar von den Gegnern berufstätiger Mütter. Dir ist deren reaktionäre Argumentation sicher bekannt, die jahrzehntelang die Linie der bundesdeutschen Frauenpolitik war. Du umschiffst diese Klippe aber nicht in den Terzetten, der Synthese, sondern sagst in deinem Sonett lediglich aus: "Seht her, diese Zustände herrschen in Kindergärten!" Und das ist das Reaktionäre an deinem Gedicht, auch wenn du es nicht bemerkt haben solltest. Es passiert manch einem Lyriker öfter, dass er gar nicht bemerkt, was er da eigentlich geschrieben hat, und du bist in diesem Sonett in die aufgestellte Falle gegangen - bewusst oder unbewusst.
Ich könnte dir jetzt vieles über Kindergärten in der DDR schreiben, dass es in den Kindergärten einen Bildungsauftrag gab, nicht nur einen Aufbewahrungsauftrag, dass der Kindergärtnerinnen-Beruf ein Studium voraussetzte und eine enge Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Elternhaus voraussetzte. Das hat wenig Sinn, wie ich annehme, weshalb ich auf diesen Punkt nicht weiter eingehen will.
blackout