Großwildjagd

Breimann

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Großwildjagd
„Nur noch diese paar Meter! Hilfe! Allah hilf mir!“
Die Gedanken des schwarzen Jagdhelfers rasten. Er hörte den schweren Atem seines Verfolgers, glaubte ihn als heißen Hauch in seinem Nacken zu spüren. Noch drei Schritte! Seine Augen nahmen Maß, prüften die Dicke des Astes an dem einsamen Baum, der in der Gluthitze der Savanne hoch aufwuchs. Er wusste, dass die Löwin schneller lief als er, dass dieser Baum seine einzige Chance war.
Er machte einen verzweifelten Satz, fasste den schorfigen Ast, zog sich mit zittrigen Armen hoch, warf die Beine in Panik in die Höhe, umklammerte mit ihnen den Ast. Würde er es schaffen? Oder konnte der Jäger, der hinter den Büschen lag, den Löwen mit sicherem Schuss erledigen?
Es klingelte schrill, anhaltend.
„Verflucht!“, stöhnte Ingo und nahm die Hände widerwillig von der Tastatur. Zwangsläufig musste er den armen Schwarzen an diesem Ast hängen lassen, musste seine endgültige Rettung – oder seinen grausigen Tod - verschieben.
„Immer dann, wenn ich die besten Ideen habe, kommt was dazwischen“, maulte er und stakste mit steifen Beinen zur Tür.
„Ach sie!“
Er legte sein bestes Lächeln auf und strahlte die junge Frau an, deren Finger noch auf dem Klingelkopf lag.
„Entschuldigen sie, ich hoffe, ich störe nicht; ich wollte ihnen nur die letzte Geschichte zurückgeben.“
„Sie stören nie, liebe Ina. Kommen sie! Kommen sie! Setzen sie sich! Bitte!“
Er eilte voraus, fegte beiläufig Kuchenkrümel vom Wohnzimmertisch und zeigte auf den wuchtigen Sessel. Ina kam langsam heran, hielt die Papiere ausgestreckt - wie einen Passierschein - vor sich.
„Ich hab aber nicht viel Zeit. Ich muss in den Garten. Sie wissen? Die Bewertung durch die Gartenkommission ist am Montag!“
„Ach, ja! Nehmen sie wieder Teil an der Aktion Unser Dorf soll schöner werden?“
„Natürlich, wie in jedem Jahr! Ich habe diesmal wahre Kostbarkeiten angepflanzt! Sie müssen es sich ansehen. Ich habe komponiert – mit Noten aus Blumen und Blüten! Meine Pflanzen ergänzen sich, sie sind wie Tonfolgen von Mozart!“, flüsterte sie mit einem verschämten Augenaufschlag.
„Oh! Wunderbar! Ich bewundere sie, liebe Ina. Sie werden bestimmt den ersten Preis gewinnen.“
„Ich bin auch mächtig stolz! Oh mein Gott! Mein Albizia julibrissin! Er braucht Wasser. Ich muss los!“ „Schade! Soll ich uns nicht noch etwas Tee machen?“
„Nein, nein! Ich will ihnen nur diese wunderbare, spannende Geschichte zurückgeben. Sie hat mir gut gefallen. Was sie alles über Löwen wissen! Meine Güte! Woher haben sie das alles? Waren sie wirklich noch nie in Afrika?“
„Leider nicht!“, sagte er errötend und setzte sich auf ihre Sessellehne. „Vielleicht können wir ja mal gemeinsam unseren Urlaub dort verbringen.“
„Ach sie! Sie scherzen, Herr Burg. Dafür reicht mein Geld nicht. Aber sie! Sie müssen da hin. Sie wären doch der ideale Jäger in diesen riesigen Reservaten der Löwen und Elefanten.“
„Nun, ich weiß schon, wie man mit diesen mächtigen Tieren - den Königen der Tierwelt, wie wir Fachleute sagen - umgehen muss. Mit der richtigen Taktik und etwas Mut bändige ich ihnen jeden Löwen in freier Wildbahn!“
Sie seufzte bewundernd und legte die Blätter auf den Tisch.
„Das war die vierundzwanzigste Geschichte; ich liebe ihre Erzählungen, wie sie wissen!“
Natürlich wusste er! Er wusste auch, dass sie jede Woche auf seine Geschichte wartete; es gab immer ein Kännchen Tee bei der Besprechung des Inhalts. Er schrieb ja schließlich nur für sie!
„Wann hab ich mich in dieses Mädchen verliebt?“, dachte er und strahlte sie an.
„Wissen sie noch, wie wir uns kennen gelernt haben? Ich habe im Zoo Studien für meine Erzählungen gemacht und sie haben ihre kleine Nichte ausgeführt.“
Sie errötete leicht, nickte, stand auf und strich sich den Rock glatt. „Ja, ja. Da wohnt man zehn Jahre in der selben Straße und sieht sich nie. Die Löwen haben uns miteinander bekannt gemacht.“
„Ein gutes Zeichen – meinen sie nicht auch, liebe Ina? Sie sind doch im Tierkreiszeichen des Löwen geboren, nicht wahr?“
„Das haben sie nicht vergessen, lieber Herr Burg?“
„Natürlich nicht!“, sagte er mit belegter Stimme, gab ihr die Hand und brachte sie zur Tür. Wie gerne hätte er ihr gesagt, dass er in sie verliebt war, dass er Tag und Nacht von ihr träumte. Aber sie kannten sich doch erst seit einem Jahr! Er musste warten – seine Zeit würde kommen.

Der arme schwarze Jagdhelfer hing immer noch am Ast des rettenden Baumes, der Löwe war noch nicht abgesprungen, der Jäger noch unentschlossen. Ingo überdachte gerade die Möglichkeiten, die sich anboten, als es erneut klingelte; stürmischer, schriller, anhaltender als zuvor. Es klang wie ein Alarm in höchster Not! Er sprang auf, stieß den Stuhl heftig zurück, rannte zur Tür.
„Ach - sie sind´s!“ Sie war es tatsächlich, und er tauschte schnell das empörte Stirnrunzeln gegen einladendes Lächeln. Ina sah völlig aufgelöst aus, die Haare hingen im hektisch roten Gesicht.
„Schnell! Kommen sie! Sie müssen mir helfen, Herr Burg! Etwas Entsetzliches ist passiert! Schnell!“, rief sie schrill, fasste seine Hand und zog ihn, der nur leicht widerstrebte, mit sich, quer über die Straße, durch die offenstehende Haustür, in den dunklen Hauseingang. Hier wurde sein Widerstand erheblich größer, er blieb einfach stehen.
„Halt! Liebes Fräulein Ina. Jetzt sagen sie mir - um Himmelwillen - was passiert ist. Wo soll ich ihnen helfen?“
„Da! Gehen sie rein! Sehen sie! Da ist er – und er legt sich auf meinen Cassia – meinem einzigartigen Kerzenstrauch. Oh, mein Gott! Er dreht und wälzt sich.“
Durch die deckenhohe Glastür der Terrasse erblickte Ingo einen riesigen braunen Körper, der sich wälzte und rollte. Er ging näher heran, starr vor Staunen und Verwunderung.
„Ein panthera leo, ein echter afrikanischer Löwe! Ein wunderbares Exemplar! Mein Gott! Sehen sie nur seine lange Mähne – und seinen riesigen Kopf!“
„Wo mag er herkommen?“
„Aus dem Zoo, ausgerissen, denke ich mal. Da muss er wieder hin!“
„Ach ja? Und inzwischen kratzt er in meinen Beeten, schiebt seinen Schädel durch meine Fuchsien, zerwühlt meinen herrlichen Garten! - Er frisst meine herrlichen Petunien!“
„Löwen sind keine Pflanzenfresser!“
„Ach? Und was macht er da?“
„Er schnuppert, prüft, ob schon ein anderer Löwe hier war.“
„Was? Spinnt der? Das ist der erste Löwe in meinem gepflegten Garten – sagen sie ihm das! Und er soll verschwinden, sofort!“
„Sehen sie? Jetzt juckt er sich das Fell an ihrem Bäumchen. Wahrscheinlich hat er Tausende Flöhe. Das ist natürlich bei diesen wilden Tieren!“
„Wilde Tiere? Natürlich? Mein herrlicher Garten! Und Flöhe? Die springen auf meine Blumen! Mein Gott! Was wird die Kommission von mir denken!“
„Tierflöhe gehen nicht auf Pflanzen, sie saugen Blut.“
„Igittigitt! Oh mein Gott, er zerstört alles, was ich komponiert habe! Werfen sie ihn raus! Sie sind doch der Großwildjäger!“
„Also, liebes Fräulein Ina! – Ich kann doch nicht einfach da raus gehen und husch, husch machen! Das ist doch keine Hauskatze!“
„Und in Afrika? Wie haben sie das in der – warten sie mal – in der siebzehnten Geschichte gemacht? Mit bloßen Händen hat ihr Großwildjäger Kraus mit der Katze gekämpft!“
„Hier ist nicht Afrika!“
„Ach nein? Was ist denn hier anders? Wie wollen sie ihn dann verjagen? Soll ich mein Küchenmesser holen?“
„Nein, nein! Lieber nicht. Ein Gewehr haben sie nicht – zufällig?“
„Was? Ein Gewehr? Sind sie wahnsinnig? Mir kommt keine Waffe ins Haus!“
„Wissen sie was? Wir machen die Terrassentür ein Stück auf, klatschen beide kräftig in die Hände und brüllen ganz laut.“
„Meinen sie, das würde ihn verjagen? Macht man das in Afrika so?“, fragte Ina zweifelnd.
Ingo nickte verwirrt, öffnete mit schweißnassen Händen die knarrende Tür einen Spalt weit und linste dabei unaufhörlich zu dem wuchtigen Tier, das inzwischen aufgestanden war und an dem herrlich beschnittenen Lorbeerbaum roch. Er hatte keinen Blick übrig für Ingo und Ina.
„Jetzt!“, rief Ingo und sie klatschten heftig, riefen „Buh!“, „Huh!“ und auch „Ksch! – Ksch!““.
Der Löwe hockte sich neben den Lorbeerbaum, stierte zur Terrassentür, seine Augen wurden vor Anstrengung riesengroß.
„Hilfe! Er scheißt!“, schrie Ina mit sich überschlagender Stimme. Und tatsächlich kringelte sich auf dem Boden ein riesiger Haufen, der kleine Wölkchen abstieß; genau auf den Fleißigen Lieschen, die den fein geschnittenen Baum umrandeten, dehnte er sich mächtig aus.
„Ich hole die Feuerwehr, den Katastrophenschutz!“, rief Ingo und griff zum Telefonhörer.
„Halt! Auf keinen Fall! Wissen sie, wie die in meinen Blumen rumtrampeln werden? Können sie das verantworten? - Sie, lieber Herr Burg, sie müssen ihn verjagen!“
„Oh nein! Wo denken sie hin? Das Tier ist gefährlich! Lebensgefährlich!“
„Und meine Blumen? Meine Büsche und Bäumchen? Sehen sie nur! Er wälzt sich schon wieder!“
„Ich habe eine Idee! Haben sie ein Stück Fleisch im Haus?“
„Fleisch? Wollen sie das Untier auch noch belohnen?“
„Haben sie, oder haben sie nicht?“
„Im Kühlschrank. Rindergulasch für morgen. Morgen ist Sonntag!“
„Gut! Das ist gut! Her damit, ich werde ihn aus ihrem Garten verjagen.“
Sie rannte in die Küche, und er hörte ihre unterdrückten Flüche. Widerstrebend hielt sie ihm die Papiertüte hin, schaute dabei empört auf die große Katze, die sich jetzt zur Terrasse hin bewegte. Ina zitterte und ließ vor Schreck die Tüte fallen.
„Er kommt! Er will ins Haus! Machen sie schnell die Tür zu!“
Hinter der Glastür standen sie sich gegenüber; der Löwe drehte den Kopf, versuchte durch die spiegelnde Scheibe zu blicken, erkannte einen fremden Löwen, den er mit mächtigem Brüllen in die Flucht schlagen wollte. Ingo und Ina wichen entsetzt, Schritt für Schritt, zurück.
„Was jetzt? Was machen wir, wenn er an die Scheibe springt?“, fragte Ina mit zittriger Stimme.
„Wir rennen raus aus dem Haus und rufen um Hilfe!“
„Und meine schöne Wohnung? Nein! Jetzt ist Schluss – endgültig!“
Ina hob die Gulaschtüte auf und rannte wortlos aus dem Haus. Ingo blieb wie festgewachsen stehen, starrte den Löwen an, der am Türrahmen roch. Dann erblickte Ingo im Hintergrund - halb verdeckt durch die hohe Hecke - Ina. Sie war ums Haus herumgelaufen, stand auf dem Gartenweg, direkt neben der offenen Gartenpforte, durch die der Löwe wohl hereinspaziert war. In der linken Hand schwenkte sie die Gulaschtüte, in der anderen hielt sie ein Fleischstück und rief dem Löwen etwas zu.
Der Löwe drehte schläfrig den Kopf, dann den ganzen Körper. Er starrte Ina an, überlegte, reckte die Nase hoch in die Luft, schnupperte und trabte dann langsam auf seine Beute zu. Ina wich zurück, zog Stück für Stück saftiges Gulasch aus der Tüte und warf es, soweit sie konnte, auf den Weg zwischen den Gärten. Dann schleuderte sie die Tüte mit dem Rest weit von sich. Mit einem gellenden Schrei verschwand sie hinter der Hecke, als der Löwe immer schneller auf die Gartenpforte zulief.
„Das war knapp!“, schnaufte Ina einen Moment später atemlos, und Ingo, der immer noch starr dastand, zuckte zusammen.
Ina öffnete die Terrassentür, als der Löwenschwanz noch halb im Garten hing, und als er um die Ecke wegwischte, rannte sie raus, warf die Gartentür zu und den Riegel knallend ins Schloss.
Dann stand sie lange zitternd vor ihren zertrampelten Blumenbeeten, strich tröstend dem Maulbeerbaum über die Blätter und rümpfte angesichts des stinkigen Haufens die Nase. Ingo zögerte lange, bevor er vorsichtig auf die Terrasse trat.
„Soll ich ihnen helfen, Ina?“, rief er mit dünner Stimme.
„Kann man mit Löwenscheiße düngen?“, fragte sie tonlos und starrte den qualmenden Haufen an.
„Ich weiß nicht recht, davon verstehe ich nichts. Kann ich sonst noch was für sie tun, liebe Ina?“
„Oh ja! - Verschwinden sie! Meinetwegen bis nach Afrika! Da können sie ja mal üben, wie man Löwen jagt! Hier gibt´s nichts mehr für sie zu tun. Und übrigens – ihre nächste Löwengeschichte können sie an den Kindergarten schicken. Auf Wiedersehen, Herr Burg!“
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

sehr amüsant. ja, so ist das, wenn man auf die guten alten liebesgedichte verzichtet und sich auf andere weise interessant machen will . . . lg
 

Breimann

Mitglied
liebenswert

solches "menscheln" isz doch liebenswert, oder? Verliebt sein, imponieren wollen, angeben, versagen, reinfallen, Niederlagen erleiden...
Jedenfalls hat dieser Großwildjäger ein Ziel für sein "Geschreibsel" gehabt; wer von uns hat das schon?
Liebe grüße
eduard
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
soso,

ein ziel für sein geschreibsel. hat eigentlich jeder, denke ich. mein ziel is der, der s liest. hab keine spezielle adresse. und wenn, dann hoffe ich auf ein happy end. möchte nie so kläglich enden wie dieser großwildjäger. jetzt sieht mir deine geschichte aus wie ein versteckspiel, wo einer die tür hinter sich abschließt, um nicht gefunden zu werden. alles in allem aber bleibt die geschichte amüsant und lesenswert. ganz lieb grüßt
 

Breimann

Mitglied
wie oft hab ich gelitten,

wenn im Kino eine Geschichte "böse" endete! Warum musste Winnetous Schwester sterben? Und doch muss ich selber manchmal, meist in einer Satire wie hier, einen Ausgang erfinden, der nicht "happy" ist!
Danke für deine liebe Kritik,
liebe flammarion
 



 
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