Girl Scout

Ich saß auf dem nackten Erdboden, die Beine weit voneinander gestreckt. Mein Rücken lehnte gegen einen grob zugehauenen Stamm, der in den Boden eingegraben war. Die Arme hatte man mir nach hinten gezogen und an den Handgelenken gefesselt, gerade so, dass es nicht weh tat. Und wenn ich zum Sternenhimmel emporblickte, konnte ich sie als dunklen Schatten an der Spitze des Mastes erkennen: die Flagge der Michigan Eagle Scouts.

Deswegen war ich hier. Und deswegen saß ich auch in der sprichwörtlichen Patsche. Meine Eltern würden beide im Einklang den Kopf schütteln, wenn sie mich jetzt sehen könnten. Mit sechzehn Jahren hätte man schon etwas Klugheit von mir erwarten können. Ich sollte eigentlich nachts brav in meinem zugeteilten Zelt der Neustädter Pfadfinder liegen und nicht auf die wahnwitzige Idee kommen, um Mitternacht auf Expedition zu gehen, um die gegnerische Flagge zu erbeuten. Aber ich war so dumm, ich wollte die Ehre der Pfadfinder-Gruppe im Alleingang wiederherstellen. Und ich wollte vor allem eines: Sie wiedersehen.

*

Der ganze Ausflug ins Zeltlager hatte eigentlich gar nicht so schlecht angefangen. Wir lagerten diesjährig in den Schweizer Alpen, in Kandersteg. Die Lagerleitung hatte am Fuß des Doldenhorns eine Lichtung für uns reserviert. Ein idyllischer Platz, umrahmt von Tannen und einem fröhlich rauschenden Gebirgsbach. Nachdem die Zelte verteilt waren und Mädchen und Jungen sich an den Aufbau machten, konnte ich endlich mein Können beim Anlegen des Fahnenplatzes beweisen. Ich war Anführer einer kleinen Gruppe von Wölflingen und durfte mit ihnen eine Tanne schlagen und zurichten. Kein einfaches Werk, wenn man die Augen überall haben musste und die Kleinen ständig dabei waren, sich selbst in die Finger zu schneiden.

Am Abend versammelten wir uns zum Anbrennen an unserem Lagerfeuer und blickten stolz hoch zur Flagge mit dem braunen Bären im Emblem. Da war ich noch überzeugt, dass es eine wunderbar geruhsame Woche werden würde. An den letzten Tagen des Zeltlagers ereignete sich jedoch etwas, das uns und insbesondere mir noch lange in Erinnerung bleiben sollte.

Hinter dem kleinen Fluss lag einen kurzen Fußmarsch entfernt noch eine Wiese. Und auf der bemerkten wir am Morgen des vorletzten Tages reges Treiben. Es war eine fremde Pfadfinder-Gruppe, und nachdem unsere Führer auf Kundschaft gegangen waren, machte es schnell die Runde, dass wir es mit den glorreichen Michigan Eagle Scouts, einer amerikanischen Boy Scout-Truppe, zu tun hatten.
Fremde Pfadfinder! Auf unserer Wiese! Das bedeutete Krieg. So sahen es jedenfalls die meisten mit leuchtenden Augen. Ich war eher vorsichtig, denn ich hatte schon gehört, dass Pfadfinder aus Übersee nicht gerade zimperlich mit Angreifern umgingen. Die gegenseitige Begrüßung verlief dann aber doch recht freundlich, und die Neuankömmlinge wurden feierlich zu einem Lagerfeuersingen auf unserem Fahnenplatz eingeladen.

Als die Dunkelheit herein brach, erschien dann auch eine fünfköpfige Truppe der Amerikaner in unserem Lager. Sie waren alle schon Sechzehn oder älter, hatten aber auch einen ganz jungen Scout mitgebracht. Ich war etwas irritiert, weil es unüblich war, den Kleinen zu erlauben, zu einem fremden Lager zu gehen.
An diesem Abend hatte ich Feuerwache und war also auch für unsere Gäste verantwortlich. Sie waren überaus offen und machten eigentlich durchweg Scherze, die ich aber kaum verstand. Ich versuchte mit meinem Schulenglisch leidlich gegenzuhalten. Dabei bemerkte ich, dass der junge Pfadfinder immer wieder fragende Blicke zu seinen älteren Kameraden sandte.
Als ich mich für ein drängendes Bedürfnis in die Büsche schlagen musste, wurde mir durch aufkommendes Geschrei schnell bewusst, dass die Heimlichkeit einen Grund gehabt hatte. Der kleine Scout war in meiner Abwesenheit am Fahnenmast empor geklettert, während seine älteren Freunde unten am Boden unsere Truppe in Schach gehalten hatten.
Als ich –im Laufen die Hose zuknöpfend- wieder am Fahnenplatz erschien, waren die Boy Scouts in der Dunkelheit verschwunden und unsere Flagge mit ihnen.
„Er war so schnell wie ein Eichhörnchen! Die hatten das alles geplant, die Schweine!“, hörte ich aufgeregte Stimmen. „Wir müssen ihnen sofort nach und sie massakrieren!“, schrie ein Elfjähriger und hielt sein kleines Taschenmesser in die Höhe. In Sekundenschnelle war das ganze Lager wach.

„Wer hatte Aufsicht?“

Betretene Stille.

„Georg?“

Ich trat mit hängenden Schultern vor und nickte.

„Morgen Feuerholz sammeln, alleine!“

Das war noch eine milde Strafe. Ich konnte mich nicht beschweren. Es wurde absolute Zeltruhe verordnet. Nur ich lag wach in meinem Schlafsack und konnte vor Demütigung nicht schlafen.

Am nächsten Morgen machte ich mich daran, meine Strafe möglichst schnell abzuarbeiten. Da die Tannen kein anständiges Brennholz abgaben, musste ich am Rand des Gebirgsbaches nach abgebrochenen Laubästen suchen. Zum Wasser hin fiel eine Böschung steil ab, an der brauchbare Äste angeschwemmt worden waren. Da ich meine Bergstiefel angezogen hatte, traute ich mich, den moosigen Hang durch stacheliges Gesträuch hinab zu klettern. Ich hatte aber meine starke Übermüdung nicht miteinberechnet. Kurz bevor ich einen besonders großen Ast heranziehen konnte, gab der Boden unter mir nach und ich ruderte mit den Armen in der Luft.

Wie aus dem Nichts packte mich eine schlanke Hand. Mit einem Ruck, der auf beeindruckende Körperkraft schließen ließ, wurde ich hoch gerissen und kam wieder auf die Beine.

„Keep calm, I’m a girl scout.”

Neben mir stand, die Beine breit in die Erde gestemmt, ein Mädchen, etwas älter als ich. Sie hatte wildes braunes Haar, das zu einem einfachen Zopf gebunden war und trug die amerikanische Pfadfinder-Uniform.

„Are you OK? I already saw you slipping into the stream.“

Ich nickte nur kurz und versuchte auf dem glitschigen Hang nicht noch einmal vor ihr auszurutschen.

„I…I want to find wood, I see there something“, stotterte ich zusammen.

“They sent you out for firewood? Alright, I’ll second you.”

Sie bückte sich zu dem Ast, den ich im Auge gehabt hatte und blickte mich, der ich immer noch regungslos neben ihr stand, auffordernd an: „Gimme a hand!“ Zusammen schafften wir es mit dem Holz wieder nach oben.

„I’m Colleen, senior girl scout“, stellte sie sich vor und es klang Stolz in ihrer Stimme.

“My name is Georg, I’m from the german Pfadfinder here.“ Ich biss mir auf die Zunge. Colleen musste mich für einen Vollidioten halten.

„Pf-ar-d-finn-dar. That means pathfinder, doesn’t it? I like the word. Much more epic than scout.” Sie setzte sich an der Böschungskante ins Gras und ließ ihre Beine baumeln. Als ich nicht reagierte, klopfte sie bezeichnend neben sich auf den Boden.
„Why don’t we have a break? Your troopers never going to know.“ Ihr Lächeln war unwiderstehlich. Ich versuchte ihrem Blick auszuweichen und ließ mich möglichst ruppig neben sie fallen.

„You are enemies for us now! You stole our flag!“ Es sollte möglichst männlich und schroff klingen.

„That’s a boy thing. Not my business!”, wehrte sie ab.

Sie brach einen Zweig und fing an, ihn zu schälen. „I saw girls within your troop. Are they equal scouts?” Colleen schaute mir wieder direkt in die Augen. In dem gesprenkelten Grün lag Sehnsucht und Bitterkeit zugleich. Ich erklärte ihr umständlich, dass bei deutschen Pfadfindern keine Unterscheidung zwischen Jungen und Mädchen gemacht wurde. Sie seufzte nur.
„Girls are not allowed in the Eagle Scouts”, sagte sie und schaute auf das glitzernde Wasser. Als ich mich räusperte, fügte sie schnell hinzu: „Except only me. I fought for life to get in, but I’m only tolerated.”

Bis zur Mittagszeit half Colleen mir, genug Holz zu sammeln. Sie band es mit einem dünnen Seil zu großen Bündeln, so dass wir es hinter uns herziehen konnten. Dabei erzählten wir uns gegenseitig alles über unser Zeltlager. Colleen wollte besonders wissen, was die Mädchen machen durften. Aber sie fragte mich auch über mein Leben in Deutschland. Immer wenn die Fragen mir zu privat wurden, drang sie nicht weiter und wechselte das Thema oder erzählte mir etwas von sich. So hatten wir uns bei der Ankunft im meinem Zeltlager ziemlich gut kennengelernt.

Am Fahnenplatz erwartete uns eine Überraschung. Die vier Boy Scouts von letzter Nacht standen mit verschränkten Armen unseren Leitern gegenüber und schienen zu verhandeln. Als Colleen und ich dazu stießen, ernteten wir von beiden Gruppen böse Blicke.
„Das haben wir also deiner Schläfrigkeit zu verdanken, Georg“, begrüßte mich unser Anführer. „Vier Kästen Cola als Lösegeld für die Flagge, das ist alles, was wir zur Abschlussfeier noch hatten!“
„What the hell are you doing here, senior?“, schallte es Colleen entgegen.
Es wurde noch etwas hin und her gestritten, aber letztlich zogen die vier Amerikaner mit Colleen und unserer gesamten Limonade ab. Und mir schaute im Lager keiner mehr in die Augen.

Die Flagge brachte uns am späten Nachmittag das Eichhörnchen. Der kleine Steppke konnte kaum laufen vor Stolz. Bevor er sich wieder aus dem Staub machte, lief er gezielt zu mir und drückte mir etwas in die Hand. Es war ein gefalteter Zettel, den ich intuitiv schnell in meiner Tasche verschwinden ließ. Abends allein in meinem Zelt- ich hatte keine Lust, mit den anderen am Feuer zu sitzen- holte ich ihn wieder hervor, faltete ihn auf und hielt meine Taschenlampe darauf.

Dear George,

heard you are in trouble deep,
meet me at dead of night
in our camp

Col


Mein Herz klopfte wild. Plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich würde alles wieder gut machen. Ich musste nur die Flagge der Eagle Scouts in meine Hände bringen, und zwar diese Nacht. Der Gedanke fühlte sich gut an. Und danach würde ich Colleen wiedersehen. Das fühlte sich irgendwie komisch an im Bauch.

Fieberhaft packte ich die nächsten Stunden alles ein, was ich für meine Expedition für nötig hielt. Mein gutes Messer und mein Nachtsicht-Fernglas, etwas Proviant und etliche Kleinigkeiten. Vor allem zog ich dunkle Kleidung an.
Als alle in meinem Zelt schliefen, wartete ich noch eine gefühlte Ewigkeit, bis die Leuchtzeiger meiner Armbanduhr auf Mitternacht sprangen. Dann kroch ich los.

Trotz des sternenklaren Himmels war es im Gras so dunkel, dass ich die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Das Zirpen der Grillen stach dafür um so lauter in meinen Ohren. Ich wusste die ungefähre Richtung und konnte auch bald das Rauschen unseres Baches hören. Der Mond reflektierte sich flimmernd im Wasser und so schaffte ich es, kletternd und über Findlinge balancierend, heil ans andere Ufer.

Auf der anderen Seite sah ich einen Feuerschein durch die Büsche leuchten. Jetzt war mir gar nicht mehr so wohl zumute. Je näher ich mich schlich, desto unsinniger kam mir die Durchführung meines Planes vor.
Als ich ungefähr zehn Meter an die Zelte herangekommen war, stockte ich: Das Feuer brannte hoch, aber der Fahnenplatz war leer. Ich musste in meinem unglaublichen Glück einen Moment der Wachablösung erwischt haben. Voll Euphorie schob ich mich schneller an den ersten Zelten vorbei. Da sah ich die Flagge, sie war sogar über ein kleines Seil geführt. Ich lachte innerlich laut auf, musste ich ja jetzt noch nicht einmal klettern.
Ich erhob mich vorsichtig- und wurde im gleichen Moment von etwas unheimlich Schwerem wieder zu Boden geworfen.

„Got the rat, I’ve got him!”, hörte ich es zischend über mir. „Take care that it doesn’t scream! There might be others around!”, flüsterte es zu meiner Seite.
Mein Mund wurde zugedrückt und ich spürte ein weiteres Gewicht auf meinen Beinen. Ich war gelähmt vor Angst. Zwei Gestalten rissen mir die Arme nach hinten und zogen mich wieder hoch. Ich sah, wie sich der Fahnenplatz mit vielen jubelnden Scouts füllte, die anscheinend im Schatten auf mich gewartet hatten. Gotcha!

*

Da saß ich also nun. Ich sollte die ganze Nacht so verbringen, hatte man mit süffisantem Grinsen mitgeteilt. Mir gegenüber als Bewachung saß – natürlich- das Eichhörnchen. Der kleine Kerl beobachtete mit vollem Eifer jede meiner Bewegungen und beantwortete sie mit bösen Blicken.
Mein Lösegeld würde die Restvorräte unserer Süßigkeiten aufbrauchen, da war ich mir sicher. Wenn mich überhaupt jemand am nächsten Morgen auslösen würde. Vielleicht würden sie auch einfach ohne mich abreisen. Während sich meine Gedanken immer mehr verfinsterten, hörte ich Schritte und jemand trat neben meine junge Wache in den Feuerschein.

„Get yourself a dry place, cup. I’ll take over!”

Ihre Stimme erkannte ich sofort. Der kleine Scout verschwand murrend in der Dunkelheit und Colleen setzte sich mit versteinerter Miene mir gegenüber.

„So, that’s how we meet again.” Ihr Blick war kalt und ihre smaragdfarbenen Augen blitzten im Schein des Feuers. „You’ve come to steal our flag…“

“And you? You wrote me a letter!”

“Yeah.”

“To come to you!”

“Yep.”

“You fooled me!”

“I wanted to be sure you’re coming.” Sie lächelte plötzlich über das ganze Gesicht. „I missed you“, fügte sie leiser hinzu. Sie schaute sich kurz nach allen Seiten um und kroch dann näher zu mir. „Listen. It was obvious for us that you boys would try to steal our flag tonight. I wanted you to come. That’s why I wrote the letter. It was rude, I know.” Sie vergrub ihr Gesicht hinter ihren Knien. Nur noch ihre Augen funkelten zu mir herüber.

„So here I am. Is it that what you wanted?“, warf ich ihr entgegen.

“Not really.” Sie zauberte wieder ihr unwiderstehliches Lächeln und meine Wut schien sich in Luft aufzulösen.
„I didn’t thought that they bind you. I hoped they only catch you and let it be with that.” Sie lauschte nochmals in die Dunkelheit und huschte dann hinter mich. „Sshhh! Sit still. We have half an hour‘til changing of the guards.” Ich spürte wie sie an meinen Fesseln hantierte. “Follow me. Slow move and silence!”
Ich hörte ein schnippendes Geräusch hinter mir und plötzlich war ich frei. Colleen führte mich an der Hand zu einem Zelt, das etwas abseits lag und zog mich schnell hinein.

Drinnen war es stockdunkel und mich beschlich wieder dieses komische Gefühl im Bauch, als ich Colleen neben mir atmen hörte. Ein gedämpftes Licht ging an und sie saß vor mir, die Beine untergeschlagen, auf einem Schlafsack. „Make yourself comfortable, no one will dare to look in my tent.“ Sie klopfte wieder vor sich auf den Zeltboden.
“You have it beautiful here.” Ich versuchte von meiner Verlegenheit abzulenken. Sie schien mich zu durchschauen und wendete sich zu ihrem Rucksack. „We have to make a plan…“, sie wühlte tief nach etwas Bestimmten, „…to get you out.” Ihre Augen weiteten sich. “There!” Sie hielt mir grinsend ein kleines Täschchen entgegen. „I rarely use it, but in this case…“, sie zog den kleinen Reißverschluss auf, „…it becomes very handy!“

Ich schaute auf verschiedene Schminkutensilien und zog die Augenbrauen hoch. Colleen strahlte.

„Got it?“

“I don’t know nothing.”

“This night, I have a date with Juliette, a german girl scout.”

“Where is she?”

“In my cosy tent.”

Sie schien sich königlich zu amüsieren. Ich blickte mich im Zelt um und dann wieder auf ihr Schminktäschchen. Endlich ging mir ein Licht auf.

„Never!“

„Well, we have to pass the outpost.“

“I will sneak through.”

“You will end up at the flagpole. And I won’t beat you out once more.”

Sie lächelte mir Mut zu. Aber tief in ihren Augen sah ich auch noch ein warmes Glühen. Colleen rückte ganz nah zu mir, holte einen braunen Stift hervor und begann meine Augenbrauen zu bemalen. Sie roch zart nach Vanille und Pfirsich. Ich musste meine Augen schließen, und sie pinselte vorsichtig etwas auf meine Lider. Dann drehte sie einen dicken Stift auf, der eine kleine schwarze Bürste im Deckel hatte. Ich zuckte zurück, als sie damit an meine Wimpern ging. „Keep calm, I‘m a Girl Scout“, sagte sie kichernd. Zum Schluss holte sie noch einen dunkelroten Lippenstift heraus und trug ihn mehrmals auf meinen Mund auf. „That will do the trick. It’s dark and they will get just a glimpse of you.”
Sie griff hinter sich und holte unter einer Decke ihren Pfadfinder-Hut hervor. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zog sie ihn mir tief ins Gesicht.

„Such a pretty girl“, neckte sie mich. „There’s only one thing left.“

“What?”

“It must be dark for this.”

Ohne abzuwarten, angelte sie nach der Lampe. Ich saß wieder in kompletter Dunkelheit und hörte sie atmen. Ein zarter Pfirsichduft, ganz nah. Ihre Hand legte sich auf meine Wange und dann spürte ich weiche Lippen auf meinem Mund.

„Too much lipgloss would be traitorous“, flüsterte sie.

Dann wurde ich von ihr nach oben gezogen und wir traten aus dem Zelt in die kühle Nachtluft.
Untergehakt zog sie mich mit sich. Sie plapperte dabei ohne Unterlass auf mich ein. Wir kamen an einem Boy Scout vorbei, in dem ich einen meiner beiden Fänger wiederzuerkennen glaubte.

„Hi Kenneth, I just escort Juliette back to her camp.“ Sie sagte es so selbstbewusst, dass wir schon an dem stämmigen Jungen vorbei waren, bevor er irgendetwas sagen konnte.

Auf dem Rückweg ließ Colleen meine Hand nicht mehr los. Wir sprachen kein Wort. Sie half mir, im eiskalten Wasser des Baches meine Schminke abzuwaschen. Dann näherten wir uns langsam meinem Lager. Als ich meine Kameraden um unser Feuer sehen konnte, hielt sie inne und schaute mir mit festem Blick in die Augen.

„I will leave you now. They shouldn’t see you brought by a girl.”
Ich brachte kein Wort heraus und nickte nur. „Take care of you and always be prepared.” Sie hob die Hand zum Pfadfinder-Gruß und lächelte. Ich räusperte mich.

„I will leave tomorrow. Our camp holiday is over.“

„I know.“

„I will miss you, Colleen.“

Ihre Augen schienen in der Dunkelheit zu leuchten. „I have a present for you. I will send the package to you by a boy scout, tomorrow before you leave.” Ihre Hand strich nochmals über meinen Arm, dann wandte sie sich ab und rannte in die Dunkelheit davon.

*

Diese Geschichte ist jetzt viele Jahre her. Aber ich erinnere mich noch an jedes Detail. An ihren Geruch, ihr Lächeln und an ihren festen Händedruck. Manchmal setze ich mich in meinen alten Sessel, lege die Beine hoch und schaue an die Wand über meinem Kamin. Da hängt sie nämlich.

Die Flagge der Michigan Eagle Scouts.


Erläuterungen zur Geschichte:

Keep calm, I\'m a Girl Scout!
ist ein weit verbreiteter Slogan der amerikanischen Girl Scouts.

Cup
ist ein ganz junger Boy Scout, vergleichbar mit einem Wölfling bei den deutschen Pfadfindern.

Juliette
steht als Synonym für befreundete Nichtmitglieder bei den Girl Scouts.

Be prepared!
ist das Motto der amerikanischen Scouts.
 



 
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