Ich weiß noch genau wie es in jenem Winter war, ich war gerade, im November, 7 Jahre alt geworden. Damals, 1963, war ein besonders strenger Winter. Selbst der Ententeich im nahen Wald war zugefroren. Die Kinder aus dem Dorf hatten ihre Freude daran. Warmeingepackt mit bunten Mützen und Handschuhen fuhren sie, obwohl es natürlich verboten war, Schlittschuh auf dem Eis und johlen und lachten, dass es bis ins Dorf schallte.
Die Weihnachtsferien verbrachte ich immer bei meinen Großeltern. Seit langer Zeit hatte ich mich darauf gefreut, wie jedes Jahr. Bei Oma und Opa war es immer so gemütlich. Opa war in jungen Jahren Desinfektor bei der Stadt gewesen, was er immer noch gerne voller Stolz erzählte. Als er aus dem Krieg kam, war er so zerschossen, dass er nicht mehr arbeiten konnte. Oma musste ihn jahrelang pflegen, und er war sicher kein geduldiger Patient.
Großvater konnte ziemlich ungerecht werden, wenn er wieder einmal mit seinem Schicksal nicht zu Recht kam. Ich sehe noch genau vor mir, wie er seine Decke beiseite schob. Er stützte sich mit beiden Armen auf die Sessellehnen, atmete tief durch und schob mit gewaltiger Anstrengung seinen Körper in die Höhe. Wenn er dann so dastand, gebeugt und mit zitternden Knien überkam mich immer eine große Angst, dass er fallen könnte. Ich lief zu ihm und er nahm meine Hand, ohne das ich ihm wirklich hätte helfen können. Wahrscheinlich war dies der Grund, warum ich die einzige war, die ihn auf seinem Weg durch den Raum begleiten durfte, jede andere Hilfe lehnte er lautstark ab. Er zwang seinen Beinen einen Schritt nach dem anderen ab. Einen und noch einen und noch einen, dann hatte er den Schrank erreicht. Seine Hände tasteten nach dem alten, grünen Wecker, nahmen ihn und drehten an der Schraube. Dann wurde er genau an seinen alten Platz zurück gestellt. Anschließend begann der lange Rückweg. Wenn er seinen Sessel erreicht und sich erschöpft niedergelassen hatte brauchte er immer ein paar Minuten um sich zu erholen. Das tägliche Weckeraufziehen ließ er sich keinesfalls nehmen. Eine kleine Weile später kam dann auch meistens seine Unzufriedenheit zum Ausbruch. Er jagte Oma hin und her, hol dies – hol das, tu jenes und mach doch mal schneller. „Ich kann ja nicht mehr!“ Einmal habe ich ihn sogar dabei beobachtet wie er die Tageszeitung unter seiner Decke verschwinden ließ und Oma zum Teufel wünschte, weil sie das Blatt nicht finden konnte.
Für mich hatte seine Behinderung allerdings den Vorteil, dass er immer für mich da war. Ich weiß noch genau wie er immer angeschaut hat. Es lag so viel Wärme in diesem Blick. Lange Zeit hatte ich gar nicht gemerkt, dass er ein Glasauge besaß. Der Querschläger einer Kugel hatte ihn in Frankreich erwischt. Er sprach von Heimatschuss und wie viel Glück er gehabt hätte.
Manchmal zwinkerte sein gesundes Auge mir zu. Das war für mich das Zeichen zu ihm zu gehen und mich an ihn zu schmiegen. Ich weiß nicht wie viele Stunden ich auf seinen Knien zugebracht habe, aber bestimmt sehr, sehr viele. Er nahm mich in die Arme und streichelte meinen Kopf, beugte sich zu mir und ich spürte seinen Atem, der immer ein wenig nach Medizin roch, in meinem Nacken. Dann hörte ich seine warme dunkle Stimme in meinem Ohr, die sagte: „Mein kleines Mädchen“.
An manchen Tagen, wenn ich seine Arznei holte und zu ihm brachte, fing er an mir die Flaschen zu erklären. Welche für das Herz waren und welche für das Blut. Er erklärte mir wie viel Tropfen er wovon nehmen musste und begann damit mir die Buchstaben auf der Packung zu erklären. Mit der ihm eigenen Geduld hatte er mir bald das Lesen beigebracht. Erst die Medikamente, dann die Kaffeepackung und letztlich die Zeitung. Er lehrte mich die Zeit vom alten Wecker zu lesen und erzählte Geschichten aus seinen jungen Jahren als er noch ein toller Mann gewesen war. Er sprach auch vom Krieg und wie schrecklich er gewesen war.
Und immer wieder kam die Sache mit dem „Heimatschuss“. Dabei zeigte er mit dem Zeige- und Mittelfinger der linken Hand auf sein Glasauge und sagte mit einer Mischung aus Stolz und Zorn in der Stimme: „Heimatschuss, diese Kugel hat für mich den Krieg beendet!“ Er schilderte lange und ausführlich, mit wohlbedachten Pausen, wie die Kugel ihn erwischt hatte. Das ein Dumdum-Geschoss beim Eintritt in den Körper nur ein ganz kleines Loch machte und beim Austritt einen riesigen Krater hinterließ. Zum Glück war der Querschläger nicht mehr aufgeplatzt. Er war ins linke Auge eingedrungen und drei Monate später aus dem Oberkiefer entfernt worden. Inzwischen war sie durch den Kopf gewandert und Omas Meinung dazu war, dass sie auch noch andere Schäden hinterlassen hatte.
In jenem Winter also, brachte mich Vater wieder in das kleine Dorf zu meinen Großeltern. Es ging schon auf Weihnachten zu. Als wir ankamen knisterten Tannenzweige im Ofen und verströmten einen intensiven Geruch. Heimelige Wärme schlug uns entgegen als Oma uns die Tür öffnete und Vater und mich einließ. Nachdem ich die unangenehme Begrüßung hinter mir hatte, unangenehm deshalb, weil Oma die Angewohnheit hatte mich sehr heftig an sich zu drücken und mit vielen, feuchten Küssen zu bedenken, konnte ich endlich ins Wohnzimmer. Da saß er dann in seinem alten, schon ziemlich verschlissenen, Sessel, von dem er sich nicht trennen konnte, die karierte Decke über den Knien und mit ausgestreckten Armen. Sofort kletterte ich auf seinen Schoß und rieb mein Gesicht an seinem kratzigen Kinn und ich war sehr glücklich.
In diesem Winter war anfangs alles wie gewohnt. Die Zeit verging, wir jedes Mal in den Ferien, viel zu schnell. Es schneite ohne Unterbrechung und die nahen Wälder sahen weihnachtlich und romantisch aus. Solange es hell war, tobte ich mit dem Dorfkindern draußen rum, baute Schneemänner und lieferte mir so manche Schneeballschlacht. Es waren glückliche, unbeschwerte Tage. Die Abende verbrachte ich, wie immer, auf Großvaters Schoß und lauschte seinen Geschichten.
Es war der 12.Dezember 1963, ein Tag dessen Abend ich nie vergessen werde. Opa war zu müde um aus der alten Zeit zu berichten. Das war noch nie vorgekommen und ich wusste nicht was es zu bedeuten hatte. Ich musste ins Bett ohne noch eine Geschichte zu hören und spürte die Unruhe die Oma offensichtlich befallen hatte. Ich konnte nicht einschlafen und stand immer wieder auf um an der Wand zu horchen was denn wohl los sei. Schließlich schlief ich doch ein um mitten in der Nacht erschreckt wach zu werden. Stimmen drangen zu mir ins Zimmer und ich höre Vaters alten Opel vor der Tür anhalten. Eine große Angst und Ungewissheit überkam mich, instinktiv spürte ich dass etwas schlimmes geschah. Ich wollte hinaus und nachsehen was passiert war, aber ich kam nicht weit. Kaum hatte ich die Tür geöffnet da kam auch schon mein Onkel Willi, der mittlerweile auch anwesend war, nahm mich in den Arm und brachte mich zurück ins Zimmer. Er erzähle mir, dass es Großvater nicht gut ging und wir alle schön leise sein müssten um ihn nicht zu stören. Er verstand nicht, dass ich zu ihm wollte und versuchte mich zu beruhigen.
Eine Ewigkeit später kam Großmutter mit Tränen in den Augen, nahm mich bei der Hand und sagte: „ Komm mit Kleines, Opa will Aufwiedersehen sagen“. Wir betraten das Schlafzimmer und er saß auf beiden Armen gestützt in seinem Bett und schaute suchend in die Runde. Sämtliche nahe Verwandte waren inzwischen erschienen und auch der Pastor und unser Hausarzt waren anwesend. Die Luft war stickig, Tante Inge schluchzte in ihr Taschentuch und leierte leise den Rosenkranz runter. Schweißperlen rannen über Großvaters Gesicht und sein Atem ging schwer und stoßweise. Seine Auge wanderte noch einmal von einem zum anderen. Als sein Blick auf mich fiel, hielt er inne. Er schaute mich ganz genau an, als ob er sich mein Gesicht fest einprägen wollte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dann sank er nach hinten und war tot.
Ich habe damals nichts verstanden. Später hat man mir erklärt, dass man mir diesen Abschied gerne erspart hätte, aber Großvater hatte Stunde um Stunde gekämpft, hatte sich immer wieder aufgerichtet und nach mir gesucht, seine Stimme hatte längst versagt aber sein Wille war ungebrochen. Er war nicht bereit gewesen zu gehen, bevor er mich noch einmal gesehen hatte.
Die Weihnachtsferien verbrachte ich immer bei meinen Großeltern. Seit langer Zeit hatte ich mich darauf gefreut, wie jedes Jahr. Bei Oma und Opa war es immer so gemütlich. Opa war in jungen Jahren Desinfektor bei der Stadt gewesen, was er immer noch gerne voller Stolz erzählte. Als er aus dem Krieg kam, war er so zerschossen, dass er nicht mehr arbeiten konnte. Oma musste ihn jahrelang pflegen, und er war sicher kein geduldiger Patient.
Großvater konnte ziemlich ungerecht werden, wenn er wieder einmal mit seinem Schicksal nicht zu Recht kam. Ich sehe noch genau vor mir, wie er seine Decke beiseite schob. Er stützte sich mit beiden Armen auf die Sessellehnen, atmete tief durch und schob mit gewaltiger Anstrengung seinen Körper in die Höhe. Wenn er dann so dastand, gebeugt und mit zitternden Knien überkam mich immer eine große Angst, dass er fallen könnte. Ich lief zu ihm und er nahm meine Hand, ohne das ich ihm wirklich hätte helfen können. Wahrscheinlich war dies der Grund, warum ich die einzige war, die ihn auf seinem Weg durch den Raum begleiten durfte, jede andere Hilfe lehnte er lautstark ab. Er zwang seinen Beinen einen Schritt nach dem anderen ab. Einen und noch einen und noch einen, dann hatte er den Schrank erreicht. Seine Hände tasteten nach dem alten, grünen Wecker, nahmen ihn und drehten an der Schraube. Dann wurde er genau an seinen alten Platz zurück gestellt. Anschließend begann der lange Rückweg. Wenn er seinen Sessel erreicht und sich erschöpft niedergelassen hatte brauchte er immer ein paar Minuten um sich zu erholen. Das tägliche Weckeraufziehen ließ er sich keinesfalls nehmen. Eine kleine Weile später kam dann auch meistens seine Unzufriedenheit zum Ausbruch. Er jagte Oma hin und her, hol dies – hol das, tu jenes und mach doch mal schneller. „Ich kann ja nicht mehr!“ Einmal habe ich ihn sogar dabei beobachtet wie er die Tageszeitung unter seiner Decke verschwinden ließ und Oma zum Teufel wünschte, weil sie das Blatt nicht finden konnte.
Für mich hatte seine Behinderung allerdings den Vorteil, dass er immer für mich da war. Ich weiß noch genau wie er immer angeschaut hat. Es lag so viel Wärme in diesem Blick. Lange Zeit hatte ich gar nicht gemerkt, dass er ein Glasauge besaß. Der Querschläger einer Kugel hatte ihn in Frankreich erwischt. Er sprach von Heimatschuss und wie viel Glück er gehabt hätte.
Manchmal zwinkerte sein gesundes Auge mir zu. Das war für mich das Zeichen zu ihm zu gehen und mich an ihn zu schmiegen. Ich weiß nicht wie viele Stunden ich auf seinen Knien zugebracht habe, aber bestimmt sehr, sehr viele. Er nahm mich in die Arme und streichelte meinen Kopf, beugte sich zu mir und ich spürte seinen Atem, der immer ein wenig nach Medizin roch, in meinem Nacken. Dann hörte ich seine warme dunkle Stimme in meinem Ohr, die sagte: „Mein kleines Mädchen“.
An manchen Tagen, wenn ich seine Arznei holte und zu ihm brachte, fing er an mir die Flaschen zu erklären. Welche für das Herz waren und welche für das Blut. Er erklärte mir wie viel Tropfen er wovon nehmen musste und begann damit mir die Buchstaben auf der Packung zu erklären. Mit der ihm eigenen Geduld hatte er mir bald das Lesen beigebracht. Erst die Medikamente, dann die Kaffeepackung und letztlich die Zeitung. Er lehrte mich die Zeit vom alten Wecker zu lesen und erzählte Geschichten aus seinen jungen Jahren als er noch ein toller Mann gewesen war. Er sprach auch vom Krieg und wie schrecklich er gewesen war.
Und immer wieder kam die Sache mit dem „Heimatschuss“. Dabei zeigte er mit dem Zeige- und Mittelfinger der linken Hand auf sein Glasauge und sagte mit einer Mischung aus Stolz und Zorn in der Stimme: „Heimatschuss, diese Kugel hat für mich den Krieg beendet!“ Er schilderte lange und ausführlich, mit wohlbedachten Pausen, wie die Kugel ihn erwischt hatte. Das ein Dumdum-Geschoss beim Eintritt in den Körper nur ein ganz kleines Loch machte und beim Austritt einen riesigen Krater hinterließ. Zum Glück war der Querschläger nicht mehr aufgeplatzt. Er war ins linke Auge eingedrungen und drei Monate später aus dem Oberkiefer entfernt worden. Inzwischen war sie durch den Kopf gewandert und Omas Meinung dazu war, dass sie auch noch andere Schäden hinterlassen hatte.
In jenem Winter also, brachte mich Vater wieder in das kleine Dorf zu meinen Großeltern. Es ging schon auf Weihnachten zu. Als wir ankamen knisterten Tannenzweige im Ofen und verströmten einen intensiven Geruch. Heimelige Wärme schlug uns entgegen als Oma uns die Tür öffnete und Vater und mich einließ. Nachdem ich die unangenehme Begrüßung hinter mir hatte, unangenehm deshalb, weil Oma die Angewohnheit hatte mich sehr heftig an sich zu drücken und mit vielen, feuchten Küssen zu bedenken, konnte ich endlich ins Wohnzimmer. Da saß er dann in seinem alten, schon ziemlich verschlissenen, Sessel, von dem er sich nicht trennen konnte, die karierte Decke über den Knien und mit ausgestreckten Armen. Sofort kletterte ich auf seinen Schoß und rieb mein Gesicht an seinem kratzigen Kinn und ich war sehr glücklich.
In diesem Winter war anfangs alles wie gewohnt. Die Zeit verging, wir jedes Mal in den Ferien, viel zu schnell. Es schneite ohne Unterbrechung und die nahen Wälder sahen weihnachtlich und romantisch aus. Solange es hell war, tobte ich mit dem Dorfkindern draußen rum, baute Schneemänner und lieferte mir so manche Schneeballschlacht. Es waren glückliche, unbeschwerte Tage. Die Abende verbrachte ich, wie immer, auf Großvaters Schoß und lauschte seinen Geschichten.
Es war der 12.Dezember 1963, ein Tag dessen Abend ich nie vergessen werde. Opa war zu müde um aus der alten Zeit zu berichten. Das war noch nie vorgekommen und ich wusste nicht was es zu bedeuten hatte. Ich musste ins Bett ohne noch eine Geschichte zu hören und spürte die Unruhe die Oma offensichtlich befallen hatte. Ich konnte nicht einschlafen und stand immer wieder auf um an der Wand zu horchen was denn wohl los sei. Schließlich schlief ich doch ein um mitten in der Nacht erschreckt wach zu werden. Stimmen drangen zu mir ins Zimmer und ich höre Vaters alten Opel vor der Tür anhalten. Eine große Angst und Ungewissheit überkam mich, instinktiv spürte ich dass etwas schlimmes geschah. Ich wollte hinaus und nachsehen was passiert war, aber ich kam nicht weit. Kaum hatte ich die Tür geöffnet da kam auch schon mein Onkel Willi, der mittlerweile auch anwesend war, nahm mich in den Arm und brachte mich zurück ins Zimmer. Er erzähle mir, dass es Großvater nicht gut ging und wir alle schön leise sein müssten um ihn nicht zu stören. Er verstand nicht, dass ich zu ihm wollte und versuchte mich zu beruhigen.
Eine Ewigkeit später kam Großmutter mit Tränen in den Augen, nahm mich bei der Hand und sagte: „ Komm mit Kleines, Opa will Aufwiedersehen sagen“. Wir betraten das Schlafzimmer und er saß auf beiden Armen gestützt in seinem Bett und schaute suchend in die Runde. Sämtliche nahe Verwandte waren inzwischen erschienen und auch der Pastor und unser Hausarzt waren anwesend. Die Luft war stickig, Tante Inge schluchzte in ihr Taschentuch und leierte leise den Rosenkranz runter. Schweißperlen rannen über Großvaters Gesicht und sein Atem ging schwer und stoßweise. Seine Auge wanderte noch einmal von einem zum anderen. Als sein Blick auf mich fiel, hielt er inne. Er schaute mich ganz genau an, als ob er sich mein Gesicht fest einprägen wollte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dann sank er nach hinten und war tot.
Ich habe damals nichts verstanden. Später hat man mir erklärt, dass man mir diesen Abschied gerne erspart hätte, aber Großvater hatte Stunde um Stunde gekämpft, hatte sich immer wieder aufgerichtet und nach mir gesucht, seine Stimme hatte längst versagt aber sein Wille war ungebrochen. Er war nicht bereit gewesen zu gehen, bevor er mich noch einmal gesehen hatte.