Grässliche Visionen

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Dirk Radtke

Mitglied
Bitte verschieben, wenns hier nicht rein passt...


Aus zahlreichen, verspiegelten Deckenstrahlern ejakuliert extrem hartes Licht auf mich herab. Wie ein ewig gleißender Blitz. In dem gegenüberliegenden, auf Hochglanz polierten Spiegel wirken die Poren meines Gesichts erschreckend überdimensioniert. Kraterhaft. Sie sehen aus wie Meteoriteneinschläge auf einem fremden Planeten, durch ein schlechtes Teleskop betrachtet. Bin ich das da im Spiegel, oder blicke ich durch ein unheimliches Fenster in eine andere Zeit?
Verzerrt, verstümmelt, verworren?
In der hinteren Ecke des Raumes sitzt eine Frau. Zirka Ende dreißig, Anfang vierzig, was aufgrund ihres Zustandes schwer zu beurteilen ist. Eine Art Schimmel wächst auf ihrer Schädeldecke, in die so etwas wie Schrauben hineingedreht worden sind.
Der grässliche Anblick lässt mich erstarren, treibt mir augenblicklich eine meterlange Gänsehaut über den Rücken. Ich schüttle den Kopf, da ich glaube, einer Täuschung zu erliegen, versuche, die Vision fortzublinzeln wie eine brennende Träne. Vergeblich. Das skurrile Bild mutiert in die knallharte Realität.
Die Frau lächelt mich an, zwinkert aufmunternd mit den Augen. Wahrscheinlich ist ihr Geisteszustand aufgrund der Schmerzen bereits dem Wahnsinn verfallen. Ansonsten würde sie bis zur Besinnungslosigkeit schreien. Selbst als ihr ein dampfendes Handtuch um das entstellte Haupt gewickelt wird, wirkt sie merkwürdig entspannt.
Dann schließt sie die Augen.
Aus meiner Position kann ich nicht erkennen, ob sie aufgrund der Behandlung das Zeitliche gesegnet hat. Ihr Oberkörper - und somit die Möglichkeit, Bewegungen ihres Brustkorbs zu beobachten - ist von einem schwarzen, samtig schimmernden Umhang bedeckt, aus dem feuchte Haarbüschel zu wachsen scheinen. Ich frage mich, warum der armen Frau niemand hilft, warum die Gestalt neben ihr sie nicht von den unsäglichen Qualen erlöst? Doch bei näherem Betrachten stelle ich zu meinem Entsetzen fest, dass sie an einen gynäkologischen Stuhl gefesselt ist. Zumindest ähnelt das Modell einem solchen sehr. Auch ihr gegenüber befindet sich ein Spiegel, in den sie mit starrem Blick hineinglotzt. Ihre Hände krampfen sich um das zerschlissene Leder der Armlehnen, die Knöchel treten weiß hervor. Blaue schäumende Algen haben ihren Kopf überwuchert. Der irre Ausdruck in ihren Augen lässt vermuten, dass sie bereits in ihr Gehirn gedrungen sind und die Gedanken kontrollieren.
Ich bin entsetzt.
Die abstrusen Bilder fressen sich tief in meinen gepeinigten Verstand, lähmen meine Muskulatur, was mich daran hindert, augenblicklich aufzuspringen und fortzulaufen. Ich frage mich, wo derjenige ist, der mich kneift, zwickt oder mir in den verdammten Hintern tritt, um mich aus diesem Alptraum zurück in die Realität zu befördern. Das Ganze ist schizophren, entspringt einem kranken Hirn, den Gedanken eines Verrückten.
Ich muss mit ansehen, wie eine junge, hübsche Frau bei lebendigem Leibe gebraten wird. Dazu wird ein Gerät hinter sie geschoben, woran mehrere Metallarme mit jeweils einem kreisförmigen Gitter an den Endungen angebracht sind. Sie sind so ausgerichtet, dass sie sich – bis auf das Gesicht – in wenigen Zentimetern Entfernung um den Kopf fügen. Im kalten Licht der Neonröhren blitzen die verchromten Oberflächen furchteinflößend auf. Die junge Frau wirkt wie narkotisiert, als der Höllengrill über sie geschoben wird. Binnen weniger Minuten verwandelt sich ihre Gesichtsfarbe über kräftiges Rot in ein tiefes Bordeaux.
Gott, stehe ihrer armen Seele bei!
Wie durch einen dämmenden Nebel dringt plötzlich mein Name in meine Ohren. Jetzt ist es soweit. Sie rufen nach mir! Jetzt bin ich dran!
Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter, während ich die Instrumente betrachte, die vor mir auf einer schmalen, speckigen Ablage ordentlich nebeneinander aufgereiht worden sind. Dabei sind die Spraydosen, mit denen man mir wahrscheinlich das Augenlicht nehmen will, noch die harmlosesten Dinge darauf. Es gibt Scheren in unterschiedlichen Größen und mit verschiedenen Klingen bestückt, dessen abstrakteste eine mit unregelmäßigen Zacken ist. So ein Ding muss die schlimmsten Wunden verursachen, selbst wenn es jemand bedient, der überhaupt nicht damit umzugehen weiß. Daneben grinst mich ein aufgeklapptes Rasiermesser hämisch an. Ich spüre förmlich die Schnitte, die es mit Leichtigkeit in mein Gesicht zaubern, es bis zur Unkenntlichkeit entstellen kann.
Mir wird schlecht. Überall um mich herum tauchen plötzlich Domina auf. Allesamt haben sie Strähnen in den Haaren, und breite, mit diversen Folterwerkzeugen bestückte, Ledergürtel umgeschnallt. Eine von ihnen rauscht zielstrebig auf mich zu, eine Art Werkzeugwagen mit verschiedenen Mulden vor sich herschiebend. Mir stockt der Atem, wegen der runden, länglichen Gegenstände von unterschiedlicher Größe darin. Manche wirken wie behaarte Klopapierrollen. Andere haben zusätzliche Klammern oder Klipse. Aber alle sind knallbunt, was den Zweck der Dinger noch gruseliger erscheinen lässt, sofern man sich vorstellt, sie in vorhandenen Körperöffnungen geschoben zu bekommen. Ich möchte mir gar nicht ausdenken, welche ekelhaften Schmerzen sie erzeugen. Vor allem die dicken, mit den Haaren.
Ich bekomme eine Halskrause angelegt. Mein Ende naht. Aus dem Spiegel blickt mir ein bleiches, blasses Gesicht entgegen. Mit immer noch viel zu großen Poren. Zum letzten Mal sehe ich zu der Frau hinüber, deren Schädel kurz zuvor mit einem qualmenden Handtuch gedämpft wurde. Die Schrauben sind herausgedreht worden. Dafür liegt ihr Kopf nun auf einem Schafott aus Keramik. Nur, dass ihr Gesicht nicht nach unten, sondern nach oben gerichtet ist. Eine der Domina steht über sie gebeugt und übergießt ihr Haupt mit Säure, die aus einem verchromten Duschkopf zischt. Gräuliche Dämpfe steigen empor, vermischen sich mit dem beißenden Gestank der Luft. Das Gleiche passiert der Frau, deren Gehirn die Algen zerfressen haben. Auch sie wird mit Säure überbrüht. Plötzlich ertönt ein schrilles Piepen, laut und rhythmisch. Die, mit dem fahrbaren Grill ums Gesicht, fuchtelt mit einer Hand in der Luft herum, doch niemand kümmert sich um sie. Mein Blick fällt wieder auf die Erste. Sie sitzt jetzt aufrecht im Stuhl, hat sich aber in einen Mann verwandelt.
Ich beiße mir auf die Lippe. Nein, oh, nein. Ab sofort werde ich mir die Haare lang wachsen lassen, und nie wieder einen Friseursalon betreten!!!
 

Black

Mitglied
Die Idee ist echt gut. Zunächst hab ich gedacht, wir befinden uns in einem Schlachthof/ einer Küche für Menschen, wo diese alles durchmachen müssen, was sonst Tieren passiert. Aber mit dieser klugen Kehrtwendung am Schluss ist es viel besser. Bißchen seltsame Sprache manchmal ( was ist eine meterlange Gänsehaut?), aber sonst gelungen. Grüße black
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wie ich sehe, bist Du noch neu genug für die Frischlingstaufe: betrachte Dich hiermit als begossen, Dirk ;-)

Das war die warme Dusche. Und jetzt wirst Du eiskalt abgeschreckt:

Zwar ist die Idee so gut, dass ich mich gleich gefragt habe, warum ich sie noch nie hatte, aber die an Haaren herbei gezerrten Metaphern mit ihren schmerzschiefen Grimassen stolpern ständig über meine Sprachtoleranzschwelle, wohinter sich bereits ein Berg an Bedeutungsunverträglichkeit vergifteter Begriffe türmt.

'Hartes Licht, das ejakuliert': die Zunge hängt blau geschwollen!
'Meteoriteneinschläge, die durch ein schlechtes Teleskop betrachtet werden': liegen mit verschwommenem Blick halb darauf!
'Meterlange Gänsehaut': dreieinhalbmal um sich selbst gewürgt nur knapp daneben!

Und so weiter häuft sich ein schiefes Bild auf den nächsten Wortmissbrauch – und darunter liegt sie begraben.

Die schöne Pointe.

Armes Ding.

Vom Leder und abgezogen
 

Dirk Radtke

Mitglied
Worte sind bekanntlich Schall und Rauch.
Der eine mag sie, der andere nicht.
Obwohl mögen und nicht mögen gleichermaßen auf den selben Sinn zielt.
So brachte mir mein "gewöhnungsbedürftiger" Schreibstil doch tatsächlich einen Verlagsvertrag, eben wegen diesem.

BTW. Eine meterlange Gänsehaut ist eine Gänsehaut, die meterlang ist ! ;)

LG
Dirk
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Irrtum: auf der Lupe bestehen Worte aus in grünen Elektronit gemeißelten Lettern ;-)

Wenn es kein Zuschussvertrag ist, gratuliere ich. Was nichts an meinem persönlichen Ideal ändert:

[blue]Sinnreich sei das Wort, treffend und.[/blue]

Unter'm Schädeldach gefangen, konnt' er kaum ins Leben langen
 



 
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