Gleis 10

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anbas

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Gleis 10

"Kein Bahnsteig für Gleis 10 !"
Viktor schüttelte verständnislos den Kopf.
"Im Hamburger Hauptbahnhof gibt es keinen Bahnsteig für Gleis 10 !"
Viktor war müde. Er war so müde, wie er es schon seit Jahren Tag für Tag war. Seine Gedanken kreisten. Langsam, sehr langsam kreisten sie nur um dieses eine Thema: 'Kein Bahnsteig für Gleis 10 !'

Er war erst vor ein paar Tagen nach Hamburg gekommen. Doch obwohl er sich seit dem fast täglich im Bahnhof und seinem Umfeld aufgehalten hatte, war ihm die Sache mit Gleis 10 bisher noch gar nicht aufgefallen. Wahrscheinlich hätte er es auch in den folgenden Tagen und Wochen nicht bemerkt, wenn da nicht die Sache mit den drei jungen Männern gewesen wäre.
"Der Kiosk an Gleis 10 hat noch offen", hatte ihm einer von den Dreien gesagt, nachdem er sie gefragt hatte, wo er denn hier noch ein paar Dosen Bier bekommen könne.
Mehrmals war er danach den Südsteg auf und ab gegangen, bis ihm endlich klar geworden war, dass sich die drei einen Spaß mit ihm erlaubt hatten. Es gab keinen richtigen Bahnsteig für Gleis 10, sondern lediglich eine Art Zugang, der ausschließlich für das Bahnpersonal gedacht war. Weder vom Nord- noch vom Südsteg aus war dieser zu erreichen. Und einen Kiosk gab es natürlich erst recht nicht.
Inzwischen war es kurz vor Mitternacht und Viktor stand auf dem Südsteg direkt über dem Gleis 10. Er stand dort auf das Geländer gestützt und starrte einfach nur hinunter. In seinem alten verdreckten Rucksack hatte er doch noch eine Dose Bier gefunden. Seine letzte Dose. Er hatte noch keine Idee, woher er seinen Vorrat für die Nacht und den nächsten Morgen bekommen sollte. Beim Kiosk an Gleis 10 sicherlich nicht.
"Ein Gleis für die Durchreise."
Dieser Gedanke gefiel Viktor. Auch er war auf der Durchreise. Er war sein Leben lang immer auf irgendeiner Durchreise gewesen. An viele Stationen davon konnte er sich schon längst nicht mehr erinnern. Zu viel war passiert und noch mehr gab es, dass er vergessen wollte. Seine Erinnerungen dämmerten irgendwo hinter einem diffusen Nebel aus langsamen, trägen Gedanken vor sich her. Nur manchmal tauchten plötzlich in seinem Kopf ein paar Bilder oder Worte auf, die aus einer anderen, längst vergangenen Zeit stammten. Erinnerungsfetzen, die dann genau so schnell wie sie gekommen waren wieder in diesem dichten Nebel seines müden Kopfes verschwanden. Selbst an die aufregende Zeit, als er gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Kindern nach Deutschland gekommen war, konnte er sich nur noch bruchstückhaft erinnern. Und nur noch schemenhaft fielen ihm seine Versuche ein, der Familie zuliebe endlich ruhiger und sesshaft zu werden.
Doch Viktor blieb auf der Durchreise, und seine Familie blieb letztendlich auch nur eine Zwischenstation in seinem Leben - genauso wie die windgeschützte Ecke des Abbruchhauses, die ihm als Schlafplatz diente, nur eine weitere Zwischenstation sein würde. Irgendwann würde er wieder seine Sachen zusammenpacken und weiterziehen. Eine andere Stadt, ein anderer Schlafplatz, ein anderer Bahnhof.
Immer noch schaute er gedankenverloren auf das Gleis 10 hinunter und nippte an seinem Bier. Während auf den anderen Gleisen noch hin und wieder ein paar Züge ein- und ausfuhren, lag Gleis 10 wie ausgestorben unter ihm. Auch auf Gleis 9 - ebenfalls ohne Bahnsteig - war noch kein Zug durchgefahren seit er dort oben stand. Wahrscheinlich handelte es sich um zwei Rangiergleise.
"Rangieren, ausrangieren, hin- und herschieben, herumgestoßen werden ....." - Viktors Gedanken wurden immer schwerer. Irgendwann in seinem früheren Leben hatte er wohl öfters solche tiefen Gedankengänge gehabt. Doch die Erinnerungen an diese Zeit schob er meistens schnell wieder beiseite. Für sie war ein Gleis 10 genau das Richtige - bloß nicht anhalten, bloß nicht aussteigen.
Er nahm noch einen kräftigen Schluck, stellte dann die Dose auf den Boden zwischen seine Füße, um sich langsam eine Zigarette zu drehen.
Es war eigentlich ein guter Tag gewesen. Gleich am Morgen hatte ihm jemand ein halbes Päckchen Tabak geschenkt. Außerdem hatte er auf dem Wochenmarkt in der Nähe seines Schlafplatzes beim Auf- und Abbauen helfen können und sich so ein paar Euro dazuverdient. Doch was half ihm das Geld, wenn er jetzt nirgendwo mehr ein paar Dosen Bier bekommen konnte.
Es wurde langsam Zeit für ihn, sich auf den Weg zu seinem Schlafplatz zu machen. In wenigen Minuten würde die letzte S-Bahn fahren. Vielleicht gab's ja unterwegs noch einen Kiosk oder eine Tankstelle, an der er etwas zu Trinken bekommen konnte. So gut kannte er sich in Hamburg noch nicht aus.
Viktor nahm sein Bier in die eine und die Zigarette in die andere Hand und schlurfte langsam hinunter zum Bahnsteig. Das Risiko, jetzt noch in eine Kontrolle zu geraten, war gering. Also verzichtete er darauf, sich eine Fahrtkarte zu kaufen. Bisher hatte er fast immer den richtigen Riecher gehabt, nur sehr selten war er in seinem Leben beim Schwarzfahren erwischt worden.

"Na, Alter! Hast du dein Bier noch bekommen?"
Viktor drehte sich langsam um. Hinter ihm standen feixend die drei jungen Männer, die ihn kurz zuvor zu dem nicht vorhandenen Kiosk an Gleis 10 geschickt hatten. Einen Moment lang schaute er musternd von einem zum andern. Dann deutete er mit einer flüchtigen Kopfbewegung auf seine Dose Bier hin.
"Ja, vielen Dank! Hat gerade noch geklappt!" sagte er nach einer kleinen Pause, und der Hauch eines leicht spöttischen Lächelns huschte über sein müdes Gesicht.
 

anbas

Mitglied
Danke für Deine Rückmeldung. Schön, dass Dir die Geschichte gefällt. Allerdings sehe ich das mysteriöse nicht.
Gruß Andreas
 

Gorgonski

Mitglied
Hallo Anbas

Ich finde die Geschichte gut gelungen, den Lebensweg des Prot mit dem eines unbefahrenen Gleises (10) festzumachen, an dem nicht einmal ein Bierkiosk steht. Dennoch hat der Prot seine Genugtuung, als er die überheblich- arroganten Jungen am Ende verscheißert.

MfG; Rocco
 
B

Burana

Gast
Hallo anbas!
Ich schließe mich den Worten meines Vorredners an... Wo Wolfsilbertal was Mysteriöses entdeckt hat weiß ich auch nicht. Sprich, Wolfsilbertal! Vielleicht hab ich da was übersehen?
Liebe Grüße! Burana
 

aboreas

Mitglied
Na ja, das Mysteriöse wird das nicht vorhandene Gleis 10 sein. Wäre ja wirklich mysteriös: ein Weltbahnhof ohne Gleis 10, zumal die Gleise darüber hinaus gehen. Würde mich mal interessieren, ob es in Hamburg wirklich kein Gleis 10 gibt. Sollte man als Hamburger eigentlich wissen. -;

Gute Geschichte, gut geschrieben, ich sage nichts Neues, wenn ich behaupte, dass sie in ihrem sozialen Ausschnitt sehr lebensnah ist.

Gruß. abo
 
B

Burana

Gast
Hab ich mich jetzt verlesen oder hat anbas was geändert? Ich dachte, Gleis 10 gibts, aber keinen Bahnsteig. Oder so.
Also nochmal die Frage nach dem Mysteriösen ;)
Liebe Grüße! Burana
 

anbas

Mitglied
Hallo abo!

Danke für Deine Kommentierung. Besonders über das 'sehr lebensnah' freue ich mich.
Es geht tatsächlich um den Bahnsteig, nicht um das Gleis. Der Hamburger Hauptbahnhof hat zwar die Gleise 9 und 10, aber keine dazu gehörenden Bahnsteige.
Die Geschichte entstand im Rahmen des (bisher) jährlich stattfindenden Schreibwettbewerbs des Hamburger Straßenmagazins Hinz&Kunzt. Das Motto lautete 'Gleis 10'. Da mir zu dieser Vorgabe nichts einfiel, habe ich mir Gleis 10 einmal näher angesehen, in der Hoffnung, dass ich so eine Idee finde. Ja und genau das passierte dann auch, als ich feststellte, dass das Gleis 10 keinen Bahnsteig hat (Die Macher der Zeitung wussten das übrigens auch nicht. Sie hatten die '10' gewählt, da es der Wettbewerb war, der im Jahr des zehnjährigen Jubiläums der Zeitung stattfand).
Gruß Andreas
 



 
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