Grünkohlfee on speed

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Tagmond

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Im Bücherladen herrscht Weihnachtsstimmung...oder auch: der Merchandising- Apparat des Kulturkaufhauses „Dussmann“ hat volle Arbeit geleistet. Man sieht nur noch grün-rot-gold, man riecht nur noch Plastik-Tannennadeln und die regennassen Mäntel der Umstehenden. Die trockene Luft transportiert spärlich die Geräusche der aufgebrachten Medizinstudenten, die auf der Straße Streik-Parolen grölen und versuchen, eine lange Menschenkette die Friedrichstraße herunter zu bilden. Alle tragen Kittel und halbwegs lustige Plakate in den Händen. Im Kaufhaus wird Laura von Tisch zu Tisch geschoben. Ihr ist viel zu warm, sie hat Durst und ist nicht wirklich guten Mutes, hier fündig zu werden. Auf dem Tisch mit der bunten und kitschigen Plakette „ ...es weihnachtet sehr“ liegt neben Dieter Bohlen Paolo Coelho, neben Harry Potter der Dalai Lama, der ein besseres Leben durch Meditation und Rückkehr zur Natur verspricht. „Uniforme Vielfalt“ denkt sich Laura verächtlich. Sie hatte so gehofft, hier ein passendes Weihnachtsgeschenk für ihren Vater zu finden. Ihr Blick fällt auf „ Loriot: Das Frühstücksei“ und damit hat sich die Sache. Sie kann sich noch zu gut an die gemeinsamen Momente mit ihrem Vater erinnern, in denen sie über Frau Müller Lüdenscheidt oder den sprechenden Hund ( „Otto Kohl fühlt sich wohl am Pol ohne Atomstrom“) unter Bauchkrämpfen Tränen vergossen hat und plötzlich, bei dem Gedanken an die bevorstehende Familienzeit, wird ihr wie aus dem Nichts ganz weihnachtlich-wohlig ums Herz. Wie aus dem Nichts?? Ganz leise und sanft schwirrt Laura etwas durch das Haar und summt und summt. Wohlig-zarte Töne erklingen direkt an ihrem Ohr und kitzeln ihr Trommelfell. Laura schüttelt sich heftig. „Scheiß Weihnachten. Jetzt fang ich schon an, zu halluzinieren. Raus aus dem Laden, hier werd ich ja noch bescheuert“ sagt sie sich, zahlt im Fluge das schwere Buch und trägt es vor sich her zur Bahn. Vorbei an einer endlos langen Kette weißer Mäntel, Plakaten mit „ Geist ist geil“ oder auch „ Wer versorgt die Kinder von morgen?“.

„Endlich wieder Normalität. Diese ganze Spekulatius- Atmosphäre kann einen ja ganz verrückt machen.“ In der Bahn das altvertraute Bild. Rotnäsige Alkoholiker neben pummeligen Türkinnen mit geblümtem Kopftuch. Daneben frühreife Dreizehnjährige, die sich kichernd über das vermeintliche Sex-Appeal von dem und dem Popstar unterhalten und nebenbei mit pink lackierten Fingernägeln eine Sms an ihren Liebsten schreiben. Cool lehnt daneben ein Ende Zwanziger mit langen Haaren und Gitarre auf dem Rücken an der Tür. Auch auf seinem Leder- Rucksack ein Aufkleber „Hu-Streik: Wir sind keine Senats-Sparschweine“. Draußen rauschen die bröckelnden Fassaden der alten Museumsgebäude vorbei und hunderte von Bauarbeitern hangeln auf Gerüsten durch den Regen und schreien sich unverständliches Zeug zu.
„Hackesche Höfe“. Der Typ mit den langen Haaren holt seine Gitarre hervor, guckt nachdenklich in die Runde und klampft ein paar Akkorde zusammen, die verdächtig nach einer modernen Version von „Ihr Kinderlein kommet“ klingen.
„Dem geb ich kein Geld, hab ja selber keins, spiel doch zu Hause in deiner Kiffer-Küche!“ flitzt es der entnervten Laura durch den Kopf als sie bemerkt, dass sich um sie herum die Gesichter entspannen, Beine ausgestreckt werden, sich Wangen röten. Und da, ganz unvermittelt, sieht sie etwas winzig Kleines in ihrem Augenwinkel fliegen, denkt, es ist eine S-Bahn-Fliege, doch dann hört sie wieder dieses zarte Summen und beruhigt sich. Sie atmet tief durch und lehnt sich zurück. Doch jetzt - Alexanderplatz- sie muss raus. Ihr bläst der kalte Wind ins Gesicht und sie runzelt die Stirn. „Weihnachtsparanoia...jetzt werde ich auch noch von Feen verfolgt oder so was.“
Auf der Rolltreppe steht ein enorm dicker Mensch und sie muss wohl oder übel hinter ihm stehen bleiben. Sie grübelt. In ein paar Wochen fährt sie nach Hause, sie hat noch kein Geschenk, geschweige denn Ideen. Vor ein paar Monaten, so im August, da hatte sie für jeden einen Gedanken. Sie kann sich noch genau erinnern. Im Bikini saß sie auf ihrem dreckigen Handtuch, wehrte die ätzenden Mücken ab und der Schweiß rann wie in Bächen ihre Stirn hinunter. Da kam er ihr plötzlich, dieser zur späteren Jahreszeit völlig unnachvollziehbare Gedanke „ Wie schön der Winter doch ist. Mützen tragen, Kakao trinken, Fernsehen, lesen, gemütliches Miteinander...“ und nach der nächsten Runde im See kamen dann auch die genialen Einfälle, mit denen man ja die Familie und die Lieben unter dem Baume beglücken könne. Doch dann hatte sie sich wahrscheinlich auf die andere Seite gedreht und in ihrem Sommer-Roman weitergelesen. Es war ja alles noch soweit hin.

„Hätte ich da doch nur mein verdammtes Notizbuch mitgehabt“ sagt sie sich jetzt und verlässt den U-Bahnschacht. Der Alexanderplatz, umgeben von einem „Galeria Kaufhof“ im alten und gar nicht ehrwürdigen Stile, einem „Saturn“-Hochhaus und ein paar gelangweilten Punks, ist bestimmt einer der hässlichsten Orte der Stadt. Um diese Zeit jedoch hat man sogar hier versucht „ne weehnachtlische Stimmung rinzubringen, wa?“ und so gammeln ein paar kackbraune Bretterbuden im Regen vor sich hin. Laura schlendert so allein mit ihren negativen Gedanken an der künstlich angelegten Eislaufbahn vorbei und guckt nur flüchtig auf die paar Prolls, die zur Musik der Russendisko auf ihren Kufen das Tanzbein zu schwingen versuchen. Die Stände bieten sämtlichen Indianerschmuck, die CD vom Traumzauberbaum, Mond-Mobiles aus Holz ( angeblich handgemacht), Honigwachskerzen, bunte Christbaumkugeln und Wollpullover zu völlig überteuerten Preisen an. Langsam wird es dunkel. Laura genehmigt sich einen Glühwein. Ein seltsames Gefühl, alleine auf dem Weihnachtsmarkt zu sein. Dieser füllt und füllt sich immer mehr mit Familien und Paaren, die sich langsam und meistens mit Essbarem in der einen Hand und die andere in der des Partners, vorwärts schieben. Die Regenwolken lichten sich und es wird im Nu etwas strahlender. Ein paar lockere hellgraue Wolken ziehen in Windeseile vor dem zunehmenden Mond vorbei; der Atem hinterlässt in der Luft die kleinere Variante. „Brr, diese Kälte.“
Der blonde Dicke in seinem kleinen Los-Stand zieht sich die Jacke etwas enger um den Bauch bevor er weiter den Hauptgewinn verkündet. Und da- schon wieder, denn in Märchen gilt bekanntermaßen die Regel der Trilogie – schwirrt Laura etwas am Gesicht vorbei. Doch diesmal lässt es sich auf ihrer Schulter nieder. Ohne den Glühwein im Blut wäre Laura sofort umgekippt.
„Hallo“ sagt das kleine Wesen mit den Locken und der Stupsnase und verbeugt sich
„ Ich bin die Grünkohl-Fee und Du?“
„Hallo, ich bin Laura und muss dringend in Therapie“ ist die verzögert gestammelte Antwort.
„Warum?“ das kleine Ding guckt verwirrt.
„Weil Schlafmangel noch lange kein Grund für solche Wahnvorstellungen ist!“
„ Was ist eine Wahnvorstellung?“ fragt die Fee und macht es sich in der Kragenfalte gemütlich. Laura bekommt schon einen ganz steifen Nacken vom Sich-auf-die-Schulter-gucken: „ Du!“
„Aha“- die Grünkohlfee lacht mit glockenheller Stimme „so hat man mich noch nie genannt.“
„Ist ja toll, ich muss weg. Ich glaub in den Gelben Seiten finde ich schnell jemanden, der mir helfen kann. Mach’s gut“ sagt Laura und will das penetrante Ding mit grober Handbewegung von der Schulter wischen “Halt! halt! halt!“ - da kriegt sie Schiss, die alte Elfe- „Du hast doch noch einen Wunsch frei!“
„Das wäre mir neu“ grummelt die andere und blickt sich ängstlich nach allen Seiten um in der Befürchtung von den anderen Passanten bald schon für verrückt erklärt zu werden.
„Wann isst Du das nächste Mal Grünkohl? Und zwar nicht einfach so und aus Hunger, sondern aus Genuss und zwar mit all Deinen Lieben?“
„Das geht schon mal gar nicht, mein ältester Bruder hasst das Zeug!“
„ Ist egal, der muss nur dabei sein“. Laura überlegt: „Na dann...so um Weihnachten rum. Wieso?“ Die Fee steht auf und streckt wichtigtuerisch die Brust raus, rafft ihren giftgrünen, bauschigen Tüllrock zusammen, räuspert sich und krakeelt “Weil nämlich, wenn man das tut, dann kommt die Weihnachtstimmung auf und zwar durch mich! Hööööchstpersööönlich. Und wenn ich mich drum kümmer, Du wirst schon sehen, dann wird alles wunderschön, friedlich und : lecker!!! Also: Willst Du jetzt, dass ich dann komme oder etwa nicht oder was?“
„ Klar“ sagt Laura, „wenn Du bis dahin aus meinem Kopf verschwindest ist alles ok“ Und dann gibt es einen winzig- kleinen Knall, ein bisschen Rauch, der nach Vanillekipferl riecht und die Fee ist verschwunden. Die Besucher des Weihnachtsmarktes scheinen nichts bemerkt zu haben und so macht Laura sich auf den Weg nach Hause. Verwirrt ruft sie bei ihren Eltern an und fragt den Vater, was er sich denn zu Weihnachten wünscht. Als er nach langer Überlegung meint „ Ein Märchen und ne Fee“ ist für Laura dann wohl alles klar...
 



 
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