GÖTTLICHE KOMÖDIE
Eine Skizze aus den späten Siebzigern
in einem Grenzdorf des Ostens.
Das Fünfuhrläuten der Glocken, übertönt von den Geräuschen der Sechszylindermaschine des Arbeiterbusses, verflüchtigt sich durch die bewölkte Pforte.
[ 7]Im November beginnt die Dämmerung zeitig, die bleiernen Töne haben im Halbdunkel eine leichte Flucht. Die grünen Fensterläden mit den Herzen bleiben geschlossen, unter der Schieferkuppel mit der verrosteten Wetterfahne. Das Läutwerk geht seit Monaten auf elektrischen Geheiß: jüngste technische Errungenschaft einer 1200 Seelen zählenden Gemeinde. Daß mit dem winterlichen Fünfuhrgesang nicht mehr die Bauern von den Feldern gerufen werden, sondern die Busse aus der Kreisstadt - diese Errungenschaft ist älter, gewiß.
[ 7]Und wer ist schon technischen Neuerungen gegenüber voreingenommen; es gibt beinahe 60 Autos im Ort, 80 von 100 Haushalten haben einen Fernsehapparat (die Tendenz zum Buntfernseher ist offensichtlich), einen Kühlschrank besitzt wohl jede Familie.
[ 7]Man arbeitet in der Stadt; im Bus, heimwärts, schläft man. Offensichtlich. Bunte Falten auf bunten Stirnen in bunten Gesichtern, zu bunten Körpern gehörend, eingeschlafen in bunten Sitzen.
[ 7]Einer der letzten, als man aussteigt, hebt sich ein wenig ab aus der allgemeinen Färbung: schwarze Augen im weißen Gesicht, mit schwarzem Bart und schlohweißen hüftlangen Haaren, marschieren, auf einen zerlumpten Rock und geflickte Hosen gepfropft (der sieht aus wie Rumpelstilzchen, sagen die Leute), unter einer Kapuze hinein in das Dunkel hinter der Kirchenmauer. Man kann da kaum erkennen, ob es der Schritt ist, der die Pflastersteine federn macht, oder ob es die Pflastersteine sind, die die Kniegelenke Rumpelstilzchens zum elastischen Einknicken veranlassen. Er geht ein paar Schritte, das Federn wird kräftiger, raumgreifend, er wirft die lederne Aktentasche in das Knallerbsengesträuch vor dem Holzportal, beginnt mit den Armen symmetrisch in der kalten Luft herumzuschlagen, die Bewegungen aller Glieder werden auf ungeahnte Weise in Gleichklang versetzt, er spreizt die Finger, da lösen sich die Füße vom Boden, der Oberkörper nimmt eine deutliche Vorderlage ein, er schlägt jetzt heftig mit den Armen, sein Mantel flattert gleich einem seidenen Flor von seinen Schultern, verändert sich zum Dreizack und spannt sich schließlich als Drachenhaut quer über die Straße, zwischen zwei Telegrafenmasten.
[ 7]Mühelos gleitet Jagger - so nennt ihn seine Frau, seine paar Freunde haben ihm den Namen in den Sechzigern vermacht -; mühelos also gleitet Jagger, wie ein Albatros vielleicht, ohne die geringste Bewegung nun, mit vorgestrecktem Schwanenhals durch die Straßen, einige Meter, vielleicht drei oder vier, über den Pflastersteinen.
[ 7]Die bunte Menschenmenge, die im Halbdunkel der Straße doch etwas einfarbig erscheint, strömt als Gefangenenkolonne unter dem Tor, dem flatternden dreizackigen Tor hindurch. Gefangen in den Gedanken an das vor ihnen liegende Zuhause, ein Zuhause so ganz in Bunt, ein Zuhause so ganz in Glück: Knopfdruck genügt - und wohlige Wärme ist. Was Wunder, daß man den seidenen Flor des gehäuteten Drachens, der im selben Bus saß, nicht einmal wahrnimmt. Nur der Wetterhahn, die verrostete Fahne der Kirchturmspitze, nimmt Notiz von dem Geschehen, dreht sich rhythmisch im Kreis, mal langsamer, mal schneller werdend, Walzer linksherum.
[ 7]Jagger fliegt durch das Schlüsselloch seiner Haustür hindurch, es fällt ihm etwas schwer, die Arme so eng an den Körper zu legen, daß er ohne Kratzer hindurchkommt, er spürt seine linke Hüfte, sie schabt sich auf; er wollte schon immer ein neues Schloß einbauen, weil der Schlüssel sich nicht mehr zweimal herumdrehen ließ; er kommt etwas ins Rudern, er stürzt ab, wie ein Skispringer, stößt an das Treppengeländer und zieht es jetzt doch vor, die letzten paar Meter auf eine natürlichere Weise zurückzulegen: er zieht die stickige Luft in die Lungen, er muß tief atmen, als er am Treppengeländer langsam nach oben klettert, etwas ungeschickt, er denkt dabei an seinen Sohn, den er kürzlich ziemlich laut zurechtgewiesen hat, als der das gleiche tat. Er setzt das rechte Bein auf die vorletzte Treppenstufe, dreht sich leicht ab, zieht das linke nach, er fühlt den Blutstau, der jetzt wohl unweigerlich zur Erektion führen wird, hervorgerufen sicher durch die ungewohnte Reibung des Geländers zwischen den Beinen, er überlegt noch, daß er durch das Schlüsselloch der Wohnungstür wohl nicht kommen wird, der Schlüssel steckt wie immer von innen, er kann den Gedanken nicht festhalten, er verliert sich, einer fühlbaren, völligen Leere im Kopf folgt ein starkes Schwindelgefühl. Nach Sekunden absoluter Starre in den Augenlidern beginnen sie wieder leicht zu zucken, die Pupillen drehen sich um die Mitte der Iris herum, wie Planeten um nicht vorhandene Sonnen, werden in ihren Bewegungen schneller und im Radius immer enger, dann pendeln sie sich an gewohnter Stelle wieder ein.
[ 7]An der Tür hängt das gleiche Schild wie immer, es hängt seit Jahren dort, eigentlich seit dem Mai 68, seit der Hoffnung Paris, es hängt da als Holz mit schwarzer, eingebrannter Schrift, schräg von links oben zum Drücker hin, gehalten von zwei hervorstehenden hunderter Nägeln, es hängt da als zwölf Jahre alte ironische Einladung: LASSET ALLE HOFFNUNG FAHREN, DIE IHR EINTRETET.
[ 7]So hängt es da, seine Augen scheinen es verschlingen zu wollen, seine Lippen formen in spastischen Bewegungen mal Fischmünder, kleine friedliche Fische, mal verzerrte Affenmäuler, aufbegehrende geschlagene Gorillas.
[ 7]Jaggers ganzer Körper fährt in sich zusammen. Er sieht seine Frau hinter der Eichentür liegen, auf der ausziehbaren Couch, so, wie sie immer liegt, wenn er von der Arbeit kommt, in der geblümten Kittelschürze, die sie einfach nie auszieht, wenn sie fertig ist mit dem Abendbrotmachen. Er sieht Markus, den Jungen, wie er in der Badewanne mit selbstgebastelten Papierbooten spielt, obwohl Christiane es ihm verboten hat: er soll lieber Kinderfernsehen gucken, da lernt er wenigstens was, oder Rechnen üben, er ist sowieso in der Schule zurück.
[ 7]Jagger sieht die ganze Technik stehen, in einer Reihe; links der Kühlschrank, dann die Spüle, die Waschmaschine, die Schleuder; doch, ganz rechts kommt noch eine Geschirrspülmaschine hin, ja doch, Christiane.
[ 7]Da schmerzt es wieder, links. Das lenkt ihn ab. Es wird ihm grau vor Augen. Er muß nachdenken, allmählich kommen die Gedanken, seine Gedanken, wieder zu sich. Er greift jetzt nach anderen Bildern, das Verschwommene hinter der Tür wird zur brennenden Frage nach der Herkunft des Schmerzes an der Hüfte. Doch je klarer die Gedanken werden, desto weniger gelingt es Jagger, sich eine Vorstellung davon zu machen, was sich eigentlich abgespielt hat, in der Viertelstunde seit dem Aussteigen aus dem Bus: es wird wohl nichts weiter gewesen sein, jeder Tag ist ohnehin wie der andre. Aber das Schild an der Tür will ihm nicht passen: was soll das eigentlich, warum hängt das da, wer hat es da hingehängt? Und was bedeutet es. Er fragt nach dem Sinn der paar Worte, die möglichen Antworten wie Lanzen gegen sich selbst gerichtet. Es ist ein Einkreisen seiner eigenen Vergangenheit: so nähert er sich dem angenagelten Stück Holz. Ein paar Augenblicke noch, da hat er es: Der Spruch aus Dantes GÖTTLICHER KOMÖDIE, der Spruch über der Höllenpforte.
[ 7]Sie hatten ihn damals angebracht, nach dem Pariser Frühling, hatten ihn angebracht, sich ihrer Stärke bewußt, sie meinten im Recht zu sein, wenn sie mit ihrem Spott über die Spießer herfielen; sie wollten es anders machen. Sie waren sich ihrer sicher: Wer hier eintritt, tritt in eine andere Welt ein, eine bessere Welt, in das Reich der Freiheit, in Gottes Reich auf Erden, in die Gerechtigkeit Platons, Rousseaus und Marxens.
[ 7]Zwölf Jahre hing nun ein Holz, ein Brett, genagelt an eine Eichentür, es war gekreuzigt und nicht auferstanden. Aus den Träumen von Wohnkommune und Rotem Dorf waren Realitäten geworden, die nur eine Christiane zuließen, einen Markus dazu, die die Gestalt einer kompletten Anbauküche angenommen hatten, die als Antennen auf dem Dach den Wind zerschnitten.
[ 7]Er denkt: Zwölf Jahre werden solche Schilder also alt. Und er öffnet das Fenster.
[ 7]Die Nachbarn haben noch Hühner, irgendsoein Gedanke setzt sich fest in seinem Hirn, eins davon fliegt auf den blaugestrichenen Pfahl am Ende des Gartenzauns. Schön bunt alles, sogar im Winter; er schlägt die Glasflügel bis nach außen an die Hauswand, leicht wankend geht er rückwärts auf die Bodentreppe zu, um Anlauf zu nehmen.
[ 7]Vielleicht liegt es daran, daß Dielen nicht so federn wie Pflastersteine; sie werden wohl zuviel federn, bestimmt: es fliegt sich nicht gut.
[ 7]LASSET ALLE HOFFNUNG FAHREN, DIE IHR EINTRETET - er wird nicht eintreten, er nicht; er wird abtreten.
[ 7]Als er auf dem Boden liegt, fliegt das Huhn auf, keinen Moment eher oder später. Die Arbeiter kommen vom Bus, strömen einem Zuhause entgegen, einer Frau, dem Fernseher, dem Abendbrot.
[ 7]Ein paar sehen Jagger liegen: jetzt hat er nun doch braune Haare, einen dunklen Bart mit etwas rötlichem Einschlag, eine bräunliche Augenfarbe, ein fleischfarbenes, vielleicht ein wenig zu gelbes Gesicht. Seine Arme liegen in karierten Hemdsärmeln, grün und grau, auf die Erde hingestreckt, die Beine stecken in ausgewaschenen Levis.
[ 7]Am Kleiderhaken hängt eine Parka, aus Cotton, von Seide spürt man nichts.
Eine Skizze aus den späten Siebzigern
in einem Grenzdorf des Ostens.
Das Fünfuhrläuten der Glocken, übertönt von den Geräuschen der Sechszylindermaschine des Arbeiterbusses, verflüchtigt sich durch die bewölkte Pforte.
[ 7]Im November beginnt die Dämmerung zeitig, die bleiernen Töne haben im Halbdunkel eine leichte Flucht. Die grünen Fensterläden mit den Herzen bleiben geschlossen, unter der Schieferkuppel mit der verrosteten Wetterfahne. Das Läutwerk geht seit Monaten auf elektrischen Geheiß: jüngste technische Errungenschaft einer 1200 Seelen zählenden Gemeinde. Daß mit dem winterlichen Fünfuhrgesang nicht mehr die Bauern von den Feldern gerufen werden, sondern die Busse aus der Kreisstadt - diese Errungenschaft ist älter, gewiß.
[ 7]Und wer ist schon technischen Neuerungen gegenüber voreingenommen; es gibt beinahe 60 Autos im Ort, 80 von 100 Haushalten haben einen Fernsehapparat (die Tendenz zum Buntfernseher ist offensichtlich), einen Kühlschrank besitzt wohl jede Familie.
[ 7]Man arbeitet in der Stadt; im Bus, heimwärts, schläft man. Offensichtlich. Bunte Falten auf bunten Stirnen in bunten Gesichtern, zu bunten Körpern gehörend, eingeschlafen in bunten Sitzen.
[ 7]Einer der letzten, als man aussteigt, hebt sich ein wenig ab aus der allgemeinen Färbung: schwarze Augen im weißen Gesicht, mit schwarzem Bart und schlohweißen hüftlangen Haaren, marschieren, auf einen zerlumpten Rock und geflickte Hosen gepfropft (der sieht aus wie Rumpelstilzchen, sagen die Leute), unter einer Kapuze hinein in das Dunkel hinter der Kirchenmauer. Man kann da kaum erkennen, ob es der Schritt ist, der die Pflastersteine federn macht, oder ob es die Pflastersteine sind, die die Kniegelenke Rumpelstilzchens zum elastischen Einknicken veranlassen. Er geht ein paar Schritte, das Federn wird kräftiger, raumgreifend, er wirft die lederne Aktentasche in das Knallerbsengesträuch vor dem Holzportal, beginnt mit den Armen symmetrisch in der kalten Luft herumzuschlagen, die Bewegungen aller Glieder werden auf ungeahnte Weise in Gleichklang versetzt, er spreizt die Finger, da lösen sich die Füße vom Boden, der Oberkörper nimmt eine deutliche Vorderlage ein, er schlägt jetzt heftig mit den Armen, sein Mantel flattert gleich einem seidenen Flor von seinen Schultern, verändert sich zum Dreizack und spannt sich schließlich als Drachenhaut quer über die Straße, zwischen zwei Telegrafenmasten.
[ 7]Mühelos gleitet Jagger - so nennt ihn seine Frau, seine paar Freunde haben ihm den Namen in den Sechzigern vermacht -; mühelos also gleitet Jagger, wie ein Albatros vielleicht, ohne die geringste Bewegung nun, mit vorgestrecktem Schwanenhals durch die Straßen, einige Meter, vielleicht drei oder vier, über den Pflastersteinen.
[ 7]Die bunte Menschenmenge, die im Halbdunkel der Straße doch etwas einfarbig erscheint, strömt als Gefangenenkolonne unter dem Tor, dem flatternden dreizackigen Tor hindurch. Gefangen in den Gedanken an das vor ihnen liegende Zuhause, ein Zuhause so ganz in Bunt, ein Zuhause so ganz in Glück: Knopfdruck genügt - und wohlige Wärme ist. Was Wunder, daß man den seidenen Flor des gehäuteten Drachens, der im selben Bus saß, nicht einmal wahrnimmt. Nur der Wetterhahn, die verrostete Fahne der Kirchturmspitze, nimmt Notiz von dem Geschehen, dreht sich rhythmisch im Kreis, mal langsamer, mal schneller werdend, Walzer linksherum.
[ 7]Jagger fliegt durch das Schlüsselloch seiner Haustür hindurch, es fällt ihm etwas schwer, die Arme so eng an den Körper zu legen, daß er ohne Kratzer hindurchkommt, er spürt seine linke Hüfte, sie schabt sich auf; er wollte schon immer ein neues Schloß einbauen, weil der Schlüssel sich nicht mehr zweimal herumdrehen ließ; er kommt etwas ins Rudern, er stürzt ab, wie ein Skispringer, stößt an das Treppengeländer und zieht es jetzt doch vor, die letzten paar Meter auf eine natürlichere Weise zurückzulegen: er zieht die stickige Luft in die Lungen, er muß tief atmen, als er am Treppengeländer langsam nach oben klettert, etwas ungeschickt, er denkt dabei an seinen Sohn, den er kürzlich ziemlich laut zurechtgewiesen hat, als der das gleiche tat. Er setzt das rechte Bein auf die vorletzte Treppenstufe, dreht sich leicht ab, zieht das linke nach, er fühlt den Blutstau, der jetzt wohl unweigerlich zur Erektion führen wird, hervorgerufen sicher durch die ungewohnte Reibung des Geländers zwischen den Beinen, er überlegt noch, daß er durch das Schlüsselloch der Wohnungstür wohl nicht kommen wird, der Schlüssel steckt wie immer von innen, er kann den Gedanken nicht festhalten, er verliert sich, einer fühlbaren, völligen Leere im Kopf folgt ein starkes Schwindelgefühl. Nach Sekunden absoluter Starre in den Augenlidern beginnen sie wieder leicht zu zucken, die Pupillen drehen sich um die Mitte der Iris herum, wie Planeten um nicht vorhandene Sonnen, werden in ihren Bewegungen schneller und im Radius immer enger, dann pendeln sie sich an gewohnter Stelle wieder ein.
[ 7]An der Tür hängt das gleiche Schild wie immer, es hängt seit Jahren dort, eigentlich seit dem Mai 68, seit der Hoffnung Paris, es hängt da als Holz mit schwarzer, eingebrannter Schrift, schräg von links oben zum Drücker hin, gehalten von zwei hervorstehenden hunderter Nägeln, es hängt da als zwölf Jahre alte ironische Einladung: LASSET ALLE HOFFNUNG FAHREN, DIE IHR EINTRETET.
[ 7]So hängt es da, seine Augen scheinen es verschlingen zu wollen, seine Lippen formen in spastischen Bewegungen mal Fischmünder, kleine friedliche Fische, mal verzerrte Affenmäuler, aufbegehrende geschlagene Gorillas.
[ 7]Jaggers ganzer Körper fährt in sich zusammen. Er sieht seine Frau hinter der Eichentür liegen, auf der ausziehbaren Couch, so, wie sie immer liegt, wenn er von der Arbeit kommt, in der geblümten Kittelschürze, die sie einfach nie auszieht, wenn sie fertig ist mit dem Abendbrotmachen. Er sieht Markus, den Jungen, wie er in der Badewanne mit selbstgebastelten Papierbooten spielt, obwohl Christiane es ihm verboten hat: er soll lieber Kinderfernsehen gucken, da lernt er wenigstens was, oder Rechnen üben, er ist sowieso in der Schule zurück.
[ 7]Jagger sieht die ganze Technik stehen, in einer Reihe; links der Kühlschrank, dann die Spüle, die Waschmaschine, die Schleuder; doch, ganz rechts kommt noch eine Geschirrspülmaschine hin, ja doch, Christiane.
[ 7]Da schmerzt es wieder, links. Das lenkt ihn ab. Es wird ihm grau vor Augen. Er muß nachdenken, allmählich kommen die Gedanken, seine Gedanken, wieder zu sich. Er greift jetzt nach anderen Bildern, das Verschwommene hinter der Tür wird zur brennenden Frage nach der Herkunft des Schmerzes an der Hüfte. Doch je klarer die Gedanken werden, desto weniger gelingt es Jagger, sich eine Vorstellung davon zu machen, was sich eigentlich abgespielt hat, in der Viertelstunde seit dem Aussteigen aus dem Bus: es wird wohl nichts weiter gewesen sein, jeder Tag ist ohnehin wie der andre. Aber das Schild an der Tür will ihm nicht passen: was soll das eigentlich, warum hängt das da, wer hat es da hingehängt? Und was bedeutet es. Er fragt nach dem Sinn der paar Worte, die möglichen Antworten wie Lanzen gegen sich selbst gerichtet. Es ist ein Einkreisen seiner eigenen Vergangenheit: so nähert er sich dem angenagelten Stück Holz. Ein paar Augenblicke noch, da hat er es: Der Spruch aus Dantes GÖTTLICHER KOMÖDIE, der Spruch über der Höllenpforte.
[ 7]Sie hatten ihn damals angebracht, nach dem Pariser Frühling, hatten ihn angebracht, sich ihrer Stärke bewußt, sie meinten im Recht zu sein, wenn sie mit ihrem Spott über die Spießer herfielen; sie wollten es anders machen. Sie waren sich ihrer sicher: Wer hier eintritt, tritt in eine andere Welt ein, eine bessere Welt, in das Reich der Freiheit, in Gottes Reich auf Erden, in die Gerechtigkeit Platons, Rousseaus und Marxens.
[ 7]Zwölf Jahre hing nun ein Holz, ein Brett, genagelt an eine Eichentür, es war gekreuzigt und nicht auferstanden. Aus den Träumen von Wohnkommune und Rotem Dorf waren Realitäten geworden, die nur eine Christiane zuließen, einen Markus dazu, die die Gestalt einer kompletten Anbauküche angenommen hatten, die als Antennen auf dem Dach den Wind zerschnitten.
[ 7]Er denkt: Zwölf Jahre werden solche Schilder also alt. Und er öffnet das Fenster.
[ 7]Die Nachbarn haben noch Hühner, irgendsoein Gedanke setzt sich fest in seinem Hirn, eins davon fliegt auf den blaugestrichenen Pfahl am Ende des Gartenzauns. Schön bunt alles, sogar im Winter; er schlägt die Glasflügel bis nach außen an die Hauswand, leicht wankend geht er rückwärts auf die Bodentreppe zu, um Anlauf zu nehmen.
[ 7]Vielleicht liegt es daran, daß Dielen nicht so federn wie Pflastersteine; sie werden wohl zuviel federn, bestimmt: es fliegt sich nicht gut.
[ 7]LASSET ALLE HOFFNUNG FAHREN, DIE IHR EINTRETET - er wird nicht eintreten, er nicht; er wird abtreten.
[ 7]Als er auf dem Boden liegt, fliegt das Huhn auf, keinen Moment eher oder später. Die Arbeiter kommen vom Bus, strömen einem Zuhause entgegen, einer Frau, dem Fernseher, dem Abendbrot.
[ 7]Ein paar sehen Jagger liegen: jetzt hat er nun doch braune Haare, einen dunklen Bart mit etwas rötlichem Einschlag, eine bräunliche Augenfarbe, ein fleischfarbenes, vielleicht ein wenig zu gelbes Gesicht. Seine Arme liegen in karierten Hemdsärmeln, grün und grau, auf die Erde hingestreckt, die Beine stecken in ausgewaschenen Levis.
[ 7]Am Kleiderhaken hängt eine Parka, aus Cotton, von Seide spürt man nichts.