HAMBURGER SCHMUDDELWETTER

heidi dorma

Mitglied
HAMBURGER SCHMUDDELWETTER


Zeitgleich mit dem Urlaubsbeginn von Marina Becker vor knapp einer Woche hatte sich das sommerliche Hoch verabschiedet und nun nieselte es seitdem fast ohne Unterbrechung. Anfangs hatte es ihr nichts ausgemacht. So hatte sie endlich mal Zeit für den längst fälligen Frühjahrsputz, aber jetzt wo alles blitzblank war, wäre sie gerne am Deich im alten Land spazieren gegangen – aber nicht bei diesem Wetter. Marina schloss die Augen und träumte von Sonne, Strand und Meer. Obwohl es ihr finanziell recht gut ging musste sie doch sparen. Sie verkniff sich eine schöne Reise, denn ein neues Auto war ihr wichtiger.

Zum ersten mal seit ihrer Scheidung fühlte sich Marina alleine. Deprimiert ließ sie sich in einen Sessel fallen. Sie war jetzt 47 Jahre alt, seit 1½ Jahren von ihrem Mann Reinhard geschieden und ihre beiden Kinder wohnten schon lange nicht mehr zu Hause. Ihr Sohn Klaus war schon 28 Jahre alt und in 4 Monaten würde er Marina zur Großmutter machen, ihre Tochter Clarissa war 3 Jahre jünger als Klaus. Klaus und Clarissa hatten zum gleichen Zeitpunkt bei Marina am Stadtrand von Hamburg geheiratet. Es war eine lange im Voraus geplante Doppelhochzeit. Reinhard hatte kurzfristig seine Teilnahme abgesagt, obwohl er seiner Tochter versprochen hatte sie zum Altar zu führen. Er musste berufsbedingt für ein paar Tage in die Staaten. Marina kannte seine Unzuverlässigkeit was die Familie betraf. Daran war die Ehe gescheitert. Nicht einmal für die Beerdigung ihrer Eltern hatte er Zeit. Alles und jeder war für Reinhard nach der Geburt seiner Kinder wichtiger für ihn als seine Familie.

Klaus war mit seiner Frau aus beruflichen Gründen vor ein paar Monaten nach Bad Harzburg gezogen, Clarissa hingegen wohnte mit ihrem Mann schon über ein Jahr in Flensburg. Kurz mal eben die Kinder besuchen gehen, das konnte Marina also nicht. Sie schaute aus dem Fenster und überlegte, was sie bei dem Schmuddelwetter anstellen könnte. Mittlerweile war es 11:15 Uhr. Gedankenlos schaltete sie den Fernseher an und zappte durch die Programme. Auf zwei Sendern lief eine Talkshow, auf gleich mehreren anderen Programmen gab es wegen den olympischen Spielen Sport und auf einem weiteren Kanal wurde ein Buch vorgestellt. Das war es! Wie lange war es jetzt her, dass Marina ein Buch gelesen hatte? Sie überlegte – das war im Krankenhaus als Clarissa geboren wurde. Sie wusste, dass neben dem Rathaus eine Bücherei neu eröffnet hatte. Dort wollte sie sich etwas zu lesen holen.

Als Marina ihr Auto erreichte musste sie verärgert feststellen, dass sie den Schlüssel in ihrer Wohnung vergessen hatte. Zum Glück hatte sie eine wetterfeste Jacke an. Sie beschloss zu Fuß in die City zu gehen. Dabei benutzte sie eine Abkürzung quer durch den kleinen Wald. Die Absätze ihrer Pumps bohrten sich in den Schlamm. Durch den Regen war der Boden aufgeweicht und teilweise richtig matschig. Marina musste höllisch aufpassen um nicht hinzufallen, doch die frische Luft tat ihr gut. Obwohl sie schon über 30 Jahre hier wohnte war sie diesen Weg vorher noch nie gegangen. Sonst war sie immer mit dem Auto in den Ort gefahren. Nach gut 10 Minuten erreichte sie eine Weggabelung. Sollte sie nun links oder rechts gehen? Marina entschied sich für links, denn es war niemand zu sehen, den sie fragen konnte. Eine plötzlich aufkommende Windbö zerriss ihren Schirm. Marina schmiss ihn weg. Nach weiteren 5 Minuten sah sie in einiger Entfernung das Dach des Rathauses. Also hatte sie den richtigen Weg gewählt. Sie hatte keine Ahnung, dass dies ein Rundweg war, der links und rechts gleichermaßen zum Ortskern führte. Endlich hatte sie die Bücherei erreicht. Nachdem sie eine Mitgliedskarte ausgefüllt und eine geringe Aufnahmegebühr entrichtet hatte, durfte sie sich Bücher ihrer Wahl ausleihen. Verwirrt stand Marina vor den vielen Regalen. Sie las Buchtitel und Namen von Schriftstellern, von denen sie vorher noch nie etwas gehört hatte. Dann erst sah sie, dass sie in der Abteilung für Forschung und Technik gelandet war. Sie suchte weiter. Erst im übernächsten Gang wurde sie fündig. Einige Autorennamen und auch einige Titel waren ihr vom Hören bekannt. Marina entschied sich für zwei Bücher aus der Rubrik Humor. Das Wetter war schon traurig genug, sie wollte endlich mal wieder lachen.

Als Marina die Bücherei verließ hatte es aufgehört zu regnen. Sie schlenderte die Einkaufs-Passage längs, kaufte ein paar Kleinigkeiten und wunderte sich, dass einige Leute sie recht pikiert ansahen. Sie kontrollierte den Sitz ihrer Kleidung. Dann fiel ihr Blick auf ihre total verdreckten Schuhe. Ohne lange zu überlegen eilte sie zur Sparkasse und hob von ihrem Konto Geld ab. Schnellen Schrittes führte ihr Weg in den nächsten Schuhladen. Marina wusste genau was sie wollte – bequeme flache Laufschuhe und ein zweites Paar in der Art, wie Marina sie jetzt trug. Die alten Pumps, die sie jetzt an ihren Füßen hatte, waren hin. Sie ließ sie gleich in dem Geschäft zurück. Dafür zog sie sich die neu erworbenen Laufschuhe an.

Vor dem Schuhgeschäft stand ein Taxi. Der Fahrer blätterte gelangweilt in einer Illustrierten. Obwohl es wieder zu regnen angefangen hatte entschloss sich Marina trotzdem zu Fuß nach Hause zu gehen. Die Handtasche über die Schulter gehängt und zwei große Plastiktaschen in der Hand ging sie wieder in die gleiche Richtung aus der sie vor 2 Stunden gekommen war. Ein kühler Wind kam auf. Durchgefroren und pitschnass kam Marina zu Hause an. Sie überlegte kurz, was sie tun könnte, damit sich ihr Wohlbehagen wieder hebt. Am liebsten wäre sie jetzt in die Wanne gestiegen und hätte ein Entspannungsbad genommen. Warum eigentlich nicht? Marina ließ Wasser in die Wanne ein, stellte ein paar brennende Kerzen davor, holte eines der beiden Bücher, die sie sich aus der Bücherei ausgeliehen hatte und legte es auf den Rand der Wanne. Jetzt fehlte nur noch leise Musik und ein Glas Rotwein. Endlich konnte sie in die Wanne steigen.

Als Marina nach über 3 Stunden die Wanne verließ, hatte sie das Buch schon halb gelesen. Jetzt knurrte ihr der Magen und der Kühlschrank war leer. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer vom Pizza-Service. Es war besetzt. Viermal versuchte sie noch den Bringdienst zu erreichen, doch sie hatte Pech und bekam keinen Anschluss. Da Marina schon 2 Gläser Wein getrunken hatte konnte und wollte sie jetzt nicht mit dem Auto in den Ortskern zu ihrem Stamm-Italiener fahren. Genervt zog sie sich an und ging zu Fuß im Nieselregen in ein griechisches Lokal, welches sich gleich bei ihr in der Nähe befand. Marina kannte das Lokal nur vom Sehen. Als sie durch die Eingangstür ging, schlug ihr eine wohlige Wärme entgegen. Obwohl es mitten in der Woche war, war das Lokal sehr gut besucht. Nur noch ein einziger allerdings großer Tisch für 10 Personen war frei. Daran setzte sich Marina. Am Nebentisch unterhielten sich einige Hobbygärtner. Sie schimpften auf das Wetter, denn sie konnten weder den Rasen mähen, noch das Unkraut jäten. Die Spaziergänge mit den Hunden machten auch keinen Spaß. Ein Kellner brachte die Speisekarte. Zur gleichen Zeit betrat eine Gruppe von 7 Personen das Lokal. Ohne Umschweife setzten sie sich bei Marina mit an den Tisch. Sie redeten von Gott und der Welt. Schon nach wenigen Minuten zogen sie Marina in die Unterhaltung mit ein. Sie erfuhr, dass diese Leute einem neu gegründeten Verein angehörten, der HEISS hieß – was bedeutete: Hamburger Erkunden Ihre Schöne Stadt. Dieser Verein war für ortsansässige und Leute aus dem Umland gedacht, die mehr über ihre Stadt wissen wollten und von alleine nicht den Antrieb hatten diesbezüglich etwas zu unternehmen.

Marina musste sich eingestehen, dass auch sie von Hamburg so gut wie nichts kannte. Im Alter von 15 Jahren war sie von Cuxhaven mit ihren Eltern nach Neu Wulmstorf, an den Stadtrand von Hamburg gezogen. Den einzigen Weg den sie kannte war der Weg zur Schule und den zur Disco, wo sie am Wochenende gelegentlich hinging. Mit 17 Jahren lernte sie dort Reinhard, ihren späteren Ehemann kennen. Er wohnte im gleichen Ort wie sie. Sein Vater war Zahnarzt und Marina machte bei ihm eine Ausbildung als Zahnarzthelferin. Kurz vor ihrer Abschluss-Prüfung wurde sie schwanger und ein halbes Jahr später heiratete sie. Ausgehen und reisen waren aus finanziellen Gründen nicht möglich, denn sie hatten sich eine größere Eigentumswohnung gekauft. Marina wurde ungewollt wieder schwanger. Sie hätte gerne halbtags in ihrem Beruf gearbeitet, aber Reinhard wollte das nicht. Er war der Meinung, dass er seine Familie alleine ernähren müsste. Er arbeitete von früh bis manchmal spät in die Nacht und auch am Wochenende ging er oft ins Büro. Sein Einsatz wurde belohnt und er stieg auf der Karriere-Leiter höher und höher. Das hatte zur Folge, dass er für seine Familie immer weniger Zeit hatte. Urlaub gönnte er sich höchstens mal eine Woche. Selbst dann nahm er sich noch Arbeit mit nach Hause. Für die Firma stand er immer auf Abruf bereit. Bei den Einschulungen der Kinder war er nicht anwesend wegen irgend welchen Besprechungen, als sie konfirmiert wurden war er jedes mal auf Dienstreise. Geburtstage und die Hochzeitstage vergaß er regelmäßig. Reinhard verdiente überdurchschnittlich gut. Das Geld investierte er in teure Autos – für sich selbst. Marina musste sich mit einem kleinen Gebrauchtwagen für die Fahrten zum Einkaufen im Ort zufrieden geben. Er trug Maßanzüge, schließlich musste er die Firma repräsentieren – seine Frau bekam gelegentlich mal ein Kleid von der Stange. Den Kindern gegenüber war er großzügig. Das Taschengeld, das sie bekamen, lag weit über dem Durchschnitt. Natürlich musste jedes Jahr ein neuer Computer gekauft werden. Die schönen Möbel aus dem Esszimmer wurden gegen Marinas Willen verschenkt und der Raum als Büro umfunktioniert. Sie selbst wollte wegen den Kindern Streit vermeiden und fügte sich ihrem Schicksal. Reinhard behandelte seine Frau wie eine Leibeigene. Nachdem die Kinder ihre eigenen Wohnungen bezogen hatten, nahm Marina, ohne ihren Mann zu fragen, eine Ganztagsstellung bei einem Zahnarzt an, der seine Praxis im Ortskern neu eröffnet hatte. Daraufhin machte ihr Reinhard ihr eine gewaltige Szene. Im Streit fiel von Marinas Seite schließlich das Wort Scheidung. Reinhard war aufgestanden und hatte wortlos die Wohnung verlassen. Am nächsten Tag kam er zurück um seinen Computer, seine Kleidung und seine Hygienesachen abzuholen. Er hatte sich mit einem Anwalt kurzgeschlossen. Marina sollte die mittlerweile schuldenfreie Wohnung mit dem gesamten Inventar behalten. Auch für die monatliche Umlage wollte er aufkommen und ihr freiwillig eine bestimmte Summe Unterhalt zahlen. Außerdem würde er in die von ihr gewünschte Scheidung einwilligen. Am Tag ihrer Silberhochzeit wurden sie geschieden. Obwohl Marina zu diesem Zeitpunkt gerade Urlaub hatte wusste sie nicht, was sie zuerst machen sollte. Sie hatte keine Zeit für irgendwelche dunkle Gedanken, denn die Hochzeit ihrer Kinder stand unmittelbar bevor. Die einzige Freundin die Marina hatte, hatte Reinhard schon vor Jahren aus dem Haus geekelt. Nachdem Marina wieder berufstätig war, hatte sie nur an den Wochenenden frei. Samstags wurde eingekauft, geputzt und abends ferngesehen. Sonntags schlief sie lange und bei schönem Wetter ging sie gerne am Deich spazieren. In weniger als einer Minute zog Marinas ganzes Leben in Gedanken an ihr vorbei.

Sie erschrak, als der Kellner sich nach ihren Wünschen erkundigte. Ein kurzer Blick in die Speisekarte genügte. Marina entschied sich für die Grillplatte. Dazu bestellte sie sich ein Mineralwasser. Die Runde an ihrem Tisch war fröhlich und ausgelassen. Die Dame, die neben Marina saß, zupfte sie am Ärmel. Wortgewandt versuchte sie Marina für HEISS zu gewinnen. Marina zögerte, sie wollte nur etwas essen und es sich dann zu Hause gemütlich machen. Der Mann, der ihr gegenüber saß, unterbreitete ihr ein Angebot. Sie sollte doch ganz einfach an dem heutigen Vereinsabend unverbindlich teilnehmen. Nach dem Essen wollte man zusammen nach Hamburg zum Hauptbahnhof fahren. Dort würde man sich mit den Gruppen aus den anderen Stadtteilen treffen. Gemeinsam wollten sie dann die abends beleuchtete Speicherstadt besichtigen und danach vielleicht noch in einer Privatbrauerei, die ganz in der Nähe lag, ein Bier trinken gehen. Von der Speicherstadt hatte Marina schon gehört. Sie wurde jetzt doch neugierig und willigte schließlich ein. Zusammen mit den anderen Leuten verließ sie das Lokal. Gemeinsam gingen sie zu der nahe gelegen Bushaltestelle. Es nieselte noch immer. Marina hatte keinen Schirm dabei, aber eine alleinstehende Dame, die etwa im gleichen Alter wie Marina selbst war, nahm sie mit unter ihren Schirm. Einige Minuten später kam der Bus. Der Herr, der Marina eingeladen hatte, bezahlte das Fahrgeld. Marina wollte ihren Anteil dazugeben, aber der gute Mann schüttelte nur den Kopf. Etwa 20 Minuten später waren sie an der S-Bahnstation Hamburg-Neugraben, die in die Innenstadt nach Hamburg zum Hauptbahnhof fuhr. Als sie den Bahnsteig betraten fuhr die S-Bahn gerade ein. Marina überlegte, wann sie zuletzt mit Bus und Bahn gefahren war – 12, 15 Jahre war das bestimmt schon her. Sie wollte die Fahrt genießen, doch der Herr, der sie eingeladen hatte, drückte ihr eine Broschüre von HEISS in die Hand. Es war ein Terminplaner. Die Teilnahme an den Unternehmungen war jedem Mitglied freigestellt. Neben allen möglichen bekannten und auch weniger bekannten Sehenswürdigkeiten, die dieser Verein besuchen wollte, standen unter anderem auch noch Themen wie z.B. die Geschichte Hamburgs aus der Gründerzeit bis heute,Hafenrundfahrt,Fleetenrundfahrt bei Nacht, Politik, Firmenbesichtigungen, Besuche in Zoos, Dia-Vorträge, Sportveranstaltungen, Kietz-Bummel, Travestieshow, Opern/Operettenbesuche, Theaterbesuche, Wanderungen, Kulturelles, Wissenswertes und noch einige andere Themen mit in dem Büchlein. Bei Wissenswertes stutzte Marina und fragte ihren Sitznachbarn, was damit gemeint sei. Er erklärte ihr, dass zum Beispiel Hamburg mehr Brücken als Venedig hat und der Stadtteil, der am weitesten entfernt vom Hamburger Rathaus liegt, ist die Insel Neuwerk bei Cuxhaven. Letzteres wusste Marina. Schon waren sie am Hauptbahnhof.

Zusammen fuhr man die Rolltreppe zu den Bahnsteigen hinauf. Etwa 60 Personen standen schon wartend da, aber noch waren nicht alle vollzählig versammelt. Marina gehörte zur Gruppe Süd. Dann gab es noch die Gruppen Nord, West, Mitte und Ost. Auf die Gruppe Ost musste der Rest noch warten. Nach etwa 10 Minuten stiegen etwa 10 Personen, die zu dieser Gruppe gehörten, aus dem gerade angekommenen Zug. Marina erfuhr, dass der Verein auf den Tag genau vor einem Monat gegründet worden war und bereits 88 Mitglieder hatte. Eigentlich treffe man sich nur an den Wochenenden, aber zur Feier des Tages auch heute. Alle Mitglieder waren erschienen und gemeinsam wechselte man auf einen anderen Bahnsteig über. Die Fahrt ging bis zu den Landungsbrücken. Als sie den Bahnhof dort verließen hatte der Regen fast aufgehört. Marina bot sich ein herrlicher Anblick. Es war bereits dunkel und die Schiffe waren wunderschön beleuchtet. Man hatte einen Stadtführer engagiert, der den Vereinsmitgliedern etwa eine halbe Stunde lang jede menge Wissenswertes über den Hafen vermittelte. Danach verabschiedete er sich wieder. Anschließend setzte sich die Gruppe zu Fuß in Richtung Speicherstadt in Bewegung. Nach etwa einer halben Stunde hatten sie ihr Ziel erreicht. Marina hatte zwar im Fernsehen mal einen Bericht von diesem Ort gesehen, aber in Natura war alles noch viel schöner. Die Wege führten kreuz und quer durch den Freihafen. Einer der Vereinsmitglieder war - bis vor seiner Pensionierung vor einem halben Jahr - hiesiger Zollinspektor. Er erklärte der Gruppe was für Ware in welchem Zollschuppen lagerte. Der Regen wurde wieder stärker. Hinter Marina raschelte es recht merkwürdig. Sie drehte sich um und erschrak. Etwa 2 Meter von ihr entfernt lag zusammengerollt unter einer Decke ein Mensch auf der Straße. Schutz vor dem Regen bot ihm nur ein Brückenvorsprung. Fast alle hatten den Penner gesehen. Einige gingen angewidert weiter, andere zückten aus ihren Taschen Portemonnaies und gaben dem fierenden Mann ein paar Münzen. Marina war entsetzt. So hautnah hatte sie das Elend noch nie erlebt. Der Mann tat ihr leid. Auch sie wollte ihm etwas zukommen lassen. Da sie keine Münzen hatte, gab sie ihm einen kleinen Geldschein. Der Penner bedankte sich überschwänglich. Die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Ihr Gang führte über eine Brücke. Musik erklang. Eine voll besetzte Barkasse fuhr unter ihnen durch. Eine Fleetenfahrt bei Nacht konnte sich auch Marina gut vorstellen – aber alleine? Es war schon recht spät. Einige Leute verabschiedeten sich und machten sich auf den Heimweg. Sie waren berufstätig und mussten am nächsten Tag früh aus den Federn. Die Ortsgruppe Süd wollte geschlossen in die Brauerei gehen. Obwohl es regnete waren alle gut gelaunt. Insgesamt waren sie jetzt immerhin noch etwa 50 Personen.

Durch die Fensterscheibe sah man schon von der Straße die großen blanken Kupferkessel. Die Gaststätte war klein und menschenleer. Marina war enttäuscht, etwas größer hatte sie sich das Lokal schon vorgestellt. Einige Leute gingen zielstrebig auf einen kleinen Flur zu. Dahinter verbargen sich mehrere größere Säle, die etwa 1.000 Personen Platz boten. Ein hauseigener Musiker spielte auf einem Accordeon mexikanische Musik. In diesem Saal war kein einziger Tisch mehr frei. In einem kleineren Nebenraum wurden in Windeseile einige Tische zusammengestellt, sodass hier alle gemeinsam sitzen konnten. Der Vereinsvorsitzende orderte auf Kosten des Vereins und zur Feier des Tages ein großes Weissbier für alle. Marina kam sich wie eine Nassauerin vor. Spontan erkundigte sie sich nach den Aufnahmebedingungen zwecks Mitgliedschaft bei HEISS. Der Präsident persönlich überreichte ihr das Formular. Einige Exemplare hatte er immer dabei. Marina las die Bedingungen durch. Name, Adresse, Telefonnummer, Geburtsdatum und jeden Monat 12,- Euro Mitgliedsbeitrag waren zu entrichten. Dafür wurden Fahrkosten erstattet und freier oder ermäßigter Eintritt bei den Veranstaltungen finanziert. Marina füllte den Bogen aus und unterschrieb ihn. Danach wurde sie ganz offiziell als neues Mitglied vorgestellt. Für kurze Zeit stand sie im Mittelpunkt der Runde. Einerseits war es ihr peinlich, andererseits genoss sie die nur ihr gewidmete Aufmerksamkeit in vollen Zügen. Die Zeit verging wie im Flug. Es war schon fast Mitternacht, als sich die Gruppe trennte. Es nieselte noch immer. Sprühregen schlug Marina ins Gesicht. Es störte sie nicht - im Gegenteil. Sie genoss die kühlen Tropfen auf ihrer Haut. Die Luft war sauber und es roch nach Salzwasser.

Der Gruppenleiter drängte, denn die letzte S-Bahn wartete nicht auf sie. Die Zugverbindung vom Hamburger Hauptbahnhof nach Neugraben war spätabends alles andere als gut. Am Wochenende war es noch miserabler und die Buslinie zum Stadtrand, wo Marina wohnte, fuhr gar nicht. Da die meisten Veranstaltungen aber nachmittags stattfinden würden, wäre das nicht weiter tragisch. Das alles erfuhr Marina in der S-Bahn von einem ebenfalls aus Neu Wulmstorf stammenden Vereinsmitglied, mit dem sie zum Hamburger Hauptbahnhof fuhr. Da sein Auto dort am Bahnhof stand, bot er Marina an, sie nach Hause zu fahren. Sie nahm das Angebot dankend an und setzte sich nach vorne auf den Beifahrersitz. Auf der Rückbank fuhr noch ein weiteres Ehepaar mit.

Die Fahrt mit dem Auto führte quer durch den Freihafen über die Köhlbrandbrücke. Marina war beeindruckt. Die Aussicht von hier oben war einfach nur wunderschön. Tausende von Lichtern waren links, rechts, vor und hinter ihnen zu sehen – Schiffe, Fabriken, der Container-Terminal, hohe Gebäude der Innenstadt... Endlich war sie wieder zu Hause. Der junge Mann, der Marina nach Hause gefahren hatte, war nicht viel älter als ihr eigener Sohn. HEISS gehörten Mitglieder von jung bis alt, Paare und Singles an. Zwei Tage später am Samstag stand die Besichtigung des Fernsehturms auf dem Plan. Marina freute sich schon darauf. Mit einem Glas Rotwein und leiser Musik wollte sie diesen Tag ausklingen lassen. Sie schaltete das Radio ein. Es lief gerade der Wetterbericht: „Auch in den nächsten Tagen ist nicht mit Wetterbesserung zu rechnen.“ Sie blickte aus dem Fenster. Im Lichtschein der Straßenlaterne sah sie ein Liebespaar, welches sich unter einem Regenschirm küsste.

Marina schloss die Augen: Hamburger Schmuddelwetter – es kann so schön sein.
 

eve collie

Mitglied
Hallo Heidi,
als Neuling bei der Leselupe habe ich es gewagt, eine Bewertung abzugeben. Ich finde Deine Geschichte wirklich super, weil sie gut recherchiert ist hinsichtlich der Örtlichkeiten und Lust auf Weiterlesen macht.
Viele Grüße von eve
 



 
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