H.

5,00 Stern(e) 2 Bewertungen
H.
Tief in den Wäldern, nur über einen völlig unwegsamen und beschwerlichen Weg erreichbar, liegt das jahrhundertealte Haus, dessen Eigentümer H. ist. Es ist ein wehendes Haus, denn die Türen und Fenster sind niemals geschlossen; es ziehen und gleiten unzählige Vorhänge im Wind nach drinnen und draußen; Bücher, die in den Räumen über die Böden wild verteilt liegen, klappen auf und verschicken ihre flatternden Seiten in die kühlen, freundlichen Luftströme, die sie mit sich reißen und erst in den Wäldern, hier und da an einem Baume hängend, verstreuen.. In diesem Haus gibt es weniges Mobiliar; alles ist alt und verströmt eine zeitlose Gleichgültigkeit gegenüber dem Betrachter. An die Wände sind viele Zeichnungen und Texte geheftet, alte und neue, große und kleine, verschiedenste Motive – Gedichte, Aktskizzen, Architektenblätter und einzelne Sinnsprüche. Es gibt Tausende und Abertausende Bücher in dem Haus – in Regalen, Schränken, Kommoden, Truhen und Kisten, auf genagelten Brettern, in Nischen und Ritzen, aufgereiht entlang einer Wand, gestapelt bis zur feuchten Decke, auf dem Boden überall verteilt. Manche sind neu und riechen frisch, andere starren vor Alter, schimmeln und verbreiten einen sachten Verwesungsgeruch – da letztere den wesentlichen Teil der Sammlung stellen, liegt über allen Räumlichkeiten ein süßlich-schwerer Geruchsteppich von Fäulnis.
Ein Mann von unbestimmtem Alter sitzt in einem Sessel vor dem Kamin. Es ist Winter, und es hat lange Tage geschneit. H. kann es sich nicht leisten, alle Räume zu beheizen, darum entfacht er nur das eine Feuer; alle anderen Räume mit den vielen Büchern betritt er während dieser Jahreszeit nicht. Neben dem Kamin stapeln sich bis zur Decke die im Herbst gehackten Holzscheite. Er sitzt unbewegt, den Blick starr auf die Fackeln gerichtet. Über seinen Schoß hat er eine Decke gelegt, weil es ihn immer noch friert. Darauf schlummert behaglich eine namenlose Katze. H.s Züge sind versteinert, die Lippen eng gepresst und blass, als habe er seit langer Zeit nicht mehr gesprochen. Aus den grünlichen Augen spricht Alter. Ein feiner Teppich aus grauen Bartstoppeln liegt auf seiner unteren Gesichtshälfte, grober, fester Staub steckt in den Haaren, eine übermütige Spinne krabbelt auf ihm herum. Dies alles und sein mageres, ausgehungertes Äußeres lassen darauf schließen, dass H. sich seit Stunden und Tagen, seit Wochen vielleicht, nicht erhoben hat.
Doch dem ist nicht – jederzeit, und sei er noch so steinern in seinen Gemächern, bewegt sich H. Der alte Mann schickt seine Seele, die einem Vogel gleicht, auf weite Reisen – durch die Wälder, in die Städte; über Flüsse, Gebirge und Schluchten hinaus durch die Welt; in die Tiefen unerforschter Meeresgründe und in die verspielt weißen Wolkengebirge über dem Horizont. Er ist ein ruheloser Wanderer, obgleich die Augen eines Betrachtenden meinen möchten, dass er starr säße und vielleicht schon gestorben sei. Die Bücher haben H. das Seelen-Reisen gelehrt, sie sind seine zahllosen Lichter ins Innere. Aber die Bücher zerfleddern, und die Zeiten schreiten uneinsichtig voran. Und derweil draußen Kriege toben, Seuchen wüten, Aufstände und Umstürze das Menschendenken verändern, ruht H. suchend vor seinem Feuer.
So sitzt H. seit Jahren. Der Wind, der kühler wird und wieder wärmer, wird alle Seiten aller Bücher forttragen, ehe er das Haus zerbläst und schließlich den alten Mann selbst, der nur noch Staub sein wird und Asche, auf einer weichen Luftzunge durch die tiefen Wälder hinausträgt in die Welt.
 
Hi, Nicholas,

eine atmosphärische, surreal-traumhafte Szene. Schön! Nah und distanziert. Mit leichter Tendenz zur Drama- und Romantisierung.
Ein "völlig unwegsamer" Weg ist natürlich auch "beschwerlich", also könnte man es als tautologisch empfinden.
Manche stimmungsverstärkende Wörter und unterstützende Adjektive tauchen auf: "tief", "jahrhundertealt", "wild verteilt", "in die Tiefen unerforschter Meeresgründe" (habe ich wohl schon öfter gehört), "Kriege toben, Seuchen wüten", "tiefe Wälder".
Aber ich will die Tendenz nicht hier und jetzt kritisieren. Es wären Erwägungen eines letzten Schliffs.
Ein wirklich schöner Text.

Beste Grüße
 
S

Stoffel

Gast
Hallo,

gefällt mir das Bild, man spürt förmlich diese Kühle, sieht ihn dort sitzen...und es riecht..nach Vergänglichkeit..

Dennoch mal paar Gedanken zu manchen Zeilen, nur als Anregung:

"Haus gibt es wenig[strike]es[/strike] Mobiliar..."

"Ein Mann, unbestimmten Alters, sitzt im Sessel vor dem Kamin.."

"Es ist Winter und es hat viele Tage lang geschneit"...

"Ein feiner Teppich aus grauen Bartstoppeln ziert die untere Gesichtshälfte des augehungert wirkenden Mannes und in seinen verstaubten Haaren, krabbelt eine Spinne munter umher. Man könnte bei diesem Anblick meinen, er habe(hätte) sich seit Tagen, Wochen, gar Monaten nicht mehr vom Fleck gerührt, aber dem ist nicht so.."

lG
Stoffel
 

Inu

Mitglied
Hallo Nicolas

Deine Geschichte ist mir erst jetzt aufgefallen, weil sie empfohlen wurde. Ich bin froh, dass ich sie gelesen habe!

Die ganze Atmosphäre hat mich gefangen genommen. Sie ist so voller Wehmut. Wunderschön.

Gruß
Inu
 

Grit1962

Mitglied
Hallo Nicolas,

Gruß von Stephen, dem King. So könnten Horrorgeschichten beginnen. Es ist ein dichtes Bild, schön atmosphärisch gemalt, aber irgendetwas fehlt und macht es für mich nicht rund. Ich mache mir noch Gedanken......

lg
Grit
 



 
Oben Unten