Haikus in der Psychiatrie

Willibald

Mitglied
Oldschool-Wumms. Haikus im Bubble-Gum.

Übrigens:
Wie wär es mal mit einem formschönen Haiku?
Trainee

Es war ein Haiku von Konrad, aufgeschrieben,
als er in Gedanken bei jenem Mädchen weilte,
das so oft im Hörsaal bei den Vorträgen
von Anselm Sprühzunge aufgetaucht war,
immer allein, feingliedrig und jene Sensibilität versprechend,
welche sich Menschen mit randloser Brille oftmals wünschen.
Konrad von Miltenberg

Im Höhlenpurpur tafeln sieben adipöse Brüder;
ich faste meist, bin adoptiert und lebe mehr auf Probe.
Für mich ist selten eingedeckt. Zuweilen reicht es für
ein Give-away: „Auf, auf zur Langzeitkur nach Riedstadt!“
Trainee: Bubblegum


https://www.leselupe.de/lw/titel-Bubblegum-135869.htm
https://up.picr.de/34890030ih.jpg

Lesung

"Liebe Kollegen und last not least, teure Kolleginnen", sagte leitender Oberarzt Dr. Severin Müller, "wir sind heute zu unserer alle vierzehn Tage stattfindenden Supervisions-Sitzung zusammengekommen. Dreimal, heute zum zweiten Mal, arbeiten wir mit creative writing, also mit dem, was uns an Bildern, Szenen oder Geschichten zum Thema Liebe eingefallen ist.. Ein konventionelles Thema gewiss, ein relevantes Thema gewiss. Unseren Patienten vertraut, uns Ärzten nicht unbekannt. Dazu wollen wir poetische, emotionale, bildersatte Texte erstellen, die wollen wir vortragen und sachkundig kommentieren oder besser - präzise ausleuchten. Das bedeutet, die freischwebende Aufmerksamkeit von uns weg auf den fremden Text zu justieren und das zu fokussieren, was der Text an Bildern und Assoziationen liefert. Unser Logikvermögen ist auch gefragt, unsere Affekte sind mehr gefragt, unsere Deutungskunst nicht weniger. Gerne können wir auch bei vorgetragenen Texten spontan eingleiten und analytisch, aber besser doch im jeweils angeschlagenen Sprachton auf das Gehörte reagieren.“

“Sie hatten doch in der letzten Stunde einen Text mit dem Titel ´GmbH´ angekündigt?“, meldete sich Oberarzt Sven Elbenfürst aus der Runde, während sich der heute ihm gegenübersitzende Stationsarzt Manuel Sandmann eifrig Notizen zu machen schien. Oberarzt Severin Müller schaute fragend im Kreis umher und sagte, als ihm alles freundlich zunickte: „Dann darf ich das als gemeinsames Votum verstehen, dass ich hier beginnen soll?“ Als keiner verneinte, öffnete Oberarzt Severin die vor ihm liegende Mappe und las mit zunehmend sicher werdender Stimme die folgenden Sätze vor:

GmbH
Als Angioletta, braunhaarig, dunkeläugig, klug, neugierig, eines Abends den Hörsaal der Volkshochschule im dritten Stock eines stattlichen Baus am Rande der Stadt betrat ....


Sandmann räusperte sich: „Das verspricht poetisch zu werden und erinnert stark an das"Kätzchen" in unseres Chefs Poem vom Katzenfürsten, das er in der letzten Stunde vorgetragen hat: Schlank und biegsam, wunderbar, braune Augen, schwarz das Haar. Einfach ein Dreh, die beiden Adjektive anders zu positionieren ... Ich habe mir die Zeilen damals notiert, als Herr Anderson sie vortrug."

"Wie scharfsinnig und genau, ihr Hinweis auf die frappante Intertextualität, Kollege Sandmann“, lächelte Stationsärztin Hedwig Hund und blitzte ihn mit ihren dunkelschwarzen Augen an. Stationsärztin Gerda Wolf vermerkte, dass man zwar noch nicht zum alten Eisen gehöre, aber biegsam, das sei man einmal gewesen und nun eben nicht mehr. Klug sei man gewiss, da man sich ja trotz der Arbeitsbelastung imstande sehe, sich ständig auf Veranstaltungen fortzubilden, auch auf Supervisionsveranstaltungen wie dieser "kreativen" hier. Andererseits zweifle sie dann doch wieder an ihrer Klugheit, wenn sie bedenke, wie schlecht man als Stationsärztin bezahlt werde und was man alles an Leistung bringen müsse. Zu Beginn des Studiums habe man zwar all das gewusst, aber man sei so dumm gewesen, das alles auf sich zu nehmen. Auch habe sie hier auf der Station schon einige graue Haare bekommen. Aber Kollege Severin möge sich nicht unterbrechen lassen in seinem narrativen Duktus, es sei anregend, ihm zuzuhören ...

Also nahm Severin Müller die Lesung wieder auf:

GmbH
Als Angioletta, braunhaarig, dunkeläugig, klug, neugierig, eines Abends den Hörsaal der Volkshochschule in einem stattlichen Bau am Rande der Stadt betrat, wo sie regelmäßig Anselm Sprühzunge hörte, der die Frage, warum Frauen zu sehr lieben, mit Robin Norwood, Alfred Adler und Anselm Sprühzunge zu beantworten versuchte, befremdete sie der Raum im dritten Stock doch sehr ....


Kreative Einschübe

Sven Elbenfürst meldete sich: „Das, lieber Severin, diese ersten Zeilen da, die männliche Figur, das erinnert mich wirklich sehr an unseren verehrten Chef, Professor Mark Anderson, so wie Sie in wenigen Pinselstrichen diesen Anselm Sprühzunge und sein Auftreten zeichnen. Kommt er heute wieder etwas später und trägt er dann wieder eines seiner Minutenwerke aus seinen Musenminuten frei vom Kritzelblock vor?“

„Nein, er hat in einer Woche seinen sechzigsten Geburtstag. Kollege Sandmann hat ein Lied für diesen Anlass geschrieben, das wir nachher anhören und proben wollen. Natürlich ist da das Beisein des Chefs nicht dienlich oder tunlich. Wir haben ihn gebeten fern zu bleiben. Ich darf fortfahren, liebe Kollegen?“

„Möglichst weit, du Vater aller talentfreien Schreiberlinge“, murmelte Sven Elbenfürst.

… befremdete sie der Raum im dritten Stock doch sehr, in dem die Anhänger des Dozenten und Psychotherapeuten sich zu sammeln pflegten. Dort, wo sonst eifrig die vielen Zuhörerinnen den Kopf über Robin Norwoods Buch beugten, um dann umso intensiver den Augenkontakt mit dem Dozenten aufzunehmen, der mit jovialer Grandezza seine Worte zelebrierte und den wenigen männlichen Zuhörern insofern den Rücken steifte, als sie sich in seiner Nähe der Vorstellung hingaben, einmal so zu wirken wie er, dort also gähnten die leeren Tische ....

Sven Elbenfürst gähnte und gähnte knackend noch einmal und sagte, als ihn Severin etwas befremdet anschaute: „Ich gähne nicht eigentlich, auch wenn es vielleicht so aussieht. Ihre Sätze machen mich atemlos, ich bin jeweils so gespannt auf das Ende, dass ich fast vergesse, was am Anfang zu hören war. Auch sind sie ein wenig lang, die Sätze... Aber bitte, fahren Sie fort, Herr Kollege ... Wenn man sich konzentriert, hat man jede Chance ...“

Angioletta überprüfte die Situation: Heute war doch Freitag, Ferien waren keine und sie träumte auch nicht, wie ihr ein schnelles, herzhaftes Zwicken in den Unterarm verriet.
Sei es aus einer gewissen Erschöpfung heraus, sei es aus bleiernem Unvermögen, die unwirkliche Situation zu klären, sank Angioletta in einen Sessel, von dem aus sie den Blick auf die gegenüberliegende Wand richtete, wo Künstler des Volkshochschulkreises in der Art eines chinesischen Tuschmeisters auf ein großes Plakat eine Schlange gemalt hatten, welche sich durch Gras schlängelte und in einem ausgedörrten Hochmoor im Hintergrund des Bildes wohl ihre Heimat hatte, da dort eine hochaufgerichtete Schlange auf sie wartete.


Drei Haikus

„Ich hätte da“, meldete sich Manuel Sandmann, der den Kopf von seinem Schreibblock erhoben hatte, „ein Sekundenwerk, einen Haiku, zu dem mich der Text von Herrn Severin beim Zuhören angeregt hat.“
Und dann sprach er, bevor jemand etwas einwenden konnte:

Die Schlange schlich fort.
Die Augen, die mich ansahn,
Sie blieben im Gras.


Sven Elbenfürst schloss die Augen, wiegte ein wenig den Oberkörper, hob dann freudig die Hand und sagte in die entstandene Stille hinein melodisch summend:

Erschallte einmal
Und ward nicht mehr vernommen.
Der Schrei des Hirsches.


Sven Elbenfürst öffnete die Augen, blickte an Manuel Sandmann vorbei zu Severin, dem Oberarzt; Severin nahm dies wahr und fuhr, da Manuel Sandmann noch nichts erwidern wollte, in seiner Geschichte fort:

Angioletta schloss die Augen und vor ihrem inneren Auge erschien das Hochmoor, die Schlange im Vordergrund und die Schlange weit hinten. Und es überkam sie Wehmut, da sie allein war.
Ein Geräusch von Sandalen rief sie in die Außenwelt zurück. Vor dem Bild stand Konrad, die Linke etwas verkrampft, das blonde Haar glatt zurückgekämmt, die randlose Brille verlieh ihm eine Art von intellektuellem Glamour: Konrad, gezaust von Misserfolgen in Freundschaft, Freizeit und Ehe. Er nestelte an seiner Tasche, die einen Schreibblock im DIN-A-4-Format enthielt, holte den Block und ein Federmäppchen hervor und aus dem Federmäppchen einen Radiergummi von blauer Farbe, den er eine Weile betrachtete und unschlüssig in der Hand hielt. Dann packte er Norwoods „Wenn Frauen zu sehr lieben“ in seine Tasche, schritt auf Angioletta zu und zeigte ihr, was er auf dem Schreibblock hatte. Es war ein Haiku, von Konrad geschrieben, als er in Gedanken bei jenem Mädchen weilte, das so oft im Hörsaal bei den Vorträgen von Anselm Sprühzunge aufgetaucht war, immer allein, feingliedrig und jene Sensibilität versprechend, welche sich Menschen mit randloser Brille oftmals wünschen.

Unter Blüten Blüten, Blüten
Blickt ganz plötzlich
Mein schlankes Glück auf.


Angioletta blickte auf, sie erkannte an dem Text,der anrührend war, sogleich, dass sie beide sich in einem Grenzraum innerhalb und jenseits und oberhalb der Alltagswelt befanden. Ein poetischer Raum, mit dem Haiku sich entfaltend. So nahm sie den Haiku mit der Linken, reichte ihm die Rechte und ....

Das kreative Experiment

Auch der Vortragende blickte von seinem Text auf: „In kreativen Phasen von Balintgruppen ist es üblich, dass sich der Vortragende für einen Moment zurücknimmt und das zu Wort kommen lässt, was seine Geschichte im Bewusstsein der Hörer hervorgerufen hat … bitte setzen Sie, liebe Kollegen in drei bis vier Sätzen die Geschichte fort. Ja, Kollegin Hedwig?"

"Sie reichte ihm die Rechte und holte ihn mit der Linken so nahe an sich heran,
dass sich seine randlose Brille mit ihrer beider Atem beschlug ..."

Hedwig Hund schloss nach diesen Worten für eine Sekunde lang die Augen, als sinne sie einer vergangenen Szene nach.

„Hei! Das, was Hedwig gesagt hat, bringt Schwung in die Story, drei kurze Sätze hätte ich da zur Fortsetzung“, rief Sven Elbenfürst,
"Und sie wandten dem Hochmoor den Rücken zu.
Sie stiegen aus dem dritten Stock hinab in das singende Tal der Stadt.
Dort erwartete sie das Glück, jenseits von Anselm Sprühzunge...“


"Und dort", Severin war glücklich - ebullient dieses Haiku-Narrativ -, "und dort gründeten sie eine GmbH", er machte eine Pause, "eine Gesellschaft mit unbeschränkter Hoffnung."

„Sollte dieser poetisierende Konrad“, murmelte Sven Elbenfürst, „nur das Mindeste mit Kollegen Manuel gemeinsam haben, dann heißt der Schluss bereits anders: Dort gründeten sie eine GmbH, eine Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung." Manuel, der das hören konnte, nickte beifällig.

"Aber jetzt", meldete sich Stationsärztin Gerda Wolf zu Wort, "sollten wir in den angrenzenden Raum gehen, wo das Klavier steht und uns anhören, welches Geburtstagslied Kollege Sandmann getextet und komponiert hat. Ich für meinen Teil, ich liebe es zu singen. Und wir wollten doch das Cheflied proben.“ Als trotz dieser Worte keiner irgendwelche Anstalten machte, den Nebenraum aufzusuchen, blickte ich fragend in die Runde, sie blieb stumm und war gleichsam eingefroren.

Nun klopfte es an der Tür. Nanu: Oberarzt Severin Müller. Er betrat mein Zimmer, wandte sich mir und meinem Notizbuch zu ("Darf man einen Blick drauf werfen?"), musterte kurz das Geschriebene und legte mir dann sachte die Hand auf die Schulter: „Na, die Langzeitkur in Riedstadt bekommt ihm sehr gut, unserem Meisterpoeten Konrad aus Miltenberg in Unterfranken.“ Dann blickte er nochmal in den Text und sagte nach einiger Zeit: "Bisschen viele Figuren, die da auftreten. Vielleicht mehr an die Leser und deren Kapazitäten denken?" Ich nahm meine randlose Brille ab, legte mir den Höhlenpurpur an und verschränkte in reziproker Form die Arme vor meiner Brust und sagte nichts und arbeitete Im Geiste an dem Geburtstagslied für Professor Mark Anderson weiter. Denn die Probe sollte ja nicht ausfallen.


(Für Trainee)

willibald wamser
 



 
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