Gott und die Dunkelheit

HerbertKalk

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Die Dunkelheit

Am Anfang war das Blatt noch weiß und leer. Ich sitze und soll schreiben.
Aber was?
Aller Anfang sei schwer, heißt es. Wie schwer war dann erst seiner? – „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.“
Bin ich denn Gott, nur weil ich aus dem Nichts erschaffe? Nur weil ich schreibe?
Warum eigentlich „im Anfang“ und nicht „am“? – Weil es „im“ Anfang war, weil es wurde, während er wurde.
Und vorher? Was war vorher?
Nichts.
Nein, etwas war da, muss dagewesen sein! Etwas kann nicht aus dem Nichts entstehen! – Ich weiß: Die Dunkelheit. Die Dunkelheit war vorher da, eine erdrückende, scheußlich schwarze Dunkelheit. Und dann kam er und sprach: „Es werde Licht!“ Und es wurde Licht. Vorher aber: Dunkelheit.
Und jetzt?
Alles, was einen Anfang hat, muss auch ein Ende haben. Alles, bis auf eine: Die Dunkelheit. Sie ist unendlich. Sie ist davor, danach, immer und für immer.
Und deshalb, wenn ich jetzt aufstehe und rausgehe, bin ich nicht alleine. Die Dunkelheit passt auf mich auf. Sie ist immer da, ich muss nur meine Augen schließen. Ich gehe nicht mit Gott, ich gehe mit der Dunkelheit. – „Und meine Laterne mit mir!“, aber das ist ein Kinderlied. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
In Wahrheit bin ich nämlich doch alleine. Niemand ist da, der mich in den Arm nimmt oder in den Schlummer wiegt, mir ein Schlaflied singt oder einen Gutenachtkuss gibt. – Nur die Dunkelheit ist da.
Sie macht auch, dass ich ewig lebe. Dass ich jeder, alles sein kann, wer oder was ich will. Wenn ich träume, träume ich von ihr. Sie ist alles, was ich habe, und damit alles, was ich brauche.
Ich stehe auf. Ich gehe raus. Ich friere, mir ist kalt. Meine Schritte klatschen im Treppenhaus. Es knallt, die Haustür fällt ins Schloss.
Draußen ist es dunkel, alles schläft. „Einsam wacht …“, nur ich bin auf den Beinen. Die Häuser sind schwarze, ausgemergelte Skelette, Ruinen einer Albtraumstadt, gefleddert und zerbombt. Mein Atem kondensiert. Sterne blinzeln, es riecht süß. Mir tun die Arme weh.
Ich laufe und laufe, und komme an: Die schwere Tür ist unverschlossen.
Im Treppenhaus mach ich den Anfang. Dann sind die Klassenzimmer dran. Und schließlich: Die Bücherei.
Es dauert keine halbe Stunde, dann ist der Raum erfüllt von süßem Duft.
Ich gieße eine schmale Spur bis vor die Tür, dann stell ich den Kanister ab. Aus meiner Tasche kram ich Zigaretten und zünd mir eine an. Als ich fertig bin, schnipp ich den Stummel in die Spur.
Es wuscht, und wird es Licht. Ich stehe da und warte, während die Flammen immer höher schlagen. Es wird schon beinah wieder hell. Aber vielleicht sieht es auch nur so aus. Vielleicht sieht immer alles nur so aus …
Ich sehe nicht aus. Überhaupt nimmt mich selten einer wahr. Nicht einmal meine Lehrer. Ich bin der, der nie was sagt. Der, der ganz gut mitkommt, aber keine Leuchte ist. Der, den niemand wirklich sieht.
Sie werden sich fragen, wer es war. Sie werden sich fragen, wer ich war. Aber darauf werden sie nicht kommen. Niemand kommt auf mich.
Ich hasse das. Ich will, dass sie mich erwischen! Ich will erwischt werden! Aber nicht mal Gott schaut zu.
Ich bin alleine.
Das Feuer wächst und wächst, knistert in der Kälte, und röhrt schließlich aus jedem Fenster, jeder Tür. Scheibenglas zerplatzt. Es rumpelt, faucht und knarzt, und die Menschen treten vor die Häuser und beschauen sich mein Wunder.
Ich werde, nein, bin Gott.
Und während die Flammen selbst den Himmel zu verschlingen drohen, stehe ich nur da und weine, weil niemand da ist, der sich um mich kümmert, niemand, der mir auf meine Auas pustet oder die Wehwehchen küsst.
Ich bin alleine, immer nur alleine mit dieser großen, weiten Dunkelheit …
 



 
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