Golden Gate an der A 6

knychen

Mitglied
Golden Gate an der A6
Irgendwann vor einigen Jahren, es muss im Mai oder Juni gewesen sein, fuhr ich über Nacht von Berlin nach Stuttgart. Als mir gegen drei Uhr mein ganz persönlicher Biorythmus befahl, müde zu sein, steuerte ich den nächsten Parkplatz an und natürlich war dieser schon knüppeldicke voll.
Der zweite Versuch einige Kilometer weiter führte zum Erfolg. Ich stand sogar in reichlicher Entfernung zum Durchgangsverkehr, was den Erholungseffekt des geplanten Schläfchens immens erhöhen würde.
Nach zwei bis zweieinhalb Stunden werde ich üblicherweise wach, da brauche ich mir nicht mal einen Wecker zu stellen. So auch an diesem Tag.
Ich stand um fünf Uhr dreißig auf, schaltete die Kaffeemaschine an und stieg aus dem Volvo.
Zum einen um mir die Beine zu vertreten, aber auch um ein Klo aufzusuchen. Obschon der Parkplatz mit einer Toilette bestückt war, zog ich es nach einem kurzen Rundblick in selbiger vor, einen kleinen Spaziergang in die freie Natur zu unternehmen. Es wäre einfach zu würdelos gewesen.
Genau wusste ich nicht, wo ich mich befand, irgendwas mit A6 zwischen Nürnberg und Heilbronn hatte ich in Erinnerung und eigentlich war es auch völlig egal, aber als ich aus dem Unterholz zurückkehrte, erkannte ich, dass es der Parkplatz vor der Kochertalbrücke war.
Diese Brücke ist mit einer Länge von über tausend Metern und einer beträchtlichen Höhe ein imposantes Bauwerk und fährt man am Tage darüber hinweg, kann man zumindest aus der erhöhten Sitzposition des Lkw heraus jenseits der Sichtblende am Brückengeländer ein liebliches Tal erspähen. In der Sohle des Tales fließt ein Flüsschen, wahrscheinlich die Kocher, und wenn es am Vortag schön heiß war, gibt das Tal am nächsten Morgen Unmengen wallenden Nebels ab. Dieser Nebel steigt dann regelmäßig bis in die Höhe der Autobahn und aus ebendiesem Grunde wollte ich hier schon immer in der Morgendämmerung anhalten und nach Möglichkeit ein paar Fotos schießen.
Aus Richtung Nürnberg begann sich der Himmel rosig zu färben und in vielleicht zwanzig, dreißig Minuten würde die Sonne komplett draußen sein. Es versprach ein schöner Tag zu werden.
Mit einer soeben angezündeten Zigarette schlenderter ich zum Anfang des Brückengeländers , stand nun dort und genoss den Blick auf das Tal und den langsamen Wechsel der Farben am Himmel und auf der etwa zwanzig Meter unter mir endenden Nebelbank.
Plötzlich kam Bewegung in den Nebel, wie wenn jemand mit einem riesigen unsichtbaren Quirl umrühren würde. Etwas Undefinierbares, Großes, Dunkles schob sich langsam näher.
Als es circa fünfhundert Meter entfernt war, konnte ich es erkennen.
Zwei senkrechte Pfeiler, jeder ein paar Meter über den Nebel ragend, schoben sich mit gleichbleibendem Abstand zueinander näher. Als der Vorderste einen Steinwurf weit entfernt war, blieben beide stehen.
Ich hatte völlig meine Zigarette vergessen, aber sie brachte sich in diesem Augenblick schmerzhaft in Erinnerung. Instinktiv warf ich sie zu Boden und trat sie aus.
„Das tut ihr aber weh.“ rief jemand.
„Was tut wem weh?“ fragte ich zurück, obwohl ich die Sprecherin, denn es war eine weibliche Stimme, nicht sehen konnte.
„Na der Brücke tut es weh, wenn du auf ihr eine Zigarette austrittst“ kam es vorwurfsvoll als Antwort und zwar direkt aus Richtung der Brückenpfeiler.
„Alles klar“, sagte ich „die Brücke kriegt vom Austreten der Zigarette Kopfschmerzen und der Papst trägt ab heute einen Zylinder!“
„Ob der Papst einen Zylinder trägt, weiß ich nicht, aber was du eben getan hast, tut der Brücke weh. Für so was sind wir nun mal nicht gebaut.“
Dieses „wir“ ließ mich stutzig werden.
„Hör mal, wer spricht denn da überhaupt und was meinst du mit ’für so was nicht gebaut’?“
„Ich bin es, die Golden-Gate-Bridge, und der Sinn und Zweck von Brücken sollte dir eigentlich klar sein. Manchmal werden wir benutzt um Wege zu verkürzen oder zu vereinfachen und manchmal brauchen uns Lebensmüde für die Durchführung ihres letzten Vorhabens. Bei mir ist es mit schöner Regelmäßigkeit so einer pro Woche, der sich mit einem finalen Sprung in Jenseits katapultiert. Seltsamerweise springen Fünfundneunzig von Hundert mit dem Gesicht zur Stadtseite hin, nur die wenigsten bevorzugen als letzten Blick die Aussicht zum Meer.
Hauptsächlich jedoch sind wir für die Kinder gebaut. Denn nirgendwo können Väter ihren Kindern besser erklären wie die Schwerkraft funktioniert, als an einem Brückengeländer. Rüberbeugen, runterspucken, mit glänzenden Augen hinterhersehen und ,Ups’ sagen, wenn jemand getroffen wurde; jedes Kind begeistert sich an dieser Lehrstunde.“
,Golden-Gate’ hatte die Stimme gesagt und die Brücke sah auch so aus, wie ich mir die Golden-Gate vorstellte, aber Fakt ist nun mal, dass bewusste Brücke in der Bucht von San Francisco steht und ich mich auf einem Parkplatz zwischen Nürnberg und Heilbronn befand.
Eigentlich bin ich ein Mensch, der schwer aus der Ruhe zu bringen ist und egal wie groß sich ein Problem vor mir aufbaut, ich werde doch immer versuchen, es logisch anzugehen.
Hier war nun gar nichts logisch.
„Okay“ sagte ich „du bist die Golden-Gate-Bridge, kannst sprechen und bist mitten in Deutschland. Hättest du nicht Lust, mir ein paar Zusammenhänge zu erklären?“
„Was soll ich dir da erzählen?“ seufzte sie „Sprechen können wir Brücken natürlich alle. Du solltest mal hören, was die Ältesten unter uns für Geschichten drauf haben. Übermittelt werden die Erzählungen durch das Profil der Autoreifen, durch das Plätschern des Wassers, welches unter uns hindurch fließt, wir prägen sie in die Schuhsohlen der Wanderer, die über uns hinwegschreiten, kurz, es gibt sehr viele Möglichkeiten, sich mitzuteilen.
Die besten Erzähler sind natürlich solche Koryphäen wie die Karlsbrücke, der Pont du Gard oder die Brücke von Mostar- Friede ihren Trümmern- eben solche, wo sich Menschen verschiedenster Nationen kennen lernen.
Hier in Deutschland bin ich, weil ich ein schlechtes Gewissen habe.
Es ist nämlich so. Als ich am 28.Mai 1937 als die damals längste Hängebrücke der Welt eingeweiht wurde, hatte mein Erfinder Joseph B. Strauss ohne Zweifel ein Wunderwerk der Technik vollbracht. 2,7 Kilometer Länge, jeder Pfeiler 227 Meter hoch, allein die beiden Trageseile, in deren Inneren sich 27572 Stahldrähte mit einer Gesamtlänge von 130 000 Kilometern befinden, 600 000 verarbeitete Nieten, all das waren Eckdaten, die mit bis dato nicht gekannter Größe protzen konnten. Eines jedoch hatte Mister Strauss überhaupt nicht bedacht. Er vergaß schlichtweg, mir die Wasserscheu zu nehmen.
An und für sich wäre das kein Problem, schließlich schlafen wir Brücken meist. Aber manchmal werde ich wach. Sei es, weil ein Schiff genau unter mir sein Nebelhorn ertönen lässt, sei es, weil auf meiner Fahrbahn ein Unfall mehrere Rettungsfahrzeuge mit ihren grauenhaften Sirenen zum Einsatz bringt. Immer schrecke ich dann aus meinen Gedanken hoch und mein erster Blick fällt auf die Wasserfläche unter mir. Es beginnt mich zu schütteln und nur das Bewusstsein der Verantwortung für die vielen Menschen auf und manchmal unter mir lässt mich dem Wunsch, einfach zusammen zu brechen, durch Standhaftigkeit widerstehen. Ein Zittern, dass bis in die tiefsten Tiefen meines Fundamentes geht, kann ich jedoch nicht immer unterdrücken.
Dann dauert es meist keine zwei Tage und ich lese in einer angeschwemmten oder herbeigewehten Zeitung solch Blödsinn von tektonischen Platten, Erdbebenaktivität, BigBang
und was da noch alles für Begriffe verwendet werden.
Dabei ist es doch meine Wasserscheu, die den felsigen Untergrund von San Francisco zum Erbeben bringt. Mit dieser Verantwortung kann ich nicht länger leben. Ich werde ja schließlich auch älter, weiß man denn, ob ich mich in späteren Jahren noch so wie heute unter Kontrolle habe?
Also hab ich mich entschlossen, mir ein neues Wirkungsfeld zu suchen. Dazu musste ich mich natürlich ein wenig verkleinern, wie dir gewiss schon aufgefallen ist, aber das kann ich jederzeit wieder rückgängig machen.“
So langsam wurde mir bewusst, was für eine Last so eine Brücke zu tragen hat. Nicht nur praktisch, in Form der Autos, Lkw, Eisenbahnen usw., sondern viel mehr theoretisch.
„Und jetzt willst du dich hier im Kochertal ansiedeln?“
„Och, ich weiß nicht“ sagte sie „erst kam es mir hier ganz nett vor, aber in der Zeit, die wir uns unterhalten haben, konnte ich ganz gut den Verkehr auf der Straße beobachten. Mir scheint, als ob die Bedeutung des Sicherheitsabstandes bei euch in Deutschland nicht so die große Rolle spielt. Das lässt dann darauf schließen, des öfteren durch Sirenen aus dem Schlummer geweckt zu werden. Nein, ich glaube, ich werde mich noch kleiner machen und ein weniger frequentiertes Tal suchen, vielleicht auch nur einen ausgetrockneten Graben. Aber Deutschland wäre schon schön, ich meine mich zu erinnern, das mein Vater aus dieser Gegend kam, das kann aber auch Einbildung sein.“
Sie sprach’s, die beiden Pfeiler entfernten sich langsam und versanken dabei immer tiefer im sich strudelförmig bewegenden Nebel.
Ich ging nachdenklich zum Lkw, trank einen Kaffee und fuhr weiter.
Manchmal, wenn ich nachts sehe, dass einer der Kollegen vor mir seine aufgerauchte Zigarette zum Fenster raus wirft und ich feststelle, dass wir gerade über eine Brücke fahren, kann ich mir einen Kommentar am Funkgerät in der Form: „Sag mal, muss das sein, dass du deine Kippe auf die Brücke schmeißt?“ nicht ersparen. Eine Antwort habe ich aber noch nie bekommen.
 
A

annabelle g.

Gast
hallo knychen,

du bestätigst meine vorurteile gegenüber fernfahrern: statt auf die straße - mich! - zu achten, spähen sie flusstäler, sie schlafen nur zweieinhalb stunden und hören stimmen! mein entschluss steht fest: in zukunft werde ICH den überholungsvorgang bereits 100 m vor JEDEM brummi ansetzen und die hupe NICHT LOSLASSEN, bis ich vorbei und in sicherheit bin.

jetzt mal ernsthaft - fährst du auch nach italien und in den osten - das ist doch sehr spannend. du hast bestimmt schon drüber nachgedacht, etwas über diese reisen zu schreiben, zum beispiel allein in italien herauszukriegen, dass man das kaffeechen erst an der kasse bezahlen muss, bevor man zum barmann kann. und wie sind denn die tankstellen in der ukraine und wie macht man das mit den sprachen?

warum die stimme von der golden gate? ich fand das lokalkolorit mit der A6 schön. ich wüde gern noch viel mehr von diesen fahrten und den netten leuten und idioten hören, die du alle kennenlernst.

annabelle
 

knychen

Mitglied
rechtfertigung

hallo annabelle g.
um da keinen irrtum aufkommen zu lassen: diese zweieinhalb stunden schlaf gönne ich mir meist, wenn ich über nacht fahre, aber das ist natürlich nicht meine einzigste pause, die ich unterwegs mache. der gesetzgeber verbietet allerdings, mehr als viereinhalb stunden am stück zu fahren
(zu recht, wie ich meine) und da ich sowieso pausieren muß, gönn' ich mir halt ein schläfchen. was meine person angeht, kannst du auch ohne hupen überholen, aber warte mit dem einscheren nach rechts solange, daß ich zumindest deine hecklichter erkennen kann, sonst wird es eng im falle einer vollbremsung. bin nach achtzehn jahren auf dem lkw immer noch frei von selbst verschuldeten unfällen.
thema ausland ist nicht so einfach. habe zwar vom tiefsten russland bis südspanien so ziemlich alles durch, aber die letzten fahrten über die deutschen grenzen hinweg liegen knapp zehn jahre zurück(mit dem lkw)
die stimme der brücke mußte einfach sein, sonst funktioniert es nicht und der pädagogische zeigefinger am ende (hinweis auf mangelnden sicherheitsabstand) war das eigentliche anliegen.
im übrigen spreche ich russisch, englisch und leidlich französisch, damit kommt man ganz gut über die runden
(stelle gerade fest, daß mein spanisch mittlerweile so rudimentär ist, daß ich es vergessen habe,aufzuzählen)
immer auf der strasse bleiben wünscht knychen
 
A

annabelle g.

Gast
hallo knychen,

so viele sprachen?
wenn du spanisch kannst, bist du auch nicht so weit weg vom italienischen.
ich will nicht darauf herumreiten - du hast es bestimmt auch schon an anderer stelle diskutiert - aber ich fände ein buch mit fernfahrer-geschichten durch europa, oder wenn du nur noch deutschland fährst, dann eben deutschland, klasse.
christian kracht hat vor ein paar jahren dieses buch über eine reise quer durch deutschland veröffentlicht, aber es war so schlecht geschrieben, dass ich es nicht lesen konnte.

im eichborn verlag ist "ps hero. 50 exemplarische autogedichte" erschienen, wie gesagt gedichte.
schönes wochenende, knychen, annabelle
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

knychen, das ist die bisher beste geschichte von dir. nach meinem geschmack jedenfalls. ein nettes märchen für erwachsene. lg
 



 
Oben Unten