Goldenes Lebens-ABC

Adle heilig deine Würde
Bleibe stets der Tugend treu ...



Auf dem Heimweg vom Friedhof wurde sie gegrüßt, das kam nur selten vor. So sehr sie ihre Augen anstrengte, die verschwimmenden Züge vor ihr riefen keine Erinnerung wach. Die andere musste viel jünger sein als sie selbst, die Achtzigjährige, und war doch schon eine ältere Dame. Ob sie vom Grab ihres Mannes komme, wollte die viel jüngere ältere Dame wissen. Jetzt erkannte sie sie an der Stimme: Es war Fräulein Krüger, die Tochter des Apothekers, ledig geblieben.

Sie sprachen einige Sätze miteinander. Beim Auseinandergehen bat die Greisin das Fräulein, zu Hause die Mutter zu grüßen. Fräulein Krüger stutzte und sagte dann, ziemlich heiter, wie ihr schien: "Aber, Frau Martin, meine Mutter ist doch schon Jahre tot ..." Dann fuhr sie ernster fort: "Sie hat doch diesen Autounfall gehabt, sie ist totgefahren worden. Erinnern Sie sich nicht?" Die Greisin stand grübelnd da. Die alte Krügerin tot? Und das Fräulein so gut gelaunt?


Centnerschwer drückt oft die Bürde
Doch verzage nicht dabei ...



Ebenso unangenehm war ihr einige Wochen später eine andere Erinnerungsstörung. Auf dem Friedhof fiel ihr ein Mann mittleren Alters in ihrer Nähe auf. Sie ging einige Schritte vor und erkannte, seit langem vertraut mit den Grabstellen dieser Abteilung, vor welchem Grab er stand. Sie sprach ihn an: "Jetzt erkenne ich Sie, wo ich sehe, welches Grab Sie besuchen. Sie sind doch mit meiner Tochter in eine Schulklasse gegangen ..."

Er ließ sich ihren Namen nennen und sagte dann, sie irre sich, sie verwechsele ihn mit seiner eigenen Mutter. "Meine Mutter und Ihre Tochter sind in eine Klasse gegangen. Ich bin schon der Sohn." Er hatte wohl Recht, wie hatte sie sich so täuschen können ... Zum Glück vergaß sie den Vorfall noch vor dem Abend.


Ehrsam seine deine Taten
Forsche stets der Wahrheit nach
Gehe froh auf ihren Pfaden ...



Nur selten kam Besuch. Zweimal wöchentlich sah sie ihre Tochter bei sich, die ein warmes Essen brachte und Vorgekochtes, das sie an den Folgetagen aufwärmen konnte. Die Tochter kam mit dem Gesicht eines mürrischen Lieferanten und hatte es immer eilig. Und sie selbst wollte sich beklagen, dass sie noch schlechter sehe und höre und immer allein sei. Doch sie kam nicht dazu. Der pflichtbewusste Ton in der Stimme der Tochter veränderte sich schon. Es klang ungeduldig, gereizt. Sie hatte Besseres zu tun, als sich überflüssige Klagen anzuhhören. Nach zehn Minuten war sie fort.

Leider hatte sie nur dieses Kind. Sie hatten sich nie recht verstanden, deshalb war sie zurückgekehrt in ihr eigenes Haus. Bei wem sonst konnte sie sich beklagen, bei den Nachbarn? Die waren selbst alt und krank.


Hüte dich vor jeder Schmach
In des Lebens Labyrinthen
Kommst du über Stock und Stein ...


Einmal im Vierteljahr kam der Neffe und brachte Frau und Tochter mit. Sie hatten dann den ganzen Nachmittag Zeit für sie. Die Frau des Neffen entdeckte die Spinnwebfäden, die für die Greisin unsichtbar waren. Der Neffe ließ sich den Besen geben und entfernte den Trauerflor, der sanft von der Decke herabwehte. Ob ihr Enkel immer noch ledig sei, wollte die Frau des Neffen wissen, ihr einziger Enkel, der weit fort war und den sie nur einmal im Jahr sah. Sie wusste nichts Neues von ihm. Sie wusste fast nichts von seinem Leben jetzt. Neulich war er dreißig geworden.

"Oma, er wird mit einer Frau zusammenleben", sagte die Tochter des Neffen, "das wird es sein." Sie wunderte sich. Der Gedanke war ihr nie gekommen. Früher hatte es das nicht gegeben. Sie sagten ihr, das komme jetzt oft vor, besonders in Großstädten.


Lasse nie den Gleichmut sinken
Mag's Geschick auch widrig sein ...


Der Enkel schrieb ihr viel zu selten, in vier Wochen ein kurzer Brief - und jetzt in der Pfingstwoche wartete sie schon seit Ostern auf seine Antwort. Sie wollte sich nicht länger gedulden. Sie nahm die Lupe, den dicken Filzstift und das Linienblatt und schrieb ihm, sie müsse vielleicht doch am Auge operiert werden. Er solle im Urlaub nicht nach Spanien fliegen, wie leicht könne ihm was passieren. Beckers Rudi sei da beim Baden ertrunken ... Sie wusste nicht mehr, was sie bereits geschrieben hatte. Selber lesen konnte sie es nicht. Würde er es lesen können? Die Adresse schrieb ihr eine Nachbarin auf den Umschlag. Sie schickte den Brief als Einschreiben ab.

Es dauerte noch einmal zehn Tage, bis seine Antwort kam. Aufgeregt und stolz ließ sie sich den Brief vorlesen und behielt vor aufgeregtem Stolz nichts vom Inhalt. Und schrieb sofort zurück, was sie immer schrieb: dass es ihr schlecht gehe und dass ihm was passieren könne. Dann begann sie wieder, zunehmend ungeduldig auf Antwort zu warten.


Nie enthülle andrer Schwächen
O, du leidest selbst daran ...


Diesmal versagten ihr die Beine vollkommen. Der Rettungswagen brachte sie nicht zum ersten Mal ins Krankenhaus. Doch jetzt konnte sie nicht einmal aus dem Sessel aufstehen. Die Gelenke schienen vollkommen versteift. Die Sanitäter trugen sie im Sessel auf die Straße. Der Sessel wurde mit ihr abgesetzt, um die Türen des Wagens zu öffnen. Die Köpfe von Nachbarn zeigten sich: "Geht es Ihnen so schlecht, Frau Martin?" - "Wer weiß, ob wir uns wiedersehen!" Man hob sie aus dem Polster und setzte sie auf dem des Wagens nieder. Ihre Haltung blieb königlich leidend. Es war ein bedeutender Tag für sie.

Auf der Station ging es nüchterner zu. Die Untersuchung durch zwei junge Ärzte erschien ihr flüchtig. Als sie "Neurologie konsultieren" verstand, wusste sie, sie würde das Krankenhaus bei nächster Gelegenheit verlassen. Vor Jahren hatte sie einmal einige Wochen auf der Neurologisch-Psychiatrischen Abteilung des Universitätskrankenhauses gelegen. Nie wieder dorthin! Während die Schwester mit der Tochter telefonierte und sie bat, die nötige Wäsche zu bringen, verließ die Achtzigjährige die Station. Sie huschte am Pförtner vorbei und bog eilig um die Straßenecke. Zu Fuß erreichte sie zwei Stunden später ihr Haus. Kurz nach ihr traf ihre Tochter, auf dem Rückweg vom Krankenhaus, mit der Wäsche dort auch wieder ein.


Pünktlich halte dein Versprechen
Quäle dich mit keinem Wahn ...


Alle übrigen Tage gingen gleichförmig dahin, einer nach dem anderen, ohne Unterschied, ohne Neues - als wäre ihr Leben schon zu Ende und ihre Gewohnheiten würden noch eine Zeitlang von einer ihr fremden Person teilnahmslos weitergeführt.

Jeden Morgen stand sie um halb acht auf, frühstückte, ging zum Arzt. Sie ließ sich die Spritze gegen den Zucker geben. Pünktlich zu Beginn der Kassenstunde betrat sie die Schalterhalle der Bank. Man legte ihr Anweisungen zur Unterschrift vor, Formulare, die sie selbst nicht mehr auszufüllen imstande war. Meistens bat sie dann noch um Beratung in ihren Vermögensangelegenheiten. Sie hatte erfahren, es gab noch andere Arten der Geldanlage als das ihr vertraute Sparbuch mit den kümmerlichen drei Prozent. Es war eine Verschreibung, wie hieß das nur ... Jetzt hatte sie es: Schuldsparverschreibung. - "Sparschuldverschreibung", berichtigte das Fräulein lächelnd, wie es das immer tat, und versuchte noch einmal, ihr die Sache zu erklären. Sie müsse jetzt dreiundzwanzigtausend Mark einzahlen und bekomme in sieben Jahren vierzigtausend zurück. - Ging das denn mit rechten Dingen zu? Und was bedeutete: abgezinst? Und wenn sie vorher stürbe? - Dieser Fall war an sich nicht vorgesehen, dann ende der Vertrag vorzeitig und die Endsumme müsse neu berechnet werden. - Wie immer sagte sie nur, sie wolle es sich überlegen, und verließ die Bank mit den Auszügen. Sie legte sie daheim in die große Schublade zu den übrigen ungeprüften.

Im Supermarkt war das Verfahren einfacher, die Hilfe unmittelbarer. Sie legte Waren in den Rollwagen, und die Kassiererin nahm Scheine und Münzen aus ihrer Geldbörse. Sie bekam den Kassenbon und durfte zum Packtisch gehen.


Recht tun gelte dir zur Ehre
Sittlichkeit sei dein Gebot ...



Jeden Nachmittag ging sie auf den Friedhof. Die Begonien blühten in jenem letzten Sommer besonders reich. Befriedigt übersah sie die Doppelgrabstelle. Sie hatte selbst den dunklen Marmorstein ausgesucht und die Inschrift bestimmt: Eheleute Martin-Schreyer, nichts weiter, keine Vornamen, keine Daten. Es kam billiger so: Die Erben würden nach ihrem Tod den Bildhauer kein zweites Mal beauftragen müssen.

Oft dachte sie an ihren letzten Besuch im Krankenhaus damals zurück. Dass man den armen Mann mit neunundachtzig noch am Bruch zu operieren versucht hatte! Sie dachte an seine Abschiedsworte: "Ich danke dir für alles, was du mir gewesen bist." Das hatte er noch zu ihr gesagt, sie täuschte sich doch nicht?


Trockne deines Bruders Zähre
Und erleichtre seine Not ...


Auf dem Rückweg vom Friedhof bog sie oft an der Ecke ihrer Straße ab und ging zum Bahnhof. Wie lange war sie nicht mehr mit dem Zug gefahren, zwanzig Jahre, fünfundzwanzig Jahre? Sie würde nie mehr die Treppe zum Bahnsteig hinaufgehen, nie mehr fortfahren oder irgendwen vom Zug abholen. Sie ging hier nur vorbei, weil sie den Umweg durch die Bahnhofstraße nahm. Der Nachmittag zu Hause war sonst endlos. Gewöhnlich ging sie schon um sechs Uhr zu Bett. Meist schlief sie dann gegen zehn Uhr ein.

Einmal fand sie unterwegs ein Taschentuch. Es lag im Rinnstein. Der, der es verloren hatte, musste einen gewaltigen Schnupfen gehabt haben. Sie ekelte sich nicht, sie bückte sich und steckte es ihn ihre Manteltasche. Zu Hause wusch und bügelte sie es und verleibte es ihrem Wäschebestand ein. Dabei freute sie sich, ganz wie früher.


Vorsicht sei die starke Säule
Welche trägt und stützt dein Haus ...



An einem Herbstnachmittag kam sie heim und fand das Lebens-ABC auf dem Fußboden liegen. Gerissen war das Schuhband, das die gerahmten Sinnsprüche so viele Jahre am Nagel festgehalten hatte. Sie hob den Glasrahmen auf und ertastete zwei klaffende Sprünge auf der Scheibe. Die Sprüche waren ihr zum größten Teil entfallen. Sie noch einmal durchzugehen, war nicht mehr möglich. Sie tat das ABC in eine Schublade zu anderen Dingen, die nicht mehr benötigt wurden.


Xenien der Liebe teile
Zum Geschenke allen aus.
 



 
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